Dominante und rezessive Gene

Ljudmila Ulitzkaja fragt in ihrem Roman „Jakobsleiter“ nach der Verbindung zwischen den Generationen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ljudmila Ulitzkaja (geb. 1943) braucht man einer deutschsprachigen Leserschaft nicht unbedingt näher vorzustellen. Mit ihren zahlreichen übersetzten Romanen und Essays gehört sie auch hierzulande zu den meistgelesenen russischen Autoren der Gegenwart. Blickt man auf ihr bisheriges literarisches Schaffen zurück, so kann man festhalten: Zwei große Themenbereiche zeichnen Ulitzkajas Werk aus – wobei in den Romanen in der Regel beide gemeinsam auftreten. Zum einen ist dies ein unverkennbares Interesse an Familiensagas und Beziehungsgeschichten. Zum anderen spürt die Autorin immer wieder den Lebensbedingungen im sowjetischen Jahrhundert nach, so dass ihre Texte stets auch ein bedeutendes Stück Erinnerungsarbeit leisten.

Auch Ljudmila Ulitzkajas neuster Roman Jakobsleiter weicht von dieser Linie nicht grundsätzlich ab. Insofern tritt uns hier keine überraschende, neue Ulitzkaja entgegen. Wieder steht eine russisch-sowjetische Familiengeschichte im Zentrum des Erzählens; und erneut ist dem Roman eine historische Dimension beigegeben: Das Schicksal der beiden Hauptgestalten Jakow Ossetzki und seiner Nichte Nora wird ganz entscheidend durch die großen historischen Umwälzungen, aber auch durch die kaum fassbaren Verschiebungen in der sie unmittelbar umgebenden Realität mitbestimmt.

Und doch haben sich in Jakobsleiter die Gewichte gegenüber Ulitzakajas früheren Romanen wie etwa Daniel Stein oder Das grüne Zelt merklich verschoben. Dies zeigt sich in zweifacher Hinsicht: Einerseits verwendet Ulitzkaja in ihrem neuen Roman zum Teil authentische Dokumente. Sie zitiert verschiedentlich (und jeweils in längeren Passagen) aus dem Tagebuch ihres eigenen Großvaters Jakow Ulitzki sowie aus dessen Briefwechsel mit seiner Frau. Ulitzki hat der Autorin als Vorbild für ihre Romanfigur Jakow Ossetzki gedient. Jakobsleiter ist damit deutlich dokumentarischer angelegt als frühere Werke Ulitzkajas, selbst wenn nach wie vor der größte Teil des Romans der literarischen Fantasie entspringt. Doch das Signal des Authentischen, das die Autorin hier setzt, ist für das Verständnis des Romans entscheidend: In einer Zeit, in der die russische Gesellschaft und die Politik zunehmend Mühe mit dem historischen Gedächtnis bekunden, kann dies als eine Aufforderung verstanden werden, die Erinnerung an das schwierige und mitunter brutale 20. Jahrhundert wachzuhalten. Mehr noch: Ulitzkaja gibt zu verstehen, dass es in Russland möglicherweise abermals der Literatur zukommt, sich dieser wichtigen Aufgabe anzunehmen.

Für Ulitzkaja ebenfalls eher neu ist andererseits, dass das Politische in Jakobsleiter stärker in den Hintergrund gerückt ist. Zwar sind die großen Marksteine wie die Weltkriege, die Russische Revolution, die Stalinschen Repressionen oder der wirtschaftliche und gesellschaftliche Stillstand unter Parteichef Leonid Breschnew durchaus präsent. Sie wirken sich auch spürbar auf die Lebensumstände der Protagonisten aus. Aber Ulitzkaja will bei all dem das Dokumentarische offensichtlich für sich sprechen lassen. Keine Idee wird besonders propagiert, kein Leben erscheint als an und für sich „besser“ oder „schlechter“ als das andere. Zumindest legt die Erzählinstanz nichts dergleichen nahe. Das wäre nicht problematisch, wenn es nicht den Roman auch ein wenig lauwarm machen würde. Ideologien werden hier kaum mehr diskursiv verhandelt. Ulitzkajas letzter großer Roman, Das grüne Zelt, war in dieser Hinsicht doch um einiges dringlicher. Vielleicht hängt mit diesem Befund auch die Tatsache zusammen, dass Ulitzkaja das ironische Element in Jakobsleiter zurückgenommen hat. In manchem vorangegangenen Roman hatte aber gerade die Ironie jeweils mit dazu beigetragen, dass sowohl die Geschehnisse wie auch ihre Bewertung durch die Menschen mannigfaltig gebrochen wurden. Dieser Mechanismus fehlt nun in Ulitzkajas neustem Werk.

Worum aber geht es in Jakobsleiter? – Der Roman kreist um zwei Biografien: Jakow Ossetzki (1890-1989), aus jüdischem Haus, jung, gut gebildet und zu einigen Hoffnungen Anlass gebend, gerät in die Fänge des Systems und schließlich in die Stalinschen Lager. Mit seiner Frau wird er fortan und über Jahre hinweg fast nur brieflich kommunizieren können. Marussja, eine überzeugte Bolschewikin, wendet sich bald von ihm ab. Jakows Leben wird gespiegelt in demjenigen seiner Nichte Nora (geb. 1943), einer Bühnenbildnerin, die in spätsowjetischer Zeit versucht, ihre künstlerischen Ambitionen zu leben – so gut es eben geht, und immer hart an der Grenze dessen, was aufgrund der politischen Gegebenheiten gerade noch möglich ist. Auch Nora hat die Autorin eine Figur zur Seite gestellt: Ein georgischer Regisseur namens Tengis, der Nora immer wieder für gemeinsame künstlerische Projekte anwirbt und zu ihrem Lebenspartner wird. Tengis hat allerdings einen schwierigen Charakter, er ist recht windig und lässt sich kaum kontrollieren. Doch auch wenn er Nora wiederholt sitzen lässt, muss sie für sich letztlich doch eingestehen, dass er die Liebe ihres Lebens ist. Nora ist es auch, die nach Marussjas Tod die Briefe und Aufzeichnungen ihrer Großeltern findet und aufarbeitet.

Ulitzkaja wäre nicht sie selbst, wenn nicht noch zahlreiche weitere Figuren in ihrem Roman zu einem Auftritt kämen. Da wären etwa Jakows und Marias Vorfahren zu nennen, aber auch Noras Eltern – und ganz besonders ihr Sohn Jurik aus einer frühen, gescheiterten Ehe. Jurik gerät auf die schiefe Bahn und wird daher bei seinem Vater Viktor untergebracht, der inzwischen als erfolgreicher Wissenschaftler in den USA lebt: Man hofft, dass Jurik dort seinen Weg wieder findet. So verbindet Ulitzkaja in gewohnter Manier nicht nur erneut viele Einzelschicksale, sondern sie spannt auch ein geografisches Netz auf, das Kiew, Moskau, Sankt Petersburg, Tiflis, die sowjetischen Gefangenenlager, Charkow, die russische Provinz und New York erfasst. Dass dabei sowohl die Welt der Künste wie auch diejenige der Wissenschaft porträtiert werden, ist für Ulitzkaja bezeichnend. Auch die Erzählweise, die im Wechsel rafft und dehnt sowie ständige Zeitsprünge vollzieht, ist aus früheren Romanen durchaus vertraut.

Den ganzen Inhalt des Romans nachzuerzählen, ist unmöglich – und im Übrigen auch gar nicht nötig. Aber man kann in Jakobsleiter einen thematischen Schwerpunkt ausmachen, der gewissermaßen zum Kristallisationspunkt des Erzählens wird. Zwischen den vielen Einzelschicksalen scheint nämlich immer wieder die Frage auf, was denn die Menschen mit ihren Vorfahren verbindet. Manches, was für frühere Generationen von Bedeutung war, kehrt auch bei den Nachkommen wieder – nur in der Regel nicht schon bei den Kindern, sondern erst bei den Enkeln oder den Großenkeln. Das betrifft ebenso fundamentale Interessen wie auch Lebensentwürfe oder Überzeugungen und Werte. So verbindet beispielsweise Jurik die Liebe zur Musik mit seinem Urgroßvater Jakow, den er nie kennengelernt hat. Woher aber kommt diese Wiederkehr des Gleichen oder des Ähnlichen? – Man könnte in diesem Zusammenhang von dominanten und rezessiven Genen sprechen. Bei Ulitzkaja äußern sich diese allerdings weniger im physischen Bereich als vielmehr im „geistigen“. Man darf annehmen, dass auch die der Bibel entnommene Jakobsleiter hierauf anspielt. Sie hat dem Roman den Titel gegeben und funktioniert zugleich als dessen entscheidende Metapher. Ulitzkaja schreibt:

Jakob träumte von einer Leiter, auf der Engel auf- und niedersteigen, und von ganz oben sprach Gott zu ihm, sinngemäß: „Hier liegst du nun, und ich verkünde dir, dass die Erde, auf der du schläfst, dir geschenkt wurde, ich segne dich und alle deine Nachkommen und durch dich auch alle übrigen Geschlechter.“

Dem Leser drängen sich  zahlreiche weitere Fragen auf, auf die Ljudmila Ulitzkaja im Roman jedoch keine abschließenden Antworten gibt: Sind wir tatsächlich, wer unsere Vorfahren waren? Können wir ihre Erfahrungen, ihr Wissen erben und fruchtbar machen? Wenn ja: Nach welchen Regeln und Gesetzen geschieht dies? – Oder folgen wir unseren Ahnen einfach nur nach und sind ganz anders als sie? Wie groß ist in unserem Leben der Anteil des Zufalls, oder wenn man will: des Schicksals?

Wenn man die zeitgenössische russische Literatur betrachtet, welche sich eine Analyse der heutigen Realität zum Ziel setzt, so kann man zwei klare Tendenzen ausmachen: Die eine schaut zeitlich weit voraus und liefert dann in der Form einer Antiutopie über ein künftiges Russland gleichwohl eine Diagnose des Heute. Die andere Richtung aber schaut zurück, vornehmlich in das 20. Jahrhundert, in die kommunistische und sowjetische Epoche, und zielt doch ebenso wiederum in die Gegenwart. Von dieser zweiten Art ist Ljudmila Ulitzkajas Werk: Wo heute viele die Augen vor der Vergangenheit verschließen, da insistiert die Autorin mit ihrem Bild von der Jakobsleiter: Allein durch die Abfolge der Generationen hat es immer schon eine Verbindung mit dem Davor und dem Danach gegeben. Diese Berührung der Epochen ist freilich in Ulitzkajas Darstellung keine eindeutige. Sie erscheint nicht immer als folgerichtig und konsequent – aber sie ist immerhin vorhanden. Dem Leser hingegen stellt sich am Schluss die Frage, ob diese Erkenntnis nicht etwas banal ist. Es scheint, als habe hier Ulitzkaja sich selbst und ihren Roman um ein großes gedankliches Potenzial gebracht.

Titelbild

Ljudmila Ulitzkaja: Jakobsleiter. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
608 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256538

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