Gefangen im Bombennetz

Karan Mahajans Roman „In Gesellschaft kleiner Bomben“ verfolgt die Auswirkungen eines Terroranschlags auf Opfer, Täter und Angehörige

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Weißt du, was passiert, wenn eine Bombe hochgeht?“, fragt der Mann, der sich Shockie nennt, wobei unklar bleibt, ob er sich diese niedlich-grausame Lautmalerei selbst ausgedacht hat. Jedenfalls handelt es sich bei ihm um den begabtesten, erfolgreichsten und damit gefährlichsten Bombenbauer der „Jammu and Kashmir Islamic Force“, einer Terrorgruppe, deren Anschläge in Indien die blutige Wunde der Teilung Indiens und Pakistans – die damit gleichzeitig erlangte Unabhängigkeit jährte sich 2017 zum 50. Mal – im Gedächtnis behalten soll. Die mehrheitlich muslimisch geprägten Grenzgebiete Kaschmir und Jammu sind seit 1947 unter indischer Aufsicht, die kontinuierlich schwelenden Konflikten zwischen Hindus und Muslimen stehen paradigmatisch für das enorme Gewaltpotential, das der indische Subkontinent birgt.

Der Konflikt besteht jenseits der Fiktion, Shockie und seine „Islamic Force“ hingegen sind Figuren aus Karan Mahajans Roman In Gesellschaft kleiner Bomben, der in den USA bereits große Erfolge feierte. Der Terrorgruppe geht es um die Aufdeckung der politischen und religiösen Unterdrückung, um Rache und Vergeltung. Was passiert also, wenn eine Bombe hochgeht? Sie „enthüllt die Wahrheit über Orte.“ Eine Explosion an einem Ort wie beispielsweise einem belebten Markt, wo Shockie bevorzugt zuschlägt, reißt die Masken von den Gesichtern der Menschen: „Männer lassen ihre Kinder im Stich und laufen weg. Ladenbesitzer stoßen ihre Frauen zur Seite und versuchen, ihr Geld zu retten. Leute kommen und plündern die Läden.“

Die Bombe sorgt für einen seltenen Moment der Offenbarung ansonsten sorgsam verborgener Dinge. Ihre Wirkung ist, wenn man Shockie folgt, kathartisch. Selber blind und willenlos, wird sie einem Gott gleich zum unbewegten Beweger eines jeden, der sich ihrer zerstörerischen Kraft gegenüber sieht.

Sie, die Bombe – und nicht die Terroristen, Opfer und Angehörigen – ist der eigentliche Protagonist in Mahajans Roman. Ausgehend von den Druckwellen ihrer im Mai 1996 auf dem Markt Lajpat Nagar in Delhi ausgelösten Explosion, entspinnt sich die Unheilsgeschichte, deren Netz Opfer, Angehörige und Täter gleichermaßen einschließt. Dabei handelt es sich lediglich um eine „kleine Bombe“, 13 Tote, 30 Verletzte. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für den Anschlag reicht kaum länger als der Moment ihrer Explosion – das Leben der in ihrem Netz Gefangenen jedoch, so banal es klingt, ändert sie für immer. Dazu gehören neben ihrem Schöpfer Shockie die beiden Todesopfer Tushar und Nakul Khurana, ein elf und dreizehn Jahre altes Brüderpaar, ihr Freund Mansoor, der sie auf den Markt begleitet hatte und die Explosion mit Verletzungen überlebt, und deren jeweilige Elternpaare. Im Mittelpunkt steht Mansoor, denn sein Überleben wirft die Frage auf: Warum er, warum nicht Tushar und Nakul, warum nicht irgendein Fremder? Mansoors Eltern stellen die Frage voller Dankbarkeit. Das Ehepaar Khurana stellt sie voller Schmerz.

Auch Mansoor selbst stellt die seine persönliche Existenz angreifende Frage und wird fortan in seinem Werdegang von ihr geleitet. Sie führt ihn bis zur Begegnung mit Ayub, den er Jahre nach dem Attentat über eine Aktivistengruppe kennenlernt. Ayub ist Moslem, genauso wie Mansoor selbst, der jedoch bis zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie – auch um des gesellschaftlichen Vorankommens wegen – ein säkulares Leben geführt hatte. Mansoor wird gläubig in einer ernsten, aber harmlosen Weise. Die Religion hilft ihm, die schmerzhaften Spätfolgen seiner Verletzung auszuhalten, die eine Karriere als Informatiker verhindert hatten. Wenn er nicht tippen kann, so kann er doch beten und meditieren. Sein Freund Ayub hingegen, der ihm als spiritueller Gefährte zur Seite steht, radikalisiert sich zunehmend. Und so schließt sich am Ende des Romans der Kreis, der mit der Bluttat von Lajpat Nagar begann. Die Bombe mag zwar explodiert sein, doch hat sie lange Arme und wirkt über die Dauer des Romans weiter fort aus dem Verborgenen – wie ein Gott, wie ein Teufel.

Mahajans Roman besitzt eine erratische und damit doch sorgsam strukturierte Form, die die Druckwellen der Explosion nachbilden soll. Die Perspektiven wechseln, jeder der Beteiligten wird von Mahajan unter die Lupe genommen. Der Autor verzichtet bewusst auf einen Erklärungsversuch, wie ein Mensch zu einem Terroristen wird. Vielmehr entsteht ein Kaleidoskop unterschiedlicher Gefühls- und Erlebniswelten, innerhalb derer Mahajan in origineller Weise nachzeichnet, welche Folgen eine kleine, von der Welt schnell wieder vergessene Explosion auf diejenigen haben kann, die direkt mit ihr in Kontakt geraten sind.

Titelbild

Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Zoe Beck.
CulturBooks, Hamburg 2017.
373 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783959880220

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