Familie entsteht nicht von selbst

„Was alles war“: Annette Mingels’ präziser Blick auf das, was das Leben lebenswert macht

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was macht eine Familie aus? Sind es die Gene? Die Blutsverwandtschaft Eltern/Kind? Ist es die Liebe, das Sich-gegenseitig-Akzeptieren? Und wie lässt sich das lernen, eine Familie zu sein? Annette Mingels geht in ihrem fünften Roman Was alles war solchen Fragen nach, sprachlich präzise, genau beobachtend, liebevoll ihre Protagonistinnen und Protagonisten begleitend und schützend, auch wenn sie abstürzen.

Susa, die Ich-Erzählerin, hat bereits im Kindesalter erfahren, dass sie ein Adoptivkind ist, und es hat sie nie gestört. Sie hätte sich keine besseren Eltern wünschen können; mit ihrer Schwester Maike, ebenfalls adoptiert, fühlt sie sich tief verbunden. In ihrem Leben gibt es nur eine, die sie Mama, einen, den sie Papa nennt. Alles läuft rund, bis Susa einen Brief bekommt von ihrer Mutter Viola, die ihr erzählt, dass sie sie schon Wochen vor der Geburt freigegeben habe, sich nun aber, nach all den Jahren, eine Begegnung wünsche. Die beiden erwachsenen Frauen treffen sich. Viola erzählt und erzählt, von ihren Reisen, ihren Männerbekanntschaften, ihrem Freiheitsdrang, ihrer Suche. Sie hat keine Probleme damit, Susa – eines der vier Kinder, die sie geboren hat – als ihre Tochter zu sehen. Auf einen Schlag sind da nun drei Halbgeschwister, nur Samuel habe bei seiner Mutter gelebt. Viola wusste immer, dass sie sich nicht binden wollte, weder an einen Mann noch an einen Ort noch an ein Kind: „Ich wollte immer frei sein, ungebunden, wollte reisen. Und mit einem Kind – oder mehreren – ging das nicht.“ Bei diesem Treffen, wie auch bei den späteren, hört Susa vor allem zu, von sich erzählt sie kaum etwas. Nicht, dass sie als Meeresbiologin arbeitet, auch nicht, dass sie erst kürzlich dem Witwer Henryk begegnet ist – einem Germanisten, spezialisiert auf Minnedichtung und alleinerziehender Vater von zwei Töchtern – und sich heftig verliebt hat. Susa hat die große Gabe, sich auf alles, was ihr begegnet, einzulassen, in diesem Punkt ähnelt sie ihrer Mutter, beide sind sie neugierig auf das Leben.

Praktisch gleichzeitig zwei neue Familien zu bekommen, ist aber auch für Susa ein bisschen viel. Da ist zum einen Viola und ihre beiden Halbbrüder Cosmo und Samuel, da ist Henryk und Paula und Rena, da sind aber auch noch ein leiblicher Vater von Susa, den kennenzulernen sie zunehmend interessiert, und eine verstorbene Mutter von Paula und Rena beziehungsweise eine Ehefrau von Henryk. Doch damit nicht genug: Susa und Henryk bekommen bald ein gemeinsames Kind: Leve. Und Susas Adoptivvater erkrankt an Speiseröhrenkrebs.

Wie nun Annette Mingels in ihrem Roman diese verschiedenen Familienstränge miteinander verbindet, ist faszinierend und bestechend zugleich. Es überzeugt, wie Annette Mingels gekonnt starke Emotionen in Sprache einfängt, ohne je in Kitsch abzurutschen. Atemlos folgen wir der Ich-Erzählerin, wie sie konsequent ihren Weg geht. Traurig erleben wir die Krankheit und das Sterben des Adoptivvaters, gespannt begleiten wir sie zu den Treffen mit Cosmo, dem Halbbruder, mit dem sie bald schon eine tiefe Vertrautheit – vielleicht auch mehr – verbindet. Und bestürzt erleben wir, dass unaufhaltsam die Beziehung von Susa und Henryk in Schieflage gerät, denn bei so viel privaten Turbulenzen ist etwas völlig ins Hintertreffen geraten, das sie zu Beginn ihrer Beziehung stark verbunden hat: das Interesse an der Arbeit, der eigenen und jener der/des anderen, und die Weiterentwicklung im jeweiligen Berufsumfeld. Ob ihnen eine Wiederannäherung gelingt, bleibt am Schluss offen. Zu wünschen wäre es ihnen.

Ende November 2017 wurde Annette Mingels der mit 12.000 Euro dotierte Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag für ihren „Familienroman“ Was alles war übergeben. Die Jury begründet ihre Entscheidung wie folgt:

Annette Mingels analysiert schnörkellos am Beispiel eines Familienalltags die vielbeschworene moderne Patchworkfamilie. Sie betrachtet die komplexe Beziehungsdynamik junger Eltern mit gegensätzlichen Karrierewünschen und die komplizierte Suche nach Identität anhand der eigenen Herkunft. Zugleich entlarvt sie – nicht ohne Komik – die wirtschaftliche Befindlichkeit des akademischen Prekariats am Beispiel eines Paares mit abseitigen Berufen: Die Biologin erforscht das Paarungsverhalten von Würmern, der Literaturwissenschaftler die mittelalterliche Minnesangpoesie. „Was alles war“ ist eine intensive psychologische Geschichte, als Familienroman ein vorbildlicher Spiegel der heutigen Zeit und zugleich ein optimistischer Entwurf, wie Familie sein kann.

Titelbild

Annette Mingels: Was alles war. Roman.
Knaus Verlag, München 2017.
288 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813507553

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