Operation am wachsenden Werk

Das von Norbert Otto Eke herausgegebene Herta Müller-Handbuch verfolgt ein doppeltes Ziel

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit der Nobelpreisverleihung im Jahr 2009 ist der Name Herta Müller zu einem Label geworden, das unter anderem für Zeitzeugenschaft, Sprachbildlichkeit und Autofiktionalität steht. Die Tatsache, dass nun einer lebenden Autorin ein Handbuch gewidmet wurde, mag auf den ersten Blick irritieren. Begreift man die Autorin aber „als eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, verfolgt diese Operation an einem wachsenden Werk das doppelte Ziel, einen Überblick über Herta Müllers Werk und einen Einblick in zentrale Fragenstellungen der Gegenwartsliteraturforschung zu gewähren. Dabei zeigt sich am Beispiel von Müllers Œuvre, auf welche Weise die Forschung zur neuesten Literatur durch die Unabgeschlossenheit und Kontextoffenheit eines Werkes herausgefordert wird.

Der Herausgeber des Handbuches, Norbert Otto Eke, hat bereits im Jahr 1991 einen Sammelband zu Herta Müllers damals noch überschaubarem Werk herausgegeben und damit den Grundstein zu dessen Erforschung gelegt. Weitere wegweisende Studien folgten, auf Anfrage des J. B. Metzler-Verlags dann geradezu in logischer Folge das Handbuch. Der im Vorwort benannte Adressatenkreis – fortgeschrittene Studierende und Spezialistinnen und Spezialisten, das heißt Leserinnen und Leser mit Vorwissen – unterstreicht den Anspruch des Handbuches, als Kompendium eigenständiger Beiträge zur Müller-Forschung wahrgenommen zu werden. Dass auch Forscherinnen und Forscher mit benachbarten Arbeitsschwerpunkten Beiträge zum Handbuch beigesteuert haben, trägt zur Perspektivenvielfalt der Veröffentlichung bei und unterstreicht wiederum den Fokus auf Herta Müller als exemplarische Gegenwartsautorin.

Das Handbuch ist in sieben Teile gegliedert, wovon die „Werke“ betitelte Abteilung erwartungsgemäß die meisten Seiten umfasst. Es werden nicht nur der Biografie, den Kontexten und der Rezeption, sondern auch den „Ästhetische Ordnungen“ und „Denkfiguren – Konzeptionen – Begriffe“ eigene Abteilungen gewidmet. Der Seitenumfang der beiden systematischen Abteilungen reicht beinahe an denjenigen der Abteilung „Werke“ heran. Diese Gewichtung verweist indirekt auf das doppelte Anliegen des Handbuches: Anhand von Müllers Werk werden für die Gegenwartsliteraturforschung typische Fragestellungen diskutiert. Reflexionen beispielsweise wie diejenigen zur Denkfigur des Traumas, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist, können für die Analyse einer Vielzahl von nach 1945 erschienenen literarischen Texten beziehungsweise Kunstwerken fruchtbar gemacht werden.

Die vom Herausgeber verfasste einführende „Biographische Skizze“ führt im Kleinen noch einmal vor, was das Handbuch im Großen zu sein beansprucht: eine Annäherung an Müllers Werk, die sich der Analyse unterschiedlicher Formate widmet und die Biografie der Autorin, den historischen Kontext ihres Schreibens und die Arbeiten selbst nicht isoliert voneinander untersucht. Unabhängig vom jeweiligen Format ihrer Texte konstruiere Müller, so Eke, „Formen, die Welt(en) erzeugen“, was Müller und nach ihr die Forschungsliteratur mit dem in Frankreich geprägten Begriff der Autofiktion zu fassen versucht haben. Konsequenterweise beginnt Ekes Skizze denn auch nicht mit Angaben zu Müllers Geburt, sondern mit Reflexionen über die wechselseitige Bedingtheit von Leben und Schreiben.

Direkte und indirekte Querverweise tragen dazu bei, dass einzelne Denkfiguren und Begriffe über mehrere Beiträge hinweg und in unterschiedlichen Kontexten in den Blick genommen werden können. Der etwas kurz geratene Beitrag zu den Collagen(bänden) Müllers wird beispielsweise durch Ralph Köhnens Beitrag „Visualität und Textualität“ sowie durch Iulia-Karin Patruts Analysen der rumänischen Collagen angereichert. Der Beitrag zur Geschichte Rumäniens, der auch die sogenannten Rumäniendeutschen behandelt, enthält eine Zusammenstellung historischer Eckdaten und Zusammenhänge, die für das Verständnis der Rezeption von Müllers Werken in Rumänien von Interesse ist. Der Thematik der Autofiktion(alität) sind sowohl ein Kapitel in der Abteilung „Ästhetische Ordnungen“ des Bandes wie auch diverse kürzere Unterkapitel gewidmet. Diese beitragsübergreifende Thematisierung einzelner Aspekte eröffnet neue Perspektiven und legt Verbindungen der Themen und Konzepte untereinander offen.

Ein Mehrwert aufgrund von Verknüpfungen kann auch im Hinblick auf die Frage nach den Textsorten festgestellt werden. Indem die Beiträge zu den Poetikvorlesungen, zu den Essays und zu den Reden und Danksagungen betonen, dass die Grenzen zwischen den Textsorten fließend seien und deshalb die „Essays, Reden und Poetikvorlesungen“, so die Überschrift über den drei Beiträgen, mit denselben Methoden analysiert werden können wie die anderen Texte Müllers, wird die gängige Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Schreiben als unzulänglich für die Analyse dieser Form von Gegenwartsliteratur ausgewiesen. Dass sich Müllers Texte und Text-Bild-Collagen im Bereich des Dazwischen (der Textsorten et cetera) ansiedeln, spiegelt sich auch auf der Ebene der Paratexte des Handbuches wider, da zwei Kapitel das „Zwischen“ im Titel tragen („Zwischen den Sprachen“ und „Zwischen den Literaturen“).

Ein wertvolles Instrument für künftige Forschungsprojekte zu Herta Müllers Werk stellt neben den Einzelbeiträgen die Auswahlbibliografie im Anhang dar, welche Buchausgaben, Interviews, Übersetzungen und Forschungsliteratur verzeichnet. Hier sind insbesondere die chronologisch aufgeführten Interviews und die nach Originalausgaben geordneten Übersetzungen hervorzuheben, deren Zusammenstellung für Recherchen fremdsprachiger Titel gerade im Hinblick auf Sprachbarrieren von großem Wert ist.

Dem Umstand, dass Herta Müller eine lebende, nach wie vor schreibende Autorin ist und etwa im Bereich der Collagen weiterhin sehr produktiv ist, trägt das Handbuch durch den Verzicht auf den bei J. B. Metzler für dieses Format üblichen Untertitel „Leben – Werk – Wirkung“ Rechnung. Dadurch wird zum einen dem Eindruck entgegengewirkt, dass man es aufgrund der ausbleibenden Romanproduktion und der hohen Produktivität der Autorin im Bereich der anlassbezogenen Formate wie Interviews oder Zeitungsartikeln mit einem Endpunkt zu tun habe. Zum anderen wird durch das Fehlen des Standarduntertitels die Vorläufigkeit des Projektes betont und die ein Werk im starken Sinn zementierende, d. h. kanonisierende Funktion von Handbüchern reflektiert.

Das Herta Müller-Handbuch steht aufgrund der markierten Offenheit anderen jüngeren Handbüchern wie beispielsweise dem ebenfalls von Norbert Otto Eke verantworteten, in Vorbereitung befindlichen Handbuch „Literarische Institutionen“ (De Gruyter) näher als etwa dem zeitgleich erschienenen Handbuch zu Adalbert Stifter. Denn es informiert nicht nur über Herta Müllers Leben, Werk und Wirkung, sondern auch über den Umgang der Literaturwissenschaft mit Gegenwartsliteratur – und damit zugleich über die Interaktion von Literaturwissenschaft und Literaturbetrieb. Das Handbuch fungiert folglich nicht nur als Nachschlagewerk und als Türöffner zu weniger bekannten Werken von Herta Müller, sondern auch als Inspirationsquelle für neue interpretatorische Zugänge im Rahmen der Forschung zur Gegenwartsliteratur.

Titelbild

Norbert Otto Eke (Hg.): Herta Müller-Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017.
287 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783476025807

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