Was gibt es? Was heißt es zu sein?

Das von Markus Schrenk herausgegebene „Handbuch Metaphysik“ widmet sich den grundsätzlichen Fragen der Philosophie

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorwegzunehmen: Ein solches Buch ist ein Geschenk und bereits jetzt als Standardwerk zu bezeichnen ‑ womit sich der hohe Anspruch des Herausgebers, ein Referenzwerk zu schaffen, das es möglich macht, sich rasch fundierte Kenntnisse zu Einzelaspekten der Metaphysik anzueignen, voll erfüllt hat. Auf 457 Seiten beschäftigt sich das von Markus Schrenk, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Düsseldorf, edierte Handbuch Metaphysik mit den „großen Fragen der Philosophie“ (Simon Blackburn) ‑ den Fragen nach dem Sein, dem Wesen der Dinge in der Welt und ihren Relationen zueinander. Die Einsichten der Metaphysik als zentraler Disziplin der Philosophie bilden die Grundlage für zahlreiche andere, nicht nur philosophische Disziplinen. Das Handbuch umfasst ‑ ausgehend von der Frage, was es überhaupt gibt ‑ sämtliche Teilbereiche der Metaphysik, vom Problem der Existenz über Raum und Zeit, Wissenschaftsmetaphysik, Logik und Semantik bis hin zur Frage nach dem Status der Metaphysik selbst und gibt einen umfassenden Überblick über Geschichte und Methoden metaphysischen Denkens. Auch die Metaphysik-Kritik wird nicht ausgespart, sondern in einem eigenen Kapitel diskutiert: Die logischen Empiristen beispielsweise waren der Meinung, dass alle Fragen, die nicht empirisch beantwortbar sind, gar nicht beantwortbar sind ‑ ja, sie könnten nicht einmal sinnvoll gestellt werden. Ausgenommen waren einzig Fragen, die sich innerhalb logischer und mathematischer Systeme ergeben.

Das, was über unsere erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht, das jenseits des Physischen beziehungsweise  der Natur Liegende beschäftigt die Metaphysik. Dabei ist es ihr um die Ursprünge unseres Seins zu tun, die wir nur vermuten können. In seinem engagiert und einladend geschriebenen Vorwort, das Zielsetzung und Konzeption des Handbuchs konturiert, hebt Schrenk seine tiefe Begeisterung für diese philosophische Disziplin hervor. Obschon oft totgesagt, blühe sie als Kerndisziplin der Philosophie immer wieder auf und wachse hinter dem Konkreten über dieses hinaus. Der britische Philosoph Derek Parfit formulierte für Steve Pykes Fotoalbum Philosophers metaphysische Fragen, die Schrenk leitmotivisch zitiert: „What interests me most are the metaphysical questions whose answers can affect our emotions, and have rational und moral significance. Why does the Universe exist? What makes us the same person throughout our lives? Do we have free will? Is time’s passage an illusion?“ Wie aus diesem Zitat hervorgeht, betrifft metaphysisches Fragen sowohl die emotionale als auch die rationale und moralische Ebene unseres Menschseins. Es zielt auf Essenzen (worin ein Hauptgrund seiner Angreifbarkeit liegt), fragt danach, was es überhaupt gibt, was Eigenschaften, Gegenstände, Ereignisse und Personen wesenhaft ausmacht, wie alles zusammenhängt, fokussiert Zeit, Raum und die Struktur der Welt, setzt sich mit Begriffen wie Wahrheit, Bedeutung und Referenz auseinander, denkt über Notwendigkeit und mögliche Welten nach. Auch der Seins-Status fiktiver Gegenstände kommt dabei in den Blick.

Das Handbuch Metaphysik widmet sich diesem breiten Panoptikum von Fragen in sieben Teilen. Der einleitende Teil beschäftigt sich mit der systematischen Frage, was unter Metaphysik überhaupt zu verstehen sei. Diese Frage kann als eine meta-metaphysische bezeichnet werden, reflektiert sie doch auf den Begriff selbst, und geht dabei gleichsam hinter die Metaphysik zurück und über diese hinaus, befragt sie darauf hin, was ihren Kern ausmacht. Wir wollen die uns umgebende Welt und uns in ihr verstehen: Dieses zentrale Motiv allen Philosophierens, aller Philosophie, ist zugleich das zentrale Moment und Movens der Metaphysik, die als Disziplin so alt ist ‑ sie wurzelt im Staunen als Urgrund der Philosophie ‑, dass eine Charakterisierung nahezu unmöglich erscheinen mag. Deshalb erweisen sich alle Definitionsversuche laut Schrenk als umstritten. Insofern folgt das Handbuch der Intention, keine eigene präzise Begriffsbestimmung anzubieten, sondern vielmehr den Begriff der Metaphysik anhand verschiedener Methoden und Themen anschaulich werden zu lassen und die Metaphysik in Grundzügen von der Naturwissenschaft abzugrenzen.

Der Begriff Metaphysik, schreibt Alexander Becker in seinem Beitrag zur Geschichte der Metaphysik in der Antike, ist zwar antiken Ursprungs, im größten Teil der antiken Philosophie selbst wurde er jedoch nicht als Name für eine philosophische Teildisziplin im heutigen Sinne verwendet. Eingeführt wurde er vermutlich im 1. Jahrhundert vor Christus als bibliografischer Ordnungsbegriff vom Herausgeber der aristotelischen Schriften, Andronikos von Rhodos. Der antike Begriff, der dem heutigen Verständnis von Metaphysik am nächsten komme, sei der des Prinzips. Man könne Metaphysik im antiken Sinne somit als „Prinzipienforschung“ bezeichnen. Die in diesem Sinne „metaphysischen“ Theorien der Antike lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: Die einen gehen von einem materiellen Prinzip aus, die anderen nehmen Strukturen als Prinzipien an, erläutert Becker. Das Kapitel „Geschichte der Metaphysik“ ‑ expliziert werden neben Antike Mittelalter, Rationalismus und Empirismus, Idealismus sowie „Kontinentale“ und „Analytische“ Philosophie ‑ ist in seiner Gesamtheit auch lesbar als eine Philosophiegeschichte in nuce, die zentrale Themen, Fragestellungen und Denker der verschiedenen Epochen vorstellt, weshalb das Handbuch Metaphysik besonders Studierenden zu empfehlen ist. Jeder Beitrag enthält einen Hinweis auf weiterführende Literatur sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis, sodass man einen Kanon bedeutender philosophischer Werke wie auch des aktuellen philosophischen Diskurses gleichsam en passant mitgeliefert bekommt und, bei Bedarf, die behandelte Fragestellung individuell vertiefen kann. In allen Texten finden sich Querverweise auf andere relevante Artikel des Handbuchs; zusätzliche englischsprachige weiterführende Literatur ‑ Handbücher, Textsammlungen und Einführungen zur Metaphysik ‑ ist am Ende des Buchs aufgeführt.

Über den Kreis des im engeren Sinne philosophischen Fragens hinaus werden im Handbuch Metaphysik auch Themen aus der Physik, den Lebenswissenschaften sowie den Sozialwissenschaften angesprochen. Sowohl Metaphysik als auch Physik, Chemie oder Biologie, bemerkt der Herausgeber, seien beispielsweise am Phänomen der Kausalität interessiert. Das Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften ziele hierbei jedoch hauptsächlich auf das Vorliegen kausaler Abhängigkeiten, weniger auf die Essenz von Ursache-Wirkungs-Verhältnissen. Die Metaphysik hingegen sei vornehmlich an einer begrifflichen Explikation interessiert. 

Thomas Sattig beleuchtet in seinem Beitrag metaphysische Theorien der Zeit. Unserer gewöhnlichen Konzeption zufolge besteht die Zeit aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Frage, die sich daran anschließt, zielt darauf, ob die Eigenschaften der Gegenwärtigkeit, des Vergangenseins und der Zukünftigkeit von Zeitpunkten oder Dingen Teil der Realität sind, die unsere Konzeption beschreibt, oder ob sie lediglich Aspekte unserer Beschreibung darstellen. Im Nachdenken über eine Metaphysik der Zeit ergeben sich weitere Fragen: Sind Vergangenheit und Zukunft ebenso real wie die Gegenwart? Ist die Zeit einem objektiven Fluss unterworfen, in dem Ereignisse von der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit getragen werden? Sattig setzt sich in seinen Darlegungen mit Begriffen wie Temporalität, Existenz und Vergehen, dynamische Zeit und Hyperzeit auseinander. 

Die Autorinnen und Autoren der thematischen Einzelkapitel sind ausgewiesene Expertinnen und Experten in ihrem Bereich. Mit dem Handbuch Metaphysik eröffnen sie auf verständliche und konzise Weise auch Fachfremden Zugang zu ihren Forschungsgebieten und deren jeweiligen Fragestellungen und Untersuchungshorizonten. In keiner Fachbibliothek sollte das Handbuch fehlen ‑ ein „Handbuch“ im emphatischen Sinne des Wortes, ein Buch, das man gerne zur Hand nimmt. Schrenk hat der Leserschaft ein Referenzwerk an die Hand gegeben, an dem sich jede vergleichbare Publikation wird messen müssen. Für das Jahr 2018 ist, das sei abschließend bemerkt, in gleicher Ausstattung ein Handbuch Ontologie geplant, dessen Erscheinen man schon jetzt mit Freude und Spannung erwarten darf.

Titelbild

Markus Schrenk (Hg.): Handbuch Metaphysik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017.
449 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783476025128

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