Ein atemberaubendes Buch um Macht und Freiheit, um Schwermut und Betörung

Thomas Lehrs Roman „Schlafende Sonne“

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Bildern, die dieser Roman aus der Dunkelheit des mehr oder weniger Verborgenen ins Licht einer permanent blendenden Sonne rückt, gibt es keine Rahmen mehr; denn es sind Bilder einer Ausstellung, die unmittelbar weiterführt zu einer schier unaufhörlichen Explosion von Empfindungen, Überlegungen, Erinnerungen, zu einer radikalen Revision aller Einführungen in die Entwicklung der Kunst, der Philosophie, der Naturwissenschaften und nicht zuletzt schließlich auch zu einem neuen Rückblick auf die Geschichte (mindestens) des 20. Jahrhunderts. Da gibt es keine Einfassungen mehr. Nur mehr Ströme von Wahrnehmungen, die ineinander übergehen oder auseinander fallen: Ergebnisse ausgefeilter, nicht selten kühner Satzkonstruktionen, die gewiss auch einen Thomas Mann oder einen Heimito von Doderer ungemein beeindruckt hätten und einmal sogar dem Autor selbst Anlass geben, kurz innezuhalten und abzubremsen. „Etwas Präteritum würde schon helfen. Im Gegensatz zum Präsens-Halogenlicht eine milde Aufhellung der Dunkelheit, so dass sich die Augen langsam umstellen können.“ Doch dieser Bremsversuch misslingt, glücklicherweise. Keineswegs nur die komplizierten, auch die scheinbar einfachsten Sätze imaginieren nie zuvor erblickte Bilder. Im Licht der Sonne gibt es Leben, und das heißt: keine Ruhe.

Jedenfalls keine Ruhe für die Figuren, die in diesem Roman die Hauptrollen übernehmen: Milena, die Künstlerin, die in einer großen Ausstellung Bilanz zieht, die Bilanz eines Lebens und die Bilanz einer langen Reihe von Impressionen über das 20. Jahrhundert; Rudolf, der Dokumentarfilmer und Philosoph mit seiner Vorliebe für einprägsame Bilder, der einmal auch Milenas Lehrer gewesen ist; und Jonas, Milenas Ehemann, der Experte in Sachen Solarphysik (und Untreue). Aus dieser Figurenkonstellation und den zentralen Schauplätzen (darunter: Dresden, Göttingen, Berlin) ergibt sich schon, dass zunächst einmal vor allem die (deutsche) Kunst- und Kulturszene ebenso wie das Universitätsleben in den Blick kommt, weit darüber hinaus jedoch auch, dass ein Reflexionsniveau konstituiert wird, das in der zeitgenössischen Literatur ziemlich einsam dasteht. Was immer im Blickfeld liegt, Privates wie Öffentliches, zumeist ist beides eng verschränkt, zeigt sich in eindrücklichen Bildern, nichts bleibt bei bloßer Behauptung. Gleichgültig wovon die Rede ist, ob von erotischen Phantasien und sexuellen Händeln oder aber von historischen Prozessen und politischen Umbrüchen – an keiner Stelle begnügt sich der Erzähler, begnügen sich seine Protagonisten damit, für eine „milde Aufhellung der Dunkelheit“ zu sorgen. Stattdessen bemühen sie alle sich um Aufklärung.

Ein Denken in Bildern: Das Nachdenken über die Opferung des Isaak durch Abraham, über die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den Darstellungen von Rembrandt und Caravaggio, führt (um hier mehr oder weniger willkürlich ein Beispiel herauszugreifen) rasch weiter zu Milenas Thesen über Feuerbach und zum Asphalt der Friedrichstraße, wo sich gerade, man schreibt das Jahr 1989, „der abrahamische Griff des Staates“ allmählich löst. Der reale Sozialismus und sein  Zusammenbruch in diesem Jahr ist für Milena, das „Ostmädel“, das beides ebenso hautnah miterlebt hat wie das Scheidungstrauma, unter dem sie leidet (die Mutter zwischen zwei Männern, allerorten Gewalt), eine einzige Herausforderung, zwingt sie, immer wieder beharrlich zurückzublenden. „I lived in Dresden since I have become seventeen excuse my mad English we learned only and alone the Russian language for better communismication.“ Jahre später wird der Lack „mit besicheltem und behämmertem roten Stern“, der ohnehin längst ziemlich abgebröckelt ist, von ihr vollkommen abgekratzt.

Der Lack wird überall abgekratzt. Sei es, dass die Beziehungen und Affären in den Blick geraten, die Jonas, der Sohn rot-grün-katholischer Eltern, der „auf die Sonne verfallen“ (Milena korrigiert später: „der Sonne verfallen“) ist, immer wieder mit verschiedensten Frauen unterhalten hat, sei es, dass der graue Alltag in den Mittelpunkt der Erinnerungen rückt, das Klassenzimmer, die Kirche, der Tanzsaal; sei es auch, dass vom Wandel der Wertesysteme die Rede geht, angefangen von Immanuel Kants Vorstellung des ewigen Friedens bis hin zum billigen Pazifismus der Sozialdemokratie im Kontext der deutschnationalen Aufrufe zum Kampf gegen den mächtigen, tatsächlich übermächtigen Englisch-Russisch-Mongolischen Block.

Der geschärfte Blick auf die öffentliche Sphäre, zum Beispiel die Position des Marx-Engels-Denkmals in Berlin, die Bedeutung des Tian’anmen-Platzes im Zentrum von Peking oder insbesondere auch das Wechselbad von Devotion und Revolution im Laufe der Geschichte und so weiter, zeigt zugleich, dass die Grenzen zwischen dieser Realität und dem privaten Raum längst verworren, nicht länger aufrechtzuerhalten sind. Wo es „um Macht und Freiheit, um Schwermut und Betörung“ geht (Stichworte aus Chris Markers Essayfilm Sans Soleil, die schon am Beginn, in einem dem Roman vorangestellten Motto, auftauchen), dort tritt sehr schnell die „Tyrannei der Intimität“ auf den Plan, eine Tyrannei, die darin besteht, dass „sich in den Köpfen der Menschen ein einziges Wahrheitskriterium als glaubwürdig festsetzt, mit dem die gesamte soziale Wirklichkeit in ihrer Komplexität beurteilt wird“ (Richard Sennett). Der Roman, ein Erkenntnisinstrument ersten Ranges, untergräbt jede derartige Tyrannei.

Sogar geradezu massiv – auch, weil Rudolf, ein Anwalt der Phänomenologie, wiederholt über die so genannte Edmond’sche Schule berichtet, und zwar vielfach im Präteritum, als wäre ihm in diesem Fall doch „eine milde Aufhellung der Dunkelheit“ das allererste Anliegen; Edmund Husserl und Edith Stein sind als Bezugsgrößen seiner Ausführungen über die Geschichte der Philosophie in Göttingen seit 1901 leicht wiederzuerkennen. Nicht anders verhält es sich mit dem sozialistischen Parteiführer, der in diesem Roman Hunzigger genannt wird: Der Genosse Generalsekretär, der jahrzehntelang sein Land beherrscht, ehe er am Ende, wie manche seiner Amtskollegen in Russland oder in Rumänien auch, im „Zustand der animierten Ausstopfung“, völlig realitätsblind, kurz nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag seines Staates, von seiner Entourage zum Rücktritt gezwungen wird, ist ebenfalls so gezeichnet, dass es über sein Vorbild keine Diskussion gibt. Wo Polyperspektivität nur neues Dunkel produzieren könnte, dort vertraut der Roman gestochen-scharfen Bildern, todernst und doch nie ohne Witz. Bei aller Weite und Vielfalt seines Interpretationsspielraums sträubt er sich vehement gegen jede Auslegung, die ihm ganz gegen den Strich ginge.

So werden auch die Vorbereitungen zu einer Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Tour-de-force im Deutschen Pavillon von Milena zu einem ebenso persönlichen wie kritischen Rückblick auf die deutsche Geschichte vom Dreikaiserjahr bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges genutzt; was sollte, was müsste alles Platz finden in einem Warroom, der weder beschönigen noch verzerren dürfte, was adäquat darzustellen und aufzuweisen wäre? Kein Wunder, dass Milena hin und wieder überfordert ist und unterzugehen droht, „in einer Welle aus Schmerz oder Lust oder Kunst“. Auch der Roman, der so viel auf die Reihe bringen will, ist, scheint’s,  überfordert, stehen ihm doch offenbar fürs erste gerade einmal 640 Seiten zur Verfügung. Aber er schließt, tröstlich, mit einer viel versprechenden Vorschau: „Wird fortgesetzt.“

Titelbild

Thomas Lehr: Schlafende Sonne. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
640 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256477

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