Welterklärung ante partum

Karl Ove Knausgård schreibt in „Im Herbst“ Briefe an eine ungeborene Tochter

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Ove Knausgård schreibt nicht bloß ein Buch, sondern direkt eine ganze Reihe von Büchern. Bekannt wurde der aus Norwegen stammende Schriftsteller durch seine umfassende Autobiografie in Romanform, die im Original den Titel Min Kamp trägt. Auf Deutsch sind die sechs Bände unter wenig bescheidenen Titeln wie Sterben, Lieben und zuletzt Kämpfen erschienen. Jeder Band umfasst einige hundert Seiten, sodass man sich ausrechnen kann, wie viel Lesezeit man mit Knausgård schon verbracht hat, wenn man tatsächlich alle sechs Bände gelesen hat. Das lässt sich ohnehin nur durchstehen, wenn man dem Sog aus Alltagsbeschreibungen, Gedanken über Literatur und Kunst voll und ganz erlegen ist, denn erschöpfend erklären lässt sich die ihnen eigene Faszination nicht. Möglicherweise spielen der Reiz des Seriellen und der ganz gewöhnliche Voyeurismus des Lesers dabei eine Rolle – aber nicht ausschließlich, denn Knausgård ist großartig darin, sich selbst nachzuspüren, die eigenen Motive zu hinterfragen und nicht nur – wie oft behauptet – schockierend offen über Privates zu schreiben, sondern auch über so gar nicht schockierend Banales. Besonders gelungen sind die Schilderungen von Situationen, in denen er Dinge und Menschen zum ersten Mal erlebt: Als jugendlicher Hilfslehrer, als sich ewig suchender Schriftsteller in spe, oder aber als Liebender und Vater. Dabei trifft er Situationen so häufig im Kern, dass man an anderer Stelle auch Längen und Ausschweifungen verzeiht.

Doch was einst wunderbar funktionierte, muss nicht ewig gut gehen. Der Beweis dafür ist Im Herbst. Das Buch ist der Auftakt zu einer vierbändigen Jahreszeiten-Reihe und enthält sehr ansprechende Illustrationen von Vanessa Baird. Die versammelten Essays oder Prosaminiaturen beginnen im September, enden im November und werden zusammengehalten von drei Briefen an eine ungeborene Tochter. Die Themen, mit denen Knausgård sich beschäftigt, sind vielseitig und reichen von Wespen über Blut, Gummistiefeln und Vincent van Gogh bis hin zu einer kleinen Phänomenologie der Thermosflasche. Das ist manchmal durchaus originell, häufig verknüpft mit biografischen Eindrücken oder Erinnerungen, meist verbunden mit Reflektionen über das Schreiben, während doch das eigentlich Interessante ungesagt bleibt: Denn Knausgård kann noch so viel entdecken, stilisieren und sezieren, den eigentlichen Schauplatz kann er nur umkreisen, denn der liegt verborgen, im Bauch seiner Frau. Die ungeborene Tochter ist die Adressatin und eigentliche Protagonistin von Knausgårds Welterklärung ante partum, die letztlich ein Plaudern ist, um der Sprachlosigkeit gegenüber dem, was dort im Geheimen stattfindet, etwas entgegenzusetzen.

Ein werdender Vater, der die Welt für seine Tochter betrachtet und von seinen Eindrücken erzählt, ist eine schöne Idee. Doch Knausgård sieht beinah unentwegt nur „Knausgård“ und irgendwann ist auch das nicht mehr genug.

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Im Herbst.
Mit Bildern von Vanessa Baird.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
286 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875149

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