Ein Regenbogen unter der Glocke der Dunkelheit

Die Gedichte der dänischen Dichterin Pia Tafdrup sind eine Entdeckung

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Gedichtband ist ein Ereignis. „Ein Sturm kommt,/ eine Stille“: Schon die ersten Verse sind überwältigend. Diese Wörter leuchten, und man ist vom Licht gebannt, das die Dunkelheit erhellt. Diese Verse lassen niemanden unberührt. Sie greifen nach uns, ganz handgreiflich, und ergriffen folgen wir der dänischen Dichterin Pia Tafdrup auf ihrem schweren Gang, den sie in ihrem Gedichtband Tarkowskis Pferde beschreitet. Wir begreifen, dass all das, was in ihren Gedichten verhandelt wird, auch uns betrifft.

Tarkowskis Pferde ist Tafdrups erstes Gedichtbuch, das in deutscher Übersetzung vorgelegt wird. Das ist unbegreiflich, aber auch sinnbildlich für den Stellenwert von Lyrik im Land der Dichter und Denker. Seit 1981 hat die weltbekannte dänische Dichterin 17 Gedichtbücher vorgelegt, die in 35 Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt in Kopenhagen, ist Mitglied der Dänischen Akademie und hat bedeutende europäische Preise erhalten, darunter 2006 den Nordischen Preis der Schwedischen Akademie. Dennoch braucht es über 35 Jahre, ehe ihre Gedichte in deutscher Sprache zugänglich sind. Das ist geradezu skandalös. Wir haben es nur der umtriebigen Stiftung Lyrik Kabinett in München und dem Übersetzer Peter Urban-Halle zu verdanken, einem der besten Kenner der dänischen Literatur, dass wir nun endlich der Dichterin Pia Tafdrup begegnen können.

In seiner „Nachbemerkung“ beschreibt der Übersetzer Tafdrups „Poesie des Schwebens“ und zitiert sie mit dem Satz: „Meine Poesie entsteht zwischen zwei Polen, zwischen Lebenshunger und Todesangst, Affekt und Gedanke, Sprache und Stummheit.“ Tafdrup schrieb die Gedichte in einer Berliner Wohnung in der Immanuelkirchstraße, einen Monat nach dem Tod ihres demenzkranken Vaters, den sie bei seinem Sterben im Pflegeheim und schließlich im Krankenhaus begleitet hat. Der Leser wird Zeuge einer existentiellen Metamorphose, und nicht umsonst wird gleich zu Beginn das Bild des Sängers Orpheus bemüht, des Grenzüberschreiters, der es mit den Göttern aufnimmt, um Eurydike aus dem Totenreich zu befreien. Vielleicht darf man sagen, dass es seit Rainer Maria Rilkes Sonetten an Orpheus niemandem mehr so eindrucksvoll gelungen ist, das Leben zu feiern, indem man den Tod besingt.

Tafdrups Poesie ist dabei ganz eigenständig, zeitgenössisch und modern. Anspielungen auf Rilke, Paul Celan und Inger Christensen finden sich in diesem Band. Die Dichterin stellt die Fragen, die uns „jenseits der Grenze des Bekannten und des menschlichen Raums“ führen, dorthin, wo wir das Absolute, das Göttliche wähnen.  Dabei verschiebt sie in ihren Gedichten die Grenzen des Sagbaren und verwandelt den Schmerz, das Unerklärliche, in Poesie. Zwischen „Transzendenz und Körperlichkeit“ schweben ihre Verse, doch ihre Sprache bleibt einfach und klar, wie in dem Gedicht Mindestens eine Wunde, in dem sie den Tod ihres Vaters im Krankenbett beschreibt:

 – Es tut weh
ist der letzte Satz, den mein Vater
zu mir sagt
           auf seinem Sterbebett.
Noch einen ganzen Tag
ohne irgendein Gespräch
steht dieser Satz
klar
wie eine Scherbe glänzen kann.

Vorausgegangen ist ein langer Leidensweg. Sie beschreibt die Gespräche mit ihrem Vater. Ihre Erinnerungen an die Kindheit treffen auf sein allmähliches Vergessen aller Zusammenhänge und Verbindungen. Demenz, das große Thema unserer Zeit, wird hier zu einer Vater-Tochter-Geschichte mit vertauschten Rollen. Tafdrup beschreibt Erfahrungen, die sie mit vielen ihrer Leser teilt. Aber sie verwandelt unsere Ängste in dichterische Sprache, die uns mitfühlen lässt. Darunter sind Verse wie diese: „Ich kenn meinen Vater,/ wie die Nacht die Sterne kennt./ Mit aller Kraft/ versuch ich, eine Brücke zwischen seinen Gedanken zu finden“ oder: „Die verwischten Grenzen verändern die Geographie des Gehirns./ Wir sitzen Seite an Seite, lauschen dem Schnee,/ der sich draußen lagert, immer höher./ Das Elternhaus meines Vaters verfließt/ mit späteren Wohnsitzen, sie bilden/ ein einzig lebendig ZUHAUSE./ […] Alle Punkte schweißen die Seele zusammen/ in einem einzigen Jetzt, es ist heute für immer“.

Unter der Schädeldecke ihres Vaters sucht sie nach Antworten für seine Situation und findet dabei ungeheuer starke poetische Bilder: „Die Erde ist ein kalkweißer Schädel/ mit Krieg gefüllt –/ und unter der Schädeldecke brennt/ die Bibliothek des Lebens./ Die Wolken küssen die Erde/ durch das offene Dach…/ Aschehaufen wachsen, Vergessens-/ pulver rieselt herab“. 

Es sind zärtliche Gedichte, Liebesgedichte, die Von der Würde des Lebens handeln und in denen die Dichterin mit ihrer eigenen Ohnmacht ringt. Doch darum geht es ihr, um die Würde des Lebens und des Menschen, den man liebt und der sich entfernt, einen nicht mehr erkennt: „Ich habe Rechenaufgaben erstellt,/ die nicht aufgehen wollen,/ es gibt Schritte über die Logik hinaus,/ Sonnensysteme aus Unerklärbarkeiten./ Obwohl er doch lebt,/ such ich nach meinem Vater in meinem Vater…“ Und in dem Gedicht Verlusttabelle heißt es: „Mein Vater vergeht, wie Tage/ fliehen./ Es gibt keine Ziffern, die die Sehnsucht/ beschreiben“.

Aber es gibt diese Gedichte. Es gibt Worte für das Unbegreifliche, das Unerklärbare. Es gibt die Dichterin Pia Tafdrup und es gibt – endlich – den Gedichtband Tarkowskis Pferde. Was große Dichtung vermag, zeigt uns dieses Buch: Sie tröstet und heilt, sie verwandelt uns. „Mein Vater konnte so erzählen, daß ein Blinder/ unter der Glocke der Dunkelheit/ einen Regenbogen hätte sehen können“, heißt es in dem Gedicht Gute Nacht. Diese Lyrik schenkt Hoffnung und verweist uns auf die Macht lebendiger Erinnerung. Wer jemals Scherben in der Hand hielt, für den werden diese Gedichte leuchten.

Titelbild

Pia Tafdrup: Tarkowskis Pferde. Gedichte. Zweisprachig dänisch/deutsch.
Mit einer Nachbemerkung von Peter Urban-Halle.
Übersetzt aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Stiftung Lyrik Kabinett, München 2017.
117 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776452

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