Zumutung ist ein schönes Wort

Nach fünfzig Jahren wieder aufgetaucht: ein unbekannter Text von Günter Grass über Heinrich Böll

Von Uwe NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Neumann

Im Sommer 1967 wendet sich Marcel Reich-Ranicki mit einem Rundbrief an zahlreiche Zeitgenossen, um Beiträge für eine Anthologie zu erbitten, die aus Anlass des fünfzigsten Geburtstages von Heinrich Böll erscheinen soll. Für seine Anthologie möchte der Kritiker natürlich auch einen Günter Grass gewinnen, den neben Böll berühmtesten Repräsentanten der deutschen Nachkriegsliteratur. Einen Brief an Grass schreibt Reich-Ranicki an einem sehr markanten Datum, dem 2. Juni 1967, einerseits sein eigener Geburtstag, andererseits jener unglückselige Tag, in dessen Abendstunden der Student Benno Ohnesorg erschossen wird. Die folgenden Monate in Berlin verliefen auch für Günter Grass sehr turbulent, sodass die Anfrage zurückgestellt, wenn nicht gar vergessen wurde.

Die Gelegenheit, bei Grass noch einmal persönlich nachzufragen, bot sich im Oktober 1967 bei der Tagung der Gruppe 47 im fränkischen Gasthof „Pulvermühle“. Und siehe da: Grass konnte von einer kleinen Porträt-Skizze berichten, die er drei Monate zuvor aus Verärgerung über ein Fernsehgespräch zwischen Klaus Harpprecht und Heinrich Böll angefertigt hatte. Reich-Ranicki zeigte sich interessiert und unmittelbar nach der Tagung erhält er auch schon das Originalmanuskript, das Grass ihm obendrein zur freien Verfügung überlässt. Die Freude währt allerdings nur kurz, denn zwei Tage später macht Grass überraschenderweise einen Rückzieher. Im Nachhinein komme der Text ihm „unerheblich“ vor, schreibt er an Reich-Ranicki und bittet um die Rückgabe des Manuskripts. Reich-Ranickis Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Der Text sei doch ganz „vorzüglich“. Und er drängt Grass, sich die Sache noch einmal zu überlegen: „Ich sehe nicht recht, warum Sie diese kleine Arbeit, wenn Sie sich schon die Mühe gemacht haben, sie zu schreiben, wieder zurückziehen und Böll die Freude und Harpprecht den Ärger ersparen sollten.“ Folgenreich dann dieser Schachzug: In der Hoffnung, dass sich Grass doch noch besinne, behält der Großkritiker das Manuskript kurzerhand bei sich – „vorerst“, wie er beteuert. Der weitere Verlauf ist leider nicht dokumentiert. Günter Grass bleibt jedenfalls bei seiner Entscheidung; die Anthologie In Sachen Böll wird ohne einen Beitrag von ihm erscheinen.

Das Manuskript hat Grass nie zurückerhalten, in seinem Nachlass fand sich noch nicht einmal ein Durchschlag. Aufgetaucht ist der dreiseitige Originaltext erst Ende 2016 in Marburg, in der ‚Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland‘, wo er in einer von Reich-Ranicki zusammengestellten Mappe mit Materialien zu Heinrich Böll abgelegt war. Nach fünfzig Jahren kann der Leser nunmehr selbst entscheiden, ob er den Text „unerheblich“ oder „vorzüglich“ findet:

Günter Grass: Ist unser Hein telegen?

Ich habe Heinrich Böll schon seit Jahr und Tag nicht gesehen; das letzte Mal, gestern, sah ich ihn im Fernsehen. Jemand, ein Schwabe, der allerlei Floskeln mit den Händen bewegte, versuchte, Heinrich Böll Fragen zu stellen; doch dessen Gesicht korrespondierte nur mit der Zigarette, großflächig offen paßte es nie ganz auf die Mattscheibe. Ein angeschnittener Heinrich Böll nickte, so lange der Schwabe Fragen stellte, denen sich allenfalls entnehmen ließ, daß er mit Hilfe jugendstiliger Zierwindungen, dabei mit Leidenschaft und Ausdauer Barock mit dem Zopfstil verwechselte. Ja, ja, sagte Heinrich Böll, ich möchte das so ausdrücken: Literatur, ein Buch, überhaupt die Kunst ist eine Zumutung für den Leser.

Und dann gefiel unserem Hein das Wort „Zumutung“; keine Rücksicht nahm er auf den konditionsschwachen Schwaben. Weder er noch seine Zigarette fragten sich, ob einem Schwaben das Wort „Zumutung“ gefallen könne. Im Gegenteil, er glaube an die Kraft der Wiederholung: Zumutung ist ein schönes Wort. Zwar sei er kein Heidegger, der ein Wort wie „Zumutung“ untersuchen könne, aber eine Zumutung sei das Schreiben schon, ja, ja. Und dann entschuldigte er sich wortlos, durch bloßes Schräghalten des Kopfes und durch einen sparsam-katholischen Filmschnitt zwischen Augenaufschlag und Augenaufschlag.

Jemand, der wie ich an der Mattscheibe klebte und kein Schwabe war, sagte: Das ist ja Grock. Haben Sie schon mal Grock gesehen? So war der Clown Grock.

Aber der Schwabe auf der Mattscheibe versuchte auch, komisch zu sein. Ist das nicht zu wenig, befand er, immer nur Deutschland, Köln und Wohnküche? Müsse nicht Welt in den Roman hinein, das Internationale, oder wie sich dem Schwaben das Internationale, geografisch kurzgefaßt, anbot: Wie wäre es mit einem Roman, der in Kamerun spielt?

Ach, lieber Heinrich Böll! Noch nie habe ich einen so sanften, clownesken, jansenistischen, katholischen Zigarettenraucher und Schriftsteller gesehen, der einen so pietistischen, geschnörkelten schwäbisch-internationalen Hofkommen­­ta­tor so lautlos, durch bloßes Blickwerfen, mit Ohrfeigen versorgt hat.

Ob der Schwabe das merkte? Vielleicht fühlte er sich gestreichelt. Pietistische Schwaben mögen katholische Ohrfeigen. Auf der Mattscheibe, nach Glaubensdingen und so befragt, sagte Heinrich Böll gutmütig: Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt etwas davon verstehen können. Sie haben das ja nicht, Litanei, Messe und so. (Wenn jetzt der Schwabe konvertiert, wird Heinrich Böll schuld daran sein; denn das war eine Zumutung, eine Böllsche Zumutung).

Schön und von Adenauerscher Schlichtheit geadelt, möchte ich einen Wortwechsel nennen, der die Hintergründe unserer Staatsmisere sekundenlang aufdeckte. Etwa so erinnerte sich der Schwabe: Sie haben da einiges gegen die CDU gesagt, das ich nicht unbedingt auf die Goldwaage legen möchte…

Wer saß da und konnte nicht anders? Unser Hein: Doch, doch, das können Sie ruhig auf die Goldwaage legen. (Gleich darauf Zigarette und Großgesicht, Mystik des Rauchens).

Als nach einer reifen dreiviertel Stunde Heinrich Böll mit Hilfe einfacher Worte die sprichwörtliche Traurigkeit eines Clowns von der Wiege bis zur Bahre variiert hatte, war der Schwabe dem Weinen nahe. Schnell rettete er sich in eine konservative Provokation: Kann man sagen, Heinrich Böll, daß Sie ein Puritaner sind?

Da sahen wir unseren Hein telegen nachdenken. Er befragte seine Filterzigarette, klopfte die Kirchenväter ab, holte Rat ein bei Freunden und Verwandten, übte noch einmal, zwischen Augenaufschlag und Augenaufschlag, jenen berühmten katholischen Zwischenschnitt, der ganz ohne Klerus auskommt und sich allein auf die Sakramente verläßt, und sagte so überzeugend, daß wir fortan in ihm einen ausschweifenden Wüstling sehen dürfen: Ich glaube nicht, daß ich ein Puritaner bin.

Später las ich, jetzt lese ich, und morgen werde ich lesen in seinem Buch „Wo warst Du, Adam?“. An dieses Buch halte ich mich. Immer, wenn mir Heinrich Böll entschwindet, und das kommt oft vor, weil dieses Land, in dem wir aneinander vorbeisprechen, so vielfältig unübersichtlich ist, greife ich nach dem Adam-Buch wie nach einem Besitz, den ich mir durch wiederholtes Lesen erworben habe. Vielen Dank für die Zumutung.

Das Gespräch zwischen Heinrich Böll und Klaus Harpprecht, dem gebürtigen Schwaben, wurde am 6. Juli 1967 im ZDF gezeigt. (Nachzulesen ist es in der „Kölner Ausgabe“ der Werke von Heinrich Böll, Bd. 24, S. 100-119). Dass eine Veröffentlichung der scharfzüngigen Reaktion von Grass zum „Ärger“ von Klaus Harpprecht ausgefallen wäre, lässt sich leicht denken. Harpprecht stand Grass ohnehin sehr kritisch gegenüber, außerdem war er selbst in der Anthologie In Sachen Böll mit einem Beitrag vertreten und hätte es wohl kaum geschätzt, ausgerechnet dort zur Zielscheibe der Kritik zu werden.

Die kleine Porträt-Skizze ist symptomatisch für das Verhältnis zwischen Grass und Böll: Beide ließen aufeinander nichts kommen, wurde der eine angegriffen, durfte er der Solidarität des anderen sicher sein. In der öffentlichen Wahrnehmung galten beide ohnehin als „siamesische Zwillinge“, wie es der Grass-Biograf Volker Neuhaus ausdrückt. Dabei waren der Rheinländer und der Kaschube gar nicht einmal besonders eng befreundet. Grass sei ihm ein „Bruder aus der Fremde“, schreibt Heinrich Böll 1978 an den zehn Jahre jüngeren Kollegen. Auch in der politischen Auseinandersetzung fanden sich beide, anders als man es bei ‚linken Literaten‘ zunächst vermuten sollte, durchaus nicht immer im selben Lager. In seiner Büchnerpreisrede sprach Grass 1965 den Vorwurf aus, dass sich Böll nicht im Wahlkampf für die SPD engagiert habe. Eine weitere öffentliche Rüge gab es 1968, nachdem sich Heinrich Böll bei Beate Klarsfeld mit einem Strauß Rosen dafür bedankt hatte, dass sie Kurt Georg Kiesinger für dessen Nazivergangenheit ohrfeigte. Dann aber, in den siebziger Jahren, als Böll in einer massiven Pressekampagne verdächtigt wurde, ein „Sympathisant“ und geistiger Wegbereiter der terroristischen Baader-Meinhof-Gruppe zu sein, war Grass so unüberhörbar und wortgewaltig zur Stelle, wie man ihn kennt. In den siebziger Jahren wird die beiden Schriftsteller zudem ein gemeinsames Projekt verbinden, die Herausgabe der Zeitschrift L ’76.

Als Kandidaten für den Literaturnobelpreis waren Böll und Grass schon seit den sechziger Jahren im Gespräch. 1972 erhält Böll die hohe Auszeichnung. Seine Reaktion: „Wie, ich allein, und nicht der Grass auch?“ In den folgenden Jahrzehnten wird Günter Grass als Dauerkandidat gehandelt, bis es dann 1999 endlich so weit ist. Auch er gedenkt in seiner ersten öffentlichen Äußerung des Kollegen: „Heinrich Böll wäre sicher zufrieden mit dieser Wahl. Ich habe immer versucht, seine Tradition fortzusetzen.“

Im Jahr 2009 wird sich Günter Grass noch einmal zu seinem Schriftstellerkollegen äußern, in dem Text Als Heinrich Böll beerdigt wurde (DIE ZEIT vom 8. 9. 2009). Bei der Trauerfeier war Günter Grass einer der Sargträger, neben Lew Kopelew, Günter Wallraff und den Söhnen von Böll. „Und nun geschah etwas, das Heinrich Böll gemäß war und gewiß allen, die als trauernde Freunde seinen letzten Weg begleiten wollten, unvergeßlich geblieben ist: vor dem Sarg, der im Schrittempo gefahren wurde, der Familie und dem langen Zug der Freunde spielten Zigeuner Melodien, die melancholisch verwehten und doch wie zum Tanzen waren.“

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem Aufsatz von Uwe Neumann: Kein weites Feld. Zum Briefwechsel zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, in: Freipass. Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik, Bd. 3, 2018. Der exklusive Abdruck des Textes von Günter Grass erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Günter und Ute Grass Stiftung.