Franz Biberkopf und das Totenfeld

Döblin greift mit der epischen Dichtung „Manas“ zurück auf eine Zeit weit vor seiner eigenen konfliktreichen Gegenwart

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1929 erscheint der Roman Berlin Alexanderplatz und wird rasch zu einem großen Erfolg. Es ist auf den ersten Blick kaum ersichtlich, was diesen Klassiker der Moderne mit dem zwei Jahre zuvor von Alfred Döblin veröffentlichten Versepos Manas, das aus den Tiefen der indischen Mythologie schöpft, verbindet. Und doch ist das sperrige Epos unmittelbar vor dem Jahrhundertwerk über einen Berliner namens Franz Biberkopf entstanden. Die Geschichte vom Fürstensohn Manas, dem Unbesiegbaren, der den Schmerz sucht auf dem Totenfeld, dort stirbt, von seiner Frau Sawitri gefunden und wiedergeboren wird, wurde erstmals 1927 von Samuel Fischer veröffentlicht. Was hält beide zusammen?

In Berlin Alexanderplatz vibriert die Weimarer Republik auf jeder Seite, die Großstadt der Moderne bahnt sich in Form und Stil den Weg. Dennoch bestätigt Döblin die keineswegs nur chronologische Linie, die zur epischen Dichtung zurückführt: Die Geschichte von Biberkopf sei „Manas auf berlinisch“ gewesen, wie der Autor 1955 schreibt. David Midgley zitiert die Aussage in seinem klugen Nachwort zur Neuausgabe in der Fischer-Klassik-Reihe, das mit der uns Leser umtreibenden Frage einsetzt, was das Versepos mit dem modernen Roman nun jenseits des zeitlichen Entstehungskontextes eigentlich verbindet.

Der Germanist erinnert zunächst daran, dass die altindische Literatur und Philosophie schon im 19. Jahrhundert eine starke Faszination auf deutsche Autoren ausgeübt habe, darunter Goethe, Schiller, Herder und Friedrich Schlegel. Auch Schopenhauer und Nietzsche zollten der indischen Weisheit ihre Anerkennung, noch bevor ein Autor wie Hermann Hesse den Fundus indischer Mythen popularisierte. Doch, so argumentiert Midgley, Döblin gehe in seiner Rezeption ungleich radikaler vor: „Was er uns in Manas anbietet, ist keine Nachdichtung [….]. Er hat vielmehr ein eigenes Epos geschaffen.“

Ähnlich dem Verfahren, das er später für die Amazonas-Trilogie einsetzt, evoziert er nicht nur altindische Motive und Orte, sondern liest sich vorbereitend in einschlägige wissenschaftliche Literatur ein. Darüber hinaus verschmilzt er die altindische Motivik – die seine Kenntnis und Aneignung des Mahabarharata belegt – aber auch mit moderner europäischer Kultur, sodass das Werk zugleich als ein „Epos der Moderne“ dastehe. So bleibt er den altindischen Erzählungen und deren Bedeutung im Hinduismus nicht treu, sondern integriert sie dichterischen Prinzipien folgend in sein Werk, wie gerade an der für das Epos zentralen Darstellung des Totenfeldes deutlich wird, ein zuweilen an Dantes Inferno erinnernder Raum für verstorbene Menschenseelen, das der erfolgreiche Krieger Manas auf eigenen Wunsch betreten darf, um das Leiden der Menschen kennenzulernen. Dieses Totenfeld hat aber – so Midgley – in der indischen Mythologie kein Äquivalent.

Was Döblin an der Mythologie Indiens interessiert hat, war das Verhältnis zwischen Leben und Tod sowie Mensch und Natur, die er in eine Bildersprache fasst, „in der sich eine psychische Wandlung, ein Heldenmythos und die Andeutung einer metaphysischen Weltsicht zugleich artikulieren.“ Besonders aufschlussreich ist der Abgleich von „Manas“ (der als Figur in dieser Form ebenfalls keine Entsprechung in der indischen Mythologie hat) mit Döblins Rede „Der Bau des epischen Werks“ (1928), wie Midgley ihn vornimmt: „hinter Homer zurückgehen“, heißt es dort, dann komme man tatsächlich zeitlich zu den indischen Epen und „zu einer elementareren Vermittlung von menschlichen Erfahrungen“. Dazu passt, dass Döblin in seiner Rede davon ausgeht, dass alle epische Darstellung gegenwärtig sei und als gegenwärtig erlebt werde. Vielleicht lässt sich hinzufügen: als zeitlos erlebt werde. Denn der Gang des Fürstensohnes auf das Totenfeld und die durch seine Frau Sawitri ermöglichte Rückkehr bezeichnen auch eine große Erzählung über die Überwindung des Todes und die Kraft der Liebe.

Was uns an „Manas“ heute äußerst fremd und anachronistisch erscheinen mag, stieß in den bewegten 1920er Jahren durchaus auf positive Aufnahme: Robert Musil feiert „Manas“ in einer Besprechung enthusiastisch als „eine Art Urvers“. Unter den Zeitgenossen rief das Epos zudem noch andere, vertrautere Konnotationen auf – der Anklang an die Situation des Heimkehrers aus dem Weltkrieg etwa, in der Rückkehr des Kämpfers vom Totenfeld.

Von diesem Werk an, so schrieb Döblin in seinem autobiographischen Epilog (1948), seien die Bücher zu datieren, „welche sich drehen um den Menschen und die Art seiner Existenz“. Und so erscheint dann auch Berlin Alexanderplatz als ein Werk, das an Manas anschließt: Letzteres ende mit der Selbstverwirklichung eines Menschen, ersteres gehe mit der Frage nach dem Menschen in der Gesellschaft einen Schritt weiter.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Alfred Döblin: Manas. Epische Dichtung.
Mit einem Nachwort von David Midgley.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
448 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596904792

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