Erich Auerbach als Schriftsteller

Eine Randbemerkung

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Erich Auerbachs Buch Dante als Dichter der irdischen Welt beginnt mit einem überraschenden Satz:

Daß der Mensch Eines sei – ein Unteilbares aus Kraft und Gestalt des Körpers, Vernunft und Willensmut des Geistes –, daß aus solcher Einheit sein besonderes Geschick sich entfalte, indem stets die ihm zukommenden Taten und Leiden gleichsam magnetisch angezogen sich um ihn versammeln, sich an ihn klammern und somit selbst einen Teil seiner Einheit bilden – diese Einsicht besaß die europäische Dichtung schon in ihren griechischen Anfängen: sie verlieh dem homerischen Epos Anschauung und Durchdringung der Struktur möglichen Geschehens.

Einen solchen Satz würde man am Anfang einer philologischen Abhandlung kaum erwarten. Es ist ein philosophischer Satz, der wissenschaftlich nicht zu beweisen ist. Er geht über das hinaus, was philologisch beschreibbar wäre, etwa an den Epen Homers, und formuliert eine apriorische „Vorstellung vom Menschen“. Auerbach bezeichnet sie als eine „Einsicht“ der europäischen Dichtung „schon in ihren griechischen Anfängen“. Man könnte sie auch eine poetische Idee nennen. Sie ist später in Auerbachs Begriff von Realismus und in sein Konzept figuraler Darstellung eingegangen.

Überraschend ist der Satz aber nicht nur in seiner Aussage. Als ein Beispiel für „Periodenkunst“ verrät er einen auch für literaturwissenschaftliche Arbeiten nicht selbstverständlichen Stilwillen. Auerbachs Periode besteht aus zwei Teilen, die der letzte Gedankenstrich äußerlich voneinander trennt. Der erste Teil ist hypotaktisch. Er setzt sich aus zwei übergeordneten Nebensätzen zusammen, an die sich weitere, ihnen untergeordnete anschließen. Der zweite Teil ist parataktisch. Er enthält lediglich zwei Hauptsätze. Beide Teile ergeben zusammen nicht nur einen langen, sondern auch einen wohlgeordneten, gedanklich in sich gegliederten Satz, der schließlich auf eine Feststellung als sachliche Pointe hinausläuft – ein kleines stilistisches Meisterstück. Er verrät, dass der Literaturwissenschaftler Auerbach auch ein Schriftsteller war.

Auerbach hat diesen Ausdruck selbst in seinem Montaigne-Essay in einem bestimmten Sinn verwendet: als Bezeichnung für den „faiseur de livres“, wie Montaigne sich gelegentlich nennt. Dieser Büchermacher unterscheidet sich von den beiden Autoren-Typen, die sich seit der Antike im Abendland etabliert haben: vom Dichter, der, mit Gedichten, Dramen oder Erzählwerken, ästhetisch wirken will, und vom Gelehrten, der sich als Wissenschaftler an ein fachlich gebildetes Publikum wendet. Der Schriftsteller, ein „Laie“, schreibt auch für Laien. Er steht für eine „Entfachlichung der wichtigsten Wissensdinge“ seit der Reformation: für „verständliche Aufklärung“. Den Dichter und den Gelehrten hat er schon bald in der Gunst des Publikums hinter sich gelassen.

Der Philologe ist zunächst und vor allem ein Gelehrter. Auerbach gehört allerdings zu den Wissenschaftlern, die den Spielraum ihres Schreibens erweitert haben. Er hat das zunächst in der Annäherung an die Essayistik getan: durch Bemühung um Verständlichkeit. Verständlichkeit bedeutet dabei fast immer Verzicht auf eine fachsprachliche Terminologie. Auch Auerbach arbeitet in der Regel nur mit wenigen Begriffen, die er zumeist – wie ‚Realismus‘ oder ‚Figur‘ – selbst entwickelt. Das macht wesentlich die Lesbarkeit seiner Texte aus, auch für Leser, die keine Literaturwissenschaftler sind.

Auerbach hat sich aber auch der Dichtung angenähert, die den Gegenstand seiner Abhandlungen darstellt. Er hat nicht nur einen Stil kultiviert, dessen ästhetischer Charakter nicht zu übersehen ist. Er hat in seinen Aufsätzen und Büchern auch selbst erzählt, vorzugweise Lebensgeschichten, die er, wie die Montaignes, in wenige Sätze zusammendrängen konnte, ebenso Szenen, die er knapp und treffend, aber so ausführlich wie nötig, wiedergegeben hat. Mimesis beginnt mit einer solchen nacherzählenden Inhaltsangabe, nämlich der Episode von der „Narbe des Odysseus“, und fügt Kapitel für Kapitel weitere hinzu. Auch im Dante-Buch gibt es solche brillanten Nacherzählungen; die erste gilt, schon im ersten Kapitel, der „Geschichte Christi“.

Offensichtlich ist in den Texten Auerbachs das ästhetische Vergnügen an Worten – mehr als an Wörtern –, am Worte-Machen oder Worte-Setzen, das jedoch nicht zum Selbstzweck wird. Es steht vielmehr im Dienst der Analyse. Die kunstvolle Sprache sorgt für Ordnung, das Erzählen für Anschaulichkeit. Die Nähe, die es herstellt, verbürgt genaue Kenntnis. Sie bedeutet ein Sich-Einlassen auf den Gegenstand, auf das in einem zweiten Schritt die analytische und hermeneutische Abstandnahme folgt. In ihrem Zuge werden dann auch Begriffe, theoretisches und historisches Wissen eingeführt.

Solche Kunst gelehrten Schreibens beherrschen nur wenige. Fast immer sehen sie sich, durch allerlei Vorbehalte, auf die sie stoßen, zu einer Rechtfertigung ihrer Art der Darstellung gezwungen. Richard Alewyn, ein anderer Meister in dieser Kunst, hat im Vorwort zu seiner Essaysammlung Probleme und Gestalten bemerkt, er habe sich „manchmal gegen das Lob wehren müssen, ‚schön‘ zu schreiben“. Es ist bis heute ein zweideutiges Kompliment, das nicht selten unterstellt, bei dem vorderhand gelobten Verfasser habe es weder zu eigener Dichtung noch zu letzter wissenschaftlicher Seriosität und Strenge gereicht.

Alewyn hat dagegen ausdrücklich die „einfache Form“, die er seinen Gedanken gegeben habe, gerechtfertigt, Verständlichkeit als „Höflichkeitspflicht eines Schreibenden gegenüber dem Lesenden“ gelobt und die „Einfühlung“, die sich hinter dem „Gebrauch suggestiver Sprachmittel“ verbirgt, als „unerläßlichen Bestandteil des Verstehens“ bezeichnet, zu dem „Identifizierung und Distanzierung“ gleichermaßen gehören.

Das alles könnte man auch für Erich Auerbach geltend machen, der sich genau darum in der Literaturwissenschaft von heute fremd ausnimmt – nicht selten sogar schon im Vergleich mit seinen Exegeten. Bei Auerbach kommt jedoch noch hinzu, was auch bei Alewyn vorausgesetzt ist, aber nicht eigens erwähnt wird, vielleicht weil es ihm gleichfalls selbstverständlich war: das Vertrauen in die Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit von Dichtung.

Literaturhinweise

Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. 2. Auflage mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Berlin, New York 2001, S. 5.

Erich Auerbach: Die Narbe des Odysseus. Horizonte der Weltliteratur. Hg. und eingeleitet von Matthias Bormuth. Berlin 2017, S. 35, 32, 33, 34.

Richard Alewyn: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a.M. 1974, S. 8, 7, 8.

 

Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne: Randbemerkungen eines Lesers.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz