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Jussi Valtonen und sein Roman „Zwei Kontinente“

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 28-jährige Neurowissenschaftler Joseph Chayefski hat in Harvard promoviert und baut die zwei Jahre jüngere finnische Absolventin Alina auf einer Konferenz in Italien mit seinem überschwänglichen amerikanischen Selbstvertrauen so beeindruckend auf, dass sie ihn nach dem Diner auf einen Drink in ihr Hotelzimmer bittet. Dem One-Night-Stand folgt ein intimes verlängertes Wochenende, als Joe eine Konferenz in London besucht. Wie selbstverständlich erscheint es Alina, dass der warmherzige Amerikaner bald in Finnland aus dem Flugzeug steigt – allein ihretwegen. Und in den romantisch-sinnlichen Winternächten entsteht der gemeinsame Sohn Samuel. Joe fliegt zurück in die Staaten, beendet seine dortige Beziehung und kehrt nach Finnland zurück. Der Anfangseuphorie als Vater und ausländischer Wissenschaftler folgt der Kulturschock und Alina quält bald zu Hause mit dem Baby die Eifersucht. Das finnisch-amerikanisch-jüdische Familienglück zerbricht so schnell wie es entstanden war.

20 Jahre später ist Joe Professor in Baltimore, verheiratet und hat zwei Töchter im Teenageralter. Das Einzige, was an Finnland erinnert, ist das Au-pair-Mädchen Saara. Zu Alina, die mittlerweile ebenfalls geheiratet und zwei weitere Söhne hat, und Samuel ist fast jeder Kontakt abgebrochen. Beruflich ist er sehr erfolgreich, hat den Staatspreis für Wissenschaft verliehen bekommen, weil er entwicklungsstörungsbedingte Sehbehinderungen und damit auch Erblindungen behandelbar machte. Er schlägt sich im Dienste der Wissenschaft mit einem Medienkonzern herum, der mit Macht und unsauberen Methoden alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen an sich ziehen und kommerziell ausnutzen will. Zudem gibt es Vorkommnisse, die anfangs nur den Arbeitsplatz, später immer mehr auch sein Familienleben auf zunehmend makabre, ja lebensbedrohliche Art und Weise bestimmen: Der renommierte Wissenschaftler hat durch seine Tierversuche die Aufmerksamkeit von Umweltaktivisten auf sich gezogen. Ein Einbruch, Drohbriefe, Schlachtabfälle im Vorgarten, Shitstorms und eine Paketbombe – „Ökoterroristen“ greifen ihn wegen seiner Experimente bald nicht mehr nur im Institut an.

Jussi Valtonen behandelt auf fast 600 Seiten gleich mehrere aktuelle Problembereiche. Der Kulturunterschied zwischen Joseph und Alina spannt sich über zwei Kontinente, aber nicht über den gesamten Roman. Es ist den gemeinsamen Jahren in Finnland vorbehalten, wie Joe mit amerikanischer Arroganz den Finnen seine Welt erklärt, dem Land einen „Hauch von Ostblock“ attestiert und Alina sich, unter dem finnischen Minderwertigkeitskomplex leidend, ihr Leben unglücklich denkt. Die Partnerin ist für den amerikanischen Wissenschaftler stets ein „untergeordneter Faktor“, er definiert sich allein über seinen beruflichen Erfolg. Alina verwirklicht ihre anderen Zukunftspläne, während Joes neue Partnerin dessen Lebensphilosophie teilt. Valtonen gibt durch seinen Protagonisten tiefe Einblicke in den akademischen Alltag und lässt ihn Vergleiche aus der amerikanischen Perspektive ziehen.

In seinem zweiten Leben, zu Hause in Baltimore, sieht sich der Professor neben seiner Forschungstätigkeit als Vater mit den aktuellsten Gesellschaftsproblemen konfrontiert. Die pubertierenden Töchter stehen ganz im Bann des Internets und der neuesten Technologien. Während sich der Vater um die 11-Jährige sorgt, die sich nackt im Netz zeigt, nimmt die 15-Jährige nicht zugelassene Psychopharmaka, die angeblich den für soziale Interaktion zuständigen Hirnbereich stimulieren, und vermarktet sie in den sozialen Netzwerken. Er schafft es in dieser von Suchmaschinen regierten Welt nicht, die Tochter vor der Produktbombardierung und den indirekten Marketingmethoden zu schützen. Schließlich testet er heimlich selbst den „iAm“ seiner Tochter Rebecca, ein Gerät, das die Hirnströme misst und so die Gedanken des Nutzers direkt umsetzt. Man sieht an Stelle der normalen visuellen Wahrnehmung mitten im normalen Alltag Filme, bekommt Informationen, hört Musik, die perfekt auf den Nutzer zugeschnitten sind. Natürlich werden diese hochsensiblen, persönlichen Gedanken, Entscheidungen, Geschmäcker und Vorlieben irgendwo gespeichert und sind durch den NFP („neural fingerprint“) nicht nur bei Benutzerdatenmissbrauch zuzuordnen. Zwar landet Joe nicht wie Becca im „digitalen Koma“, verspürt aber bald Entzugserscheinungen. Zu all den Problemen teilt Alina Joe mit, dass Samuel, der seinen leiblichen Vater nie bewusst erleben konnte, sich in den Vereinigten Staaten aufhält und Kontakte im Darknet geknüpft hat.   

Valtonens moderner Familienroman behandelt außerdem Themen wie „Alternative Fakten“ und die „Lügenpresse“, die Sucht nach grenzenlosem Wachstum und den ökologischen Kollaps der Erde als dessen Folge – und (fast) alle Gefahren, die Internet, moderne Technologien und soziale Medien mit sich bringen. Nicht nur Joe fragt sich, wer mittlerweile überhaupt noch analog etwas drauf hat.

So gekonnt formuliert und fachlich versiert das alles in den Text eingebracht ist, erscheint er bisweilen übertrieben überladen. Valtonen, der für den 2014 in Finnland meistverkauften Roman im gleichen Jahr den renommierten Finlandia-Preis verliehen bekam, entwickelt den Text „von einer schlechten Tragikomödie zum Thriller“. Das Ende entschädigt mit seiner überraschenden Wendung für einige überflüssige Seiten zuvor. Der Originaltitel Hei eivät tiedä mitä tekevät (dt.: Sie wissen nicht was sie tun) erscheint einmal mehr aussagekräftiger, als der Titel der deutschen Ausgabe, zumal es in Valtonens Erzähluniversum eher um zwei (Denk-)Welten, als um zwei Kontinente geht.

Titelbild

Jussi Valtonen: Zwei Kontinente. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Elina Kritzokat.
Piper Verlag, München 2017.
576 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057318

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