Miniatur-Prosa unter der Lupe: Ganz groß!

Zu Rainer Strobelts Prosadebüt „Strittig“

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Strobelt als Anglisten und Slawisten vorzustellen, ist nicht falsch, doch lenkt es von dem ab, was er in den mehr als 35 Jahren seit seinen ersten Gedichten im Luxemburger Wort geworden ist: ein (be-)merkenswerter Lyriker deutscher Sprache, dessen Name bereits in Gesellschaft von Kurt Schwitters, Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz genannt wird. Auch eine Vorstellung seines neusten Werks im Kreise dieser drei Herren wäre denkbar, doch Vergleiche lenken zu oft vom Charakteristischen ab – und das typisch „Strobeltsche“ verdient ungeteilte Aufmerksamkeit.

Mit Strittig. Seine literaturnahen Vollkostbrösel ist das zehnte Strobeltsche Buch erschienen; oder besser: Büchlein – denn es umfasst nur wenig mehr als 90 Seiten.  Diese  wurden erneut vom Peter-Segler-Verlag publiziert mit dem der Autor seit 2000 zusammenarbeitet. Mit Strittig folgt nach neun Gedichtbänden erstmals ein Prosaband. Doch das Wort „Prosa“ klingt viel zu schwer für die 65 im Buch versammelten, heiteren und meist minimalistischen Texte. Diese bestehen mehrheitlich aus ein bis zwei Sätzen und können somit per definitionem nicht mal alle als „Texte“ bezeichnet werden. Als „Strittlinge“ kündigt sie der Autor an und umgeht dadurch einerseits müßige Kategorisierungsversuche der Rezensenten, denn ein strobeltscher „Strittling“ orientiert sich nicht an literarischen Genres, sondern eher an seinen Vorbildern aus der Botanik. Ein „Strittling“ scheint eine mit literarischen Genen ausgestattete Nebenart von „Keimling“, „Sämling“ und „Sprössling“ zu sein. Gemein ist den drei letztgenannten, dass es sich um zarte, kleine Gewächse handelt, die oftmals Pionierarbeit leisten und sich ihren Weg durch Beton und Asphalt bahnen. In dieser „Familientradition“ – nur eben auf literarischem Boden – scheint sich der „Strittling“ seinen Platz zu suchen.

Einige Grashalme brechen hervor:
Betonbanausen? Richtungsweiser!
Hin, Strittig: Blick durch!

„Blick durch!“ Das scheint der für die Lektüre entscheidende Imperativ zu sein: Den Durchblick zu erhalten, nicht den vermeintlichen Überblick zu bewahren – und dies bedarf eines Perspektivwechsels. Nur aus unmittelbarer Nähe und auf dem Boden liegend, kann man durch Grashalme blicken, so dass oft Übersehenes oder gar Zertretenes auf einmal das Fenster zu einer bisher nie eingenommenen Perspektive auf die Welt wird. Die neue Perspektive ist Voraussetzung für den Durchblick – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Auch an Strobelts Worte muss so nah wie möglich rangerückt werden, nur so kann man durch die Doppeldeutigkeiten der Sprache dringen und ihre Widersprüche aufdecken, die in raffinierten Formulierungen zugleich amüsieren und verwirren, wenn Semantik und Grammatik über die Deutungshoheit streiten.

Jemand ruft im Weggehen: Ich komme um…
Endlos beleidigt, besteht Strittig auch diesmal
auf einem vollen Satz.

So wichtig der Blick für das Detail ist, so darf das Offensichtliche nicht übersehen werden: Der Titel „Strittig“. Dass alles in diesem Büchlein Geschriebene aufmerksame Leser und Leserinnen braucht, ist schnell unstrittig, dass ihre Wertungen und Interpretationen sehr variieren können, ebenso. Doch neben dem titelgebenden und leitmotivisch fungierenden Adjektiv ist „Strittig“ eine Kunstfigur, die durch das Büchlein führt und in jedem der 65 „Strittlinge“ erscheint. Erinnerungen an Herrn Keuner werden wach, der uns als Alter Ego Bertolt Brechts in über 100 Lehrstücken seines Autors begegnet. Doch mit der Instanz der vermittelnden Kunstfigur erschöpfen sich beinahe die Parallelen. Die weit auseinanderliegenden Grundeinstellungen und Intentionen der Kunstfiguren können – etwas zugespitzt – mit „Denkfigur“ (Keuner) und „Spielfigur“ (Strittig) unterschieden werden: Herr Keuner, der rational und kühl Denkende, spricht stets aus, was Brecht aus seiner ideologisch-thematischen Sicht auf die Welt einen Fingerzeig (und oft eine Belehrung) wert erscheint. Herr Strittig möchte nicht belehren, vielmehr möchte er spielen. Ganz spielerisch ist sein Umgang mit der Alltagssprache, mit Alltagsbeobachtungen, mit tatsächlichen und scheinbaren Widersprüchen und ganz nebenbei lehrt er den Lesenden die Spielregeln. Die lassen sich leicht merken, denn es gibt nur zwei: Hinsehen und nachdenken. Wer denkt, durchschaut das Spiel und blickt nicht selten in philosophische Tiefen. Denken zeigt sich einmal mehr als sinnlicher Genuss – da würde vermutlich auch Herr Keuner zustimmen.

Den Blick abwendend, sieht Strittig zentraler.

Auf den Genuss der Miniatur-Prosa deuten bescheiden-selbstbewusst die „literaturnahen Vollkostbrösel“ hin, wie es im Untertitel heißt. Doch während Brösel von einem Brot oder Kuchen abgebröckelt sind und der Zufall ihnen Form und Größe gab, steht dem Zufall bei Strobelts Zeilen kein Verdienst zu. Syntax, Wortwahl,  Verb- und Kasusgebrauch sind anzumerken, dass hier streng komponiert wurde. Auf die Anstrengung der Komposition weist jedoch nur noch die Leichtigkeit des Lesens hin.

Insgesamt umfasst das Büchlein 65 „Strittlinge“, die in drei gleichgroßen Gruppen gebündelt sind. Die Dreiteilung erscheint typisch für Strobelt, bereits in den Gedichtbänden ist diese zu finden. Die beiden Zäsuren zwischen den „Strittlingsbündeln“ tragen die Zwischentitel „Rainer Strobelt“ und „Pia“. Soll mit ihnen versucht werden, Strittig mehr Kontur zu geben, der sonst – wie schon Herr Keuner – ein Mann ohne Gesicht und Geschichte bleibt?

Die neuen Konturen Strittigs ergeben sich durch eine Positionierung innerhalb seiner „Familie“. Zunächst in einer Verwandtschaft und Distanz ausdrückenden, kurzen Hinwendung zu seinem Schöpfer Rainer Strobelt, anschließend in Form einer kurzen Präsentation der Familie Strittigs, die mit dem Namen „Pia“ überschrieben ist – wie sich herausstellt, Strittigs Ehefrau. Die sich abzeichnenden Konturen lassen jedoch keine Individualität erkennen, im Gegenteil: Mit zwei schulpflichtigen Kindern, dem morgendlichen Brötchenholen, der seit vielen Jahren funktionierenden Ehe und dem kleinen Garten entsteht das Bild einer gut bürgerlichen Familie wie sie in jeder Doppelhaushälfte vermutet werden kann.

Erneut wird der Leser an Brechts Keuner-Geschichten erinnert. Herr Keuner wohnte zwar nicht in einer Doppelhaushälfte, doch auch ihm wurden von seinem Autor Freunde und sogar Familie zugeschrieben, er war mal Gastgeber und mal Eingeladener, gewann jedoch ebenso wenig an Individualität wie Herr Strittig. Doch damals wie heute geht es um etwas Wichtigeres: Erweiterte Handlungsspielräume für die Kunstfiguren. Ein zweifacher Familienvater und Ehemann Strittig hat schlicht mehr Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungsmöglichkeiten als ein Junggeselle – die des Junggesellen hat er aus seiner Vergangenheit naturgemäß inklusive. Da die bisherigen „Strittlinge“ keinen Familienmenschen voraussetzen, schürt es die Hoffnung, dass vielleicht weitere Geschichten des Herrn S. folgen werden. Dann wären diese ersten 65 „Strittlinge“ auch in diesem Sinne zu Richtungsweisern geworden. Nicht nur Herrn Keuner würde es wohl gefallen.

Titelbild

Rainer Strobelt: Strittig. Seine literaturnahen Vollkostbrösel.
Peter Segler Verlag, Freiberg 2016.
92 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783931445263

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