How the West Was Won

In „Traurigkeit der Erde“ thematisiert Éric Vuillard die massentaugliche Inszenierung des Genozids an den nordamerikanischen Indianern

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Spektakel ist der Ursprung der Welt“, mit diesem Satz setzt Éric Vuillards essayistische Erzählung Traurigkeit der Erde – Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody ein, und das Spektakel, die Show, ist der Filter, durch den die Ausrottung und Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner in der öffentlichen Wahrnehmung gesehen wurde, womöglich von manchen heute noch wird. Vuillard erzählt, wie Buffalo Bill Cody Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Wild West Shows durchs Land zog, sogar durch Europa tourte, und einen glorifizierenden Mythos vom Wilden Westen schuf, der noch jahrzehntelang nachhallte. In auf Hochglanz polierten, durchchoreografierten Actionshows lieferten sich kostümierte Cowboys und Indianer ruhmreiche Schlachten, wurde ehrenhaft gestorben und ästhetisch ansprechend getötet. Im Vordergrund der Erzählung steht einerseits das Leben des findigen Unternehmers und Selbstdarstellers Buffalo Bill Cody, dem andererseits die brutale Wirklichkeit von Ausrottung und Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner gegenübergestellt wird. Anhand der den Kapiteln vorangestellten historischen Fotografien entwirft der Autor literarische Skizzen, kleine Momentaufnahmen, bei denen er vom vermeintlich faktischen Abbild ausgehend bestimmte Situationen und Ereignisse erzählerisch aufbereitet. Auch stilistisch lässt sich Vuillard zwischen diesen beiden Modi, einem auf Fakten beruhenden, eher erklärenden, essayistischen und einem erzählenden, Emotionen evozierenden Schreiben verorten.

Die Erzählung verweist darauf, dass gerade die USA ihre Vorstellung von Wahrheit aus den Inszenierungsmechanismen des Jahrmarkts und des Kuriositätenkabinetts heraus entwickelt haben und dass Realität schon recht früh als Spektakel für die Massen inszeniert wurde, bei dem man sich wohlig gruseln, ärgern oder gerührt sein kann, vor allem aber unterhalten wird. Vor Tausenden von Zuschauern geschah in den Wild West Shows eines Buffalo Bill Cody die Ausrottung der amerikanischen Urbevölkerung ein zweites Mal, nicht erst im Nachhinein, sondern fast parallel zur eigentlichen. Denn während die amerikanischen Indianer physisch vernichtet und in Reservate deportiert wurden, wurden sie in diesen Shows gleichzeitig ihrer kulturellen Identität beraubt. Sie wurden mit Attributen ausgestattet, die sie gar nicht besaßen, Massaker an ihnen wurden zu ruhmreichen Schlachten uminszeniert und ihre kulturellen Güter und Erzeugnisse wurden wie Merchandising-Artikel im Umfeld der Shows ausgestellt oder verhökert. Am Ende schreibt der Sieger die Geschichte und wie so oft vermischen sich auch in diesem Fall kommerzielle Interessen mit Politik, gehen Ausrottung und Ausverkauf Hand in Hand.

Auch auf die Frage, warum die USA anders als Europa – zumindest bis vor Kurzem – so wenig Skrupel davor haben, dass Schauspieler oder Personen aus dem Entertainment-Bereich hohe politische Ämter bekleiden, scheint Traurigkeit der Erde, das entstand, bevor der gegenwärtige US-amerikanische Präsident ins Amt kam, eine Antwort zu liefern. Vuillard deutet an, dass Show und Politik in den USA offensichtlich nie so recht getrennt wurden, dass die Grenzen zwischen Ernst und Unterhaltung immer schon fließend waren: In der Wild West Show wurde jedes Mal The Star-Spangled Banner gespielt, lange bevor das Lied 1931 zur amerikanischen Nationalhymne wurde. Manchmal ist man geneigt, Politik als Fortführung der Show mit anderen Mitteln zu sehen oder, wie in den gegenwärtigen USA, auch mit denselben. In Zeiten, in denen politische Gegner einander unaufhörlich der Lüge bezichtigen, und wo ein der Lüge Überführter allen Ernstes von „alternativen Fakten“ spricht, zeigt Vuillard, dass einerseits zwar jede Wirklichkeit, auch seine eigene Erzählung selbst, ein Konstrukt ist, dass es aber Konstrukte gibt, die auch nur ein Mindestmaß an Anstand vermissen lassen. Der Film sei durch Amerikas Hollywood die geschändetste Kunstform geworden, meinte der Philosoph Ernst Bloch in seinem in den 1950er Jahren erschienen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Vuillard legt nahe, dass es eine vielleicht typisch amerikanische Form der Inszenierung gibt, die auch die Realität schändet, eine auf den Affekt und das Spektakel abzielende Inszenierung, die um zu unterhalten, ihre Opfer ohne Empathie oder Mitgefühl rücksichtslos ausbeutet.

Am Ende wartet Vuillards Erzählung mit einem eindringlichen Plädoyer dafür auf, sich des Unrechts zu vergegenwärtigen, das den Indianern angetan wurde. Neben deren Ausrottung und Vertreibung ist das zweite Verbrechen, sie als Karikaturen ihrer selbst, als Show-Kondensat der kollektiven Wahrnehmung einverleibt zu haben. Auf einem Foto erkennt Vuillard in den Gesichtern von internierten Indianern prototypisch alle Armen und Ausgebeuteten dieser Welt – Inszenierungsmodellen, denen eine enthemmte und kaltherzige Profitgier zugrunde liegt, begegnet der Autor mit dem einer hemmungslosen Sentimentalität. Als Gegenentwurf präsentiert Traurigkeit der Erde das ganz und gar unspektakuläre aber gelungene Leben des Schneeforschers Wilson Alwyn Bentley, dem die erste Fotografie einer Schneeflocke unter dem Mikroskop gelang. Vor allem wie er dem Tod gegenübertritt, unterscheidet ihn von Buffalo Bill Cody, denn wo dieser am Ende seines Lebens manches bereut und letztlich scheitert, ist Bentley noch in seinen letzten Minuten so sehr vom Zauber der Natur, von der Form eines Eiszapfens fasziniert, dass er gar nicht weiter an sein bevorstehendes Ende denkt. Recht simpel wirkt hier Vuillards Inszenierung des guten Lebens, die hart an der Grenze zum Kitsch vorbeischrammt, sie vielleicht sogar überschreitet. Doch scheint der Autor ganz bewusst selbst auf eine Form von vereinfachender Inszenierung zurückzugreifen, die eine Art Gegenpol zum Spektakel bildet und die sich vielleicht weniger auf die Realität bezieht, als auf eine Literatur, die manchmal auch dort Hoffnung verbreiten darf, wo es in Wirklichkeit keine gibt.

Vuillard gelingt mit Traurigkeit der Erde ein eindringliches Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Empathie und gleichzeitig eine hochaktuelle Analyse von Inszenierungsmechanismen in den Massenmedien. Stellenweise mag seine Erzählung, auch durch die zahlreichen Komplizenschaft mit dem Leser heischenden Floskeln, ein wenig antiquiert wirken, doch genau das ist sein Gegenentwurf zu einer auf Affekt und Kommerz abzielenden schnelllebigen „modernen“ Inszenierung, ein literarischer Gegenentwurf zum schrillen und lauten Showbusiness. Traurigkeit der Erde ist lehrreich, mitfühlend und hochaktuell. Éric Vuillard traut sich, ein moralisches Plädoyer für mehr Anstand und Empathie vorzulegen, was umso wichtiger ist, in Zeiten, in denen so viele ihr Recht auf enthemmte Rücksichtslosigkeit mit der Floskel geltend machen, dass man das ja wohl noch sagen dürfe.

Titelbild

Éric Vuillard: Traurigkeit der Erde. Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody. Erzählung.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
136 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573629

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