Das Lange in aller Kürze

Der Autor Matthias Zschokke und der Graphic Novelist Nicolas Mahler setzen sich mit Marcel Prousts Opus magnum auseinander

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Runde muss ins Eckige. Das funktioniert, wie wir es vom Fußball her kennen. Doch kann es gelingen, das Lange ins Kurze zu packen? Der Autor Matthias Zschokke und der Graphic Novelist Nicolas Mahler haben sich auf je eigene Weise mit den über 5000 Seiten von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu auseinandergesetzt – oder abgemüht, je nach Sichtweise.

Ein derart umfangreiches Werk stellt gewisse Anforderungen an die Geduld der Leserinnen und Leser, zumal es nicht eben durch eine spannungsgeladene Handlung glänzt. Es sind andere Qualitäten, die Prousts opulente Roman-Folge ausmachen und dazu einladen, in den Sog seiner Beschreibungen und Erinnerungsbilder einzutauchen. Ortega y Gasset zählte Proust zu den größten „Erfindern“, und Stefan Zweig hielt die „Recherche“ für das „einzigartigste epische Werk unserer Zeit“.

Das alles bedeutet aber nicht, dass die Proust-Lektüre nebst dem Beglückenden nicht etwas Beschwerliches an sich haben kann. So gut wie der Autor empfinden auch die Leser jene „Dialektik des Glücks“, die Benjamin in seinem Essay Zum Bilde Prousts beschrieben hat: „Eine hymnische und eine elegische Glücksgestalt. Die eine: das Unerhörte, das Niedagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Die andere: das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks.“

So gesehen ist es nur zu verständlich, dass Matthias Zschokke über Marcel Prousts Chef d‘oeuvre ins Grübeln gerät, zumal er sich über Jahre hinweg elegant um dessen Lektüre herumgedrückt hat. Doch Schluss damit, hat er sich gesagt. Nun wollte er es genauer wissen. Er gelobte sich, einen Sommer lang mit dessen Suche nach der verlorenen Zeit zu verbringen. Parallel dazu hat er Briefe und Mails an Freunde geschrieben, die er um Tipps angeht oder denen er seine Leseeindrücke mitteilt. Diese Mitteilungen hat er nun – ohne die Antworten darauf – in dem Bändchen Ein Sommer mit Proust veröffentlicht.

Es zeichnet sich schnell ab, dass das Vorhaben für Zschokke nicht nur ein gewaltiges Stück Arbeit, sondern auch ein emotionales Auf und Ab bedeutet. Die skeptische Stimmung zu Beginn weicht allmählich einer steigenden Sympathie für die stilistische Perfektion und grandiose Detailgenauigkeit. Zschokke bleibt interessiert und wachsam. Ein befreundeter Proust-Spezialist – Luzius Keller, wie aus einer Nachbemerkung hervorgeht – vermag ihm Finessen zu vermitteln, die ihn überzeugen. Dennoch wächst mit Fortdauer der Lektüre auch eine Wut über das „absatzlose Endlosgelaber“.

Es mag dahin gestellt sein, ob Matthias Zschokke das Werk von Marcel Proust gebührend wertzuschätzen weiß. Sein Urteil nimmt immer unverblümter polemische Züge an. Spannend daran bleibt aber, dass viele seiner Einwände durchaus interessant sind. Ihm widerstrebt beispielsweise Prousts „blinder Glaube an die alteingesessenen Hierarchien“. Speziell ärgert ihn, „dass auch wir Leser von dieser Sucht angesteckt werden“ und im Sog der Lektüre unhinterfragt dem „Who-is-who der damaligen Hautevolee“ huldigen. Dieser Ärger mindert schließlich auch die unverhohlene Bewunderung für den blendenden Stilisten. Noch stärker reibt sich Zschokke an der unendlichen Selbstverliebtheit des „Empfindungslegasthenikers“ Proust, die zum „Wahnsinnig-Werden“ sei. Positiv vermerkt er lediglich, dass diese Lektüre hilft, „allergisch zu werden gegen die vielen kleinen Prousts, die einem im täglichen Leben begegnen“.

Matthias Zschokke hat sich offenkundig schwer getan mit seinem Vorhaben. Daran lässt seine mit Witz gepfefferte Auseinandersetzung keinen Zweifel. Ob man mit ihm einig sein will, bleibt Ansichtssache. Wer indes selbst seine Zweifel gegenüber jedweder kanonischer Lektürepflicht hegt, darf sich durch ihn bestätigt fühlen. Matthias Zschokke freilich kann nun mitreden, er tut es mit entwaffnender Offenheit und stellenweise mit einer Boshaftigkeit, die ihn hinterrücks wieder mit Proust versöhnen müsste, wenn letzterer in Gestalt von Madame Bontemps bekennt, „dass mich nichts so amüsiert wie diese kleinen Bosheiten, ohne die ich das Leben einfach öde fände.“

Unweit von dieser Stelle, die den Ich-Erzähler im Beisein von Madame Swann im Gespräch zeigt, findet sich ein Zitat, das eine ganz anders geartete Auseinandersetzung mit Proust auf den Weg gebracht hat. Im zweiten Band der Recherche, Im Schatten junger Mädchenblüte, heißt es einmal: „Manchmal setzte sich Madame Swann, bevor sie sich umzog, ans Klavier“, um das musikalische Leitmotiv des Romans zu intonieren: die Sonate von Vinteuil.

Diese an sich unscheinbare Szene setzt der Comic-Zeichner Nicolas Mahler ins Zentrum seiner gezeichneten Kurzversion von Prousts Opus magnum. Die Recherche als Graphic Novel? Das mag mit Recht erstaunen. Im Grunde genommen ist es ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, der Zeichner fände dazu Tricks und Wege, und er entdeckte für sich den Kern des Wesentlichen. Schon mit der Graphic Novel zu Musils Mann ohne Eigenschaften hat Nicolas Mahler eindrücklich bewiesen, dass ihm derlei mit stupender Kaltschnäuzigkeit gelingen kann.

Das Wichtigste vorab: Der Text, den er aus dem Proustschen Opus heraus destilliert, hat auf ein bis zwei A4-Seiten Platz. Prousts ausuferndem Ausmalen hält er die radikale Reduktion entgegen. Dabei verrät Nicolas Mahler das Original keineswegs, ja er hebt auf kongeniale Weise den Nukleus der Recherche auf: die Erinnerung, die dem Erleben erst nachträglich seine Süße verleiht.

Analog zu den sieben Bänden setzt der Zeichner sieben Mal mit der erwähnten Szene mit Madame Swann zu einem Erinnerungsversuch an. Zuerst vergeht die Erinnerung gleich wieder, allmählich aber lässt sich aus der verschlungenen Partitur die Vergangenheit heraushören – in der Gestalt Odettes, dann Gilbertes und Albertines. Das Andenken an die Liebschaften rührt die Melancholie an, die die Erinnerung trägt und die Madame Swann mit ihrem Spiel hervorlockt. War Musils Mann ohne Eigenschaften grün grundiert, so hat Nicolas Mahler für die Suche nach der verlorenen Zeit einen melancholisch violetten Grundton für seine Bilder gefunden. Der Strich und die Figurenzeichnung verraten unweigerlich seine Handschrift: speziell die langen Nasen und die wuchtigen Frisuren der Frauen.

Mahler variiert ausgezeichnet zwischen reinem Strich und violetter Ausmalung, leerer Bildfläche und parallelen Aktionen im selben Tableau. Er bringt so die Opulenz seines Stoffes ebenso zur Geltung wie die Einsamkeit, die die Figuren umgibt. Es weht eine leise Trauer durch diesen Band, der dem Proustschen Werk wunderbar gerecht wird. Zugleich lassen die reduzierten Zeichnungen einen Witz durchschimmern, der jenem ebenfalls innewohnt. Proust war zumindest untergründig auch ein großer Humorist. Nicolas Mahler erweist der opulenten, schillernden Suche nach der verlorenen Zeit auf hinreißend schlichte und höchst eigenwillige Weise seine Reverenz. Dass die Graphic Novel die Lektüre der sieben Bände ersetzen würde, lässt sich gewiss nicht behaupten. Sie trifft aber präzise deren Kern. Möglicherweise würde Matthias Zschokke mit Nicolas Mahler seine Freude an Marcel Proust wiederfinden.

Titelbild

Nicolas Mahler: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Nach Marcel Proust. Graphic Novel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
174 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518468081

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Titelbild

Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
64 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783835331310

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