Ketzer, Spitzel, Whistleblower

Von Judas bis Edward Snowden: Mathias Schreiber räsoniert über den „Verräter“ im Lauf der Kulturgeschichte

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Claus Schenk Graf von Stauffenberg war sich sicher, er werde „als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen“. Wie sollte es auch anders sein, immerhin versuchte der Wehrmachtsoffizier seinen Oberbefehlshaber zu ermorden, dem er doch Treue bis in den Tod geschworen hatte. Mehr Illoyalität und Verrat geht praktisch nicht – und doch feiern heute in Deutschland nicht nur Schulbücher den Widerständler als Vorbild an Zivilcourage, sondern sind sogar Kasernen nach dem gescheiterten Hitler-Attentäter benannt.

Das Beispiel Stauffenberg zeigt exemplarisch die für den Verrat oft typische moralische Ambivalenz. Seit jeher gilt er als etwas besonders Empörendes und die, die ihn begehen, als besonders niederträchtig, schon weil er qua Definition mit moralischen No-Gos einhergeht wie Vertrauensbrüchen, Lügen und Verstellungen, dem Hintergehen selbst nahestehender Personen. Dennoch werden diejenigen, die ihn begehen, oft von den einen als Helden verehrt, weil sie tatsächlichen oder angeblichen höheren Zielen folgten, während sie für die anderen eben nur von niederen Motiven angetriebene, verabscheuungswürdige „Verräter“ bleiben.

So wurde Stauffenberg und seinen Mitverschwörern im Nachkriegsdeutschland lange vorgeworfen, sie seien lediglich eine adelige Militärelite gewesen, die aus persönlichem Ehrgeiz gehandelt habe. Nicht anders im Fall des wohl berühmtesten Verräters unserer Tage, Edward Snowden: Hat der ehemalige NSA-Mitarbeiter sein Land hintergangen oder hat er dem amerikanischen Volk und der ganzen Welt einen unschätzbaren Dienst erwiesen, indem er die Überwachungspraktiken der Geheimdienste publik machte? Und was ist mit dem Urbild aller Verräter, Judas: Hat er Gottes Sohn für 30 Silberlinge verraten oder, wie etwa das apokryphe Judas-Evangelium behauptet, um mit seinem Tun den göttlichen Heilsplan überhaupt erst wahr werden zu lassen?

Dem Faszinosum Verrat und seinen Helden der Finsternis von Judas bis Snowden hat nun Mathias Schreiber einen lesenswerten Essay gewidmet. Darin widerspricht der ehemalige Spiegel-Redakteur der Ansicht Bernhard Schlinks, wonach die „große Zeit des Verrats“ vorbei sei, da heutzutage Loyalitäten keine große Rolle mehr spielten. Schreibers Einspruch ist berechtigt, schließlich feiert der scheinbar aus der Mottenkiste der Geschichte stammende Begriff gerade fröhliche Urständ. So wurde 2015 einem deutschen Polit-Blog vom Generalbundesanwalt „Landesverrat“ vorgeworfen, ein Jahr später zeigten empörte Bürger die deutsche Kanzlerin massenhaft wegen „Hochverrat“ an. In den USA der Trump-Ära ist der Verratsvorwurf längst ein probates Mittel, den politischen Gegner zu denunzieren, und Blogger und investigative Journalisten profitieren im Internet-Zeitalter von immer neuen „Leaks“, also Fällen von Geheimnisverrat.

Schreibers Essay liefert dazu mancherlei Erhellendes, beispielsweise über die psychischen Dispositionen eines Verräters, der „besondere psychische Reserven, zum Beispiel eine tiefsitzende Gefühlskälte, ein Talent für Einsamkeit, eine Begabung für Visionen oder auch nur eine lange aufgestaute Wut“ brauche. Zur Semantik des Verrats gehöre ein politisch-moralischer Code, wonach Verräter aus Sicht der Treuen „Abweichler“ sind, aus ihrer Eigensicht dagegen oft „Revolutionäre, Erneuerer, produktive Zerstörer verkrusteter Strukturen“ oder eben „mutige Enthüller unwürdiger oder gar gefährlicher Geheimnisse“. Anders als für bipolare Delikte wie Mord oder Diebstahl sei für den Verrat die Existenz einer dritten Seite unabdinglich, die von der Tat profitiere, natürlich auch in seiner banalsten Variante, dem Ehebruch.

Schreibers Essay folgt der schillernden Figur des Verräters durch die Kulturgeschichte, von Prometheus, der die Götter hinterging, über die Ketzer und Konvertiten des Mittelalters bis zu den Denunzianten, Überläufern und Doppelagenten im Kalten Krieg sowie den Whistleblowern und willigen Selbstverrätern im Zeitalter der sozialen Medien. Aufschlussreich sind dabei, gerade im ersten Teil, Schreibers Analysen besonders „krasser Verratsexempel“, darunter der Fall des DDR-Dichters Sascha Anderson, für Schreiber ein Beispiel von „moralischer Selbstzerstörung“: Anderson schnüffelte für die Stasi in der Künstlerszene am Prenzlauer Berg und ging mit den Ehefrauen oppositioneller Autoren sogar ins Bett, nur um an belastendes Material zu kommen.

Statt sich aber auf solche Einzelfälle zu konzentrieren, erstickt Schreiber sein Thema in der zweiten Hälfte leider mit einer Überfülle an historischen Beispielen (wobei er ausgerechnet den berühmtesten Verräter der US-Geschichte ignoriert, General Benedict Arnold). Zumal diese mitunter auch noch zusammenhanglos aneinandergereiht sind. Oder warum folgt auf die Verschwörung gegen Julius Caesar der kakanische Oberst Alfred Redl, der vor dem Ersten Weltkrieg zur Finanzierung seines ausschweifenden Lebensstils für das zaristische Russland spionierte?

Auffallend ist auch, dass Schreiber die Begriffe „Spion“ und „Verräter“ tendenziell synonym verwendet, obwohl eine stärkere Unterscheidung analytisch wohl sinnvoller erscheint. Der Kanzlerspion Günter Guillaume beispielsweise, über den der damalige deutsche Kanzler Willi Brandt stürzte, mag zwar der DDR BRD-Geheimnisse verraten haben, doch kam er schon als Agent des ostdeutschen Ministeriums für Staatssicherheit in die Bundesrepublik, blieb also seinen sozialistischen Auftraggebern gegenüber treu.

Einfach nur ärgerlich sind dagegen Schreibers Einlassungen zum Fall Edward Snowden: An dem ehemaligen NSA-Agenten lässt Schreiber kaum ein gutes Haar, so sehr empört ihn dessen „untragbare Verletzung einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung zur strikten Geheimhaltung“, zumal sie die Sicherheit der Bürger gefährde. Jedes weitere Terror-Opfer belaste womöglich von nun an „das moralische Konto dieses Verräters“, glaubt Schreiber, und ach ja, vielleicht habe ja Snowden dem russischen Geheimdienst „als Türöffner geholfen“, im US-Wahlkampf den Server der Demokraten zu hacken. Verdanken wir Trump also Edward Snowden – oder versucht sich der Essayist hier zur Abwechslung selbst als Denunziant?

Titelbild

Mathias Schreiber: Verräter. Helden der Finsternis von Judas bis Snowden.
Reihe zu Klampen Essay. Herausgegeben von Anne Hamilton.
zu Klampen Verlag, Springe 2017.
184 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745506

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