„Was ich sehe, ist was ich kenne, ist was ich liebe“

Diversität in Bilderbüchern in deutschsprachigen und internationalen Publikationen

Von Tina HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tina Hartmann

Im Spätsommer 2015 demütigte ein vierjähriger Junge die deutsche Öffentlichkeit, indem er auf die Frage des Rappers Farhad Nazarinejad „Sind da [in deinem Kindergarten] auch Ausländer?“ antwortete: „Nein, da sind Kinder!“.[1] Dass Kinder von sich aus keinen Rassismus zeigen, sondern ihn erst von Erwachsenen lernen müssen, ist ebenso Konsens, wie die insgesamt ausgesprochen positiven Erfahrungen mit Inklusion im Vorschulalter.

Dass wiederum Bilderbücher für die Welterschließung von Kindern eine zentrale Rolle spielen, indem an ihnen Unterschiede und Semantisierungen eingeübt werden, noch bevor sie in der Erfahrungswelt auftreten, macht sie – durchaus im Foucaultschen Sinne – zu Performanzen gesellschaftlicher Machpositionen und gesellschaftlichen Machterhalts und katapultiert das Thema Diversität in Kinderbüchern aus seiner vermeintlichen Nische ins Zentrum der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.

Abgesehen von wenigen Klassikern des narrativen Jugendbuchs wie Ben liebt Anna von Peter Härtling (1979) fristete das Thema Diversität in Kinder- und Jugendbüchern – gemessen an der Fülle jährlicher Neuerscheinungen – über Jahrzehnte ein Schattendasein. Auch die Publikationen im Bereich des Bilderbuches (für die Altersstufen drei bis sieben) der 1970er bis in die Nullerjahre unseres Jahrtausends sind relativ übersichtlich und von der Forschung gut erschlossen.[2] Insbesondere die ausführliche Studie Bilderbücher zum interkulturellen Lernen von Heidi Rösch und die Ausgabe von kjl&m 13. Extra unter dem Titel „Das ist bestimmt was Kulturelles“ zeigen dabei häufige Mängel in Form mehr oder weniger subtiler Stereotype auf, durch die die Wir-Ihr-Dichotomie eher zementiert als aufgelöst wird, und liefern pädagogische Anregungen, wie mit diesen Büchern dennoch (in Ermangelung anderer) oder gerade anhand ihrer Mängel im Unterricht produktiv umgegangen werden kann.

Die sog. Flüchtlingskrise und die andauernden Debatten um Migrationspolitik haben den richtigen Umgang mit Zuwanderung zu einem allgemeingesellschaftlichen Thema gemacht, das angesichts allgegenwärtiger Bilder der Flucht, realer Flüchtlingskinder in Kitas und Schulen und nicht zuletzt dem wieder Aufflammen von Rassismus, Fremdenhass und Nationalismus in ganz Europa auch für Kinder im Vor- und Erstlesealter Bedarf nach Erklärung und Auseinandersetzung schafft. Fast zwangsläufig, so scheint es, musste der deutsche Kinder- und Jugendliteraturpreis 2015 an das von Claude Dubois mit Amnesty International herausgegebene Bilderbuch Akim rennt (Moritz Verlag, 2014) gehen, das in seiner bildkünstlerischen Qualität und auf maximale Empathie angelegten Dramaturgie solitär steht und dessen Altersempfehlung seit der Publikation diskutiert und sukzessive nach oben korrigiert wurde. Dass angesichts des buchstäblich unfassbaren Leids vieler Geflüchteter um Form und Modi der Darstellung in besonderem Maße gerungen werden muss, ist den Verlagen bewusst, die sich teils progressiv, teils eher tastend dem Thema nähern.

Doch Diversität erschöpft sich bei weitem nicht im Thema Migration. Der Begriff der Diversität[3] – engl. Diversity – wurde in Anlehnung an Begriffe wie Biodiversität und genetische Diversität entwickelt und wurzelt als sozialwissenschaftliches Konzept in der Anti-Diskriminierungs- und Gleichberechtigungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre in den USA, als „Mix von Menschen innerhalb eines Sozialsystems, die erkennbar unterschiedliche, sozial relevante Gruppenzugehörigkeiten haben.“[4] Problematisch wird der Begriff jedoch, wenn anhand eines als dominant definierten Merkmals die Zuschreibung eines Menschen zu einer Gruppe vollzogen und damit eine Wir-Ihr-Dichotomie geschaffen oder erneuert, bzw. das Denken in Gruppen forciert wird. Insbesondere der mit dem Diversitätskonzept historisch eng verbundene Multikulturalismus-Ansatz in den USA förderte mitunter den Konkurrenzkampf von Minderheiten untereinander und neigt dazu, Konflikte auf der Ebene der Ethnie zu deuten, [5] die tatsächlich merkantile oder Geschlechtskonflikte sind.

Im Gegensatz dazu soll der Begriff Diversität im Rahmen dieser Studie ausdrücklich als individualistischer Begriff gedacht und verwendet werden, der Merkmale von Menschen benennt, ohne die Menschen (monothematisch) über diese Merkmale zu definieren, sie folglich als Individuen, nicht als Gruppen zu betrachten. Die hier exemplarisch untersuchten Diversitäts-Merkmale entstammen im Wesentlichen den Kategorien: Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Lebensform, sexuelle Orientierung und angeborene normabweichende Merkmale, wobei davon ausgegangen wird, dass ein Individuum (beliebig) viele, möglicherweise konfligierende Diversitätsmerkmale versammeln kann.

Der Begriff der Kultur eignet sich mindestens in diesem Kontext nur sehr bedingt als Diversitätsmerkmal. Kultur ist, auch wenn sie im Sinne des Transkulturalismus gedacht wird, ein Gruppenphänomen und insbesondere in der Abbreviatur des Bilderbuchs auch kaum anders darzustellen, wie an Ole Könneckes Illustrationen zu Rafik Schamis Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm (Hanser, 2003) eindrucksvoll zu besichtigen ist. Unter dem Aspekt der Diversität erweist sich Kultur gar als hochgradig problematischer Begriff[6]: Zum einen enthebt sie Menschen ihrer Individualität und macht sie zu Trägern einer vermeintlich homogenen Gruppe, die gegenüber einer gesellschaftlichen Mehrheit marginalisiert werden kann. Überdies wird nicht selten innerhalb einer vermeintlich homogenen Gruppe die Unterdrückung von Diversität (Homosexuelle, trans- und intersexuelle Menschen, Frauen und Mädchen) kulturell legitimiert. Im Kinder- oder gar Bilderbuch stellt sich somit unweigerlich das Dilemma ein, entweder das Gruppenverhalten und damit die vermeintliche Kultur als inhuman abzuwerten, oder aber das inhumane Verhalten einer Gruppe mit deren ‚Kultur‘ zu entschuldigen und damit die Unterdrückten im Stich zu lassen. Eindrucksvolle Beispiele für dieses Dilemma liefern drei Publikationen über türkischstämmige Mädchen aus den 1980er Jahren: Oya. Fremde Heimat Türkei von Karin König, Hanne Straube und Kamil Taylan (dtv, 1988), Hamide spielt Hamide von Annelies Schwarz (dtv, 1986) und Die Kopftuchklasse von Ingrid Kötter (Arena, 1989).[7] Kultur wird im Folgenden als der Diversität nachgeordneter, nicht normativer Wert, sondern individueller, hybrider Entwicklungsprozess verstanden, der mehrere Diversitätsmerkmale einschließen kann. In den hier behandelten Bilderbüchern spielt die zeichenhafte Zuordnung zu einer bestimmten Kultur vor allem in Das Wort das Bauchschmerzen macht (edition assemblage, 2014) eine handlungsbestimmende Rolle.

Ein weiterer problematischer Aspekt des Diversitätskonzepts ist der Umgang mit Armut. Armut als Diversitätsmerkmal zu akzeptieren wäre fraglos zynisch, doch selbst die empathische Thematisierung von Armut neigt zur Zementierung der Ungleichheit wie das auf bildlicher und narrativer Ebene unterschiedlich argumentierende Bilderbuch Christmas Makes me think von Tony Medina (Lee & Low Books, 2001) vorführt. Eine Thematisierung von Armut, die arme Kinder selbstbewusst macht und damit in sich bereits das Überwindungspotential trägt, zeigt hingegen das südafrikanische Kinderbuch The Herd Boy von Niki Daly (Sub Sahara Publishers, 2015).[8]

Vorgehensweise der Studie

Als Literaturwissenschaftlerinnen interessiert uns, wie Diversität sowohl auf der sprachlich narrativen wie auf der Bildebene thematisiert wird, weniger jedoch die pädagogische Eignung und Nutzung der Bücher. Grundsätzlich kann Diversität auch alleine auf der Bildebene verortet sein, indem beispielsweise eine Geschichte über kindliche Alltagserfahrungen Menschen verschiedener Hautfarben und Herkunft sowie Lebensformen abbildet, ohne dass diese narrativ thematisiert würden. Diese in Bilderbüchern des US-amerikanischen Marktes systematisch anzutreffende Verfahrensweise, die auch spanische und französische Verlage nutzen, die jedoch auf dem deutschsprachigen Markt leider noch die Ausnahme bildet, erscheint als einfachste Möglichkeit, Kindern die diversifizierte Realität einer offenen Gesellschaft zu vermitteln, da sie gänzlich ohne die Thematisierung von Ausgrenzung auskommt und damit eine Wir-Ihr-Dichotomie gar nicht erst entstehen lässt. Ähnliche Chancen bietet eine polythematische Erzählweise, mit der beispielsweise die Eifersucht von Luzi auf ihren Lieblingsonkel in Luzi Libero und der süße Onkel (Beltz & Gelberg, 2007) gegenüber dessen Lebensgefährten gezeigt wird, Schwulsein folglich als selbstverständlicher Teil von Individualität erscheint.

Monothematische Erzählungen fokussieren in der Regel entweder einen Ausgrenzungs-Konflikt oder stellen die Utopie einer konfliktlos gelebten Diversität dar. Zur letzteren Darstellung scheinen besonders Pionierpublikationen zu greifen, wie das erste Buch über schwule Väter und ihre Partner in Papas Freund von Michael Wilhoite aus dem Jahr 1994 (Magnus)[9] oder Jill ist anders von Ursula Rosen und Alina Isensee (Salmo, 2015) über ein intersexuelles Kind, ebenfalls die erste Publikation ihrer Art auf dem deutschen Markt. Dass realistische Erzählungen über Ausgrenzung, zumal in der Verknappung des Bilderbuchs, oft in sich problematisch sind und überdies selten eine befriedigende Problemlösung anbieten können, zeigt Das Wort das Bauchschmerzen macht.[10] Dies mag ein Grund dafür sein, dass Diversität und Toleranz häufig auf dem Wege der Tierfabel erzählt und phantasievoll bebildert werden. Offenbar sind zankende Tiere wie in Abrakazebra von Helen Docherty (Ellermann, 2015) oder gar Kartoffeln wie in Patas! von Lionel le Néouanic (Rue du monde, 2002) eher glaubhaft in einer knappen narrativen Wendung zur Vernunft zu bringen als Menschen und sind sogar Stefanie Schneiders Elefanten im Haus (Ravensburger, 2015) leichter in eine Wohngemeinschaft zu integrieren als die durchsichtig hinter ihnen stehenden Menschen fremder Herkunft.

Anders als der beim Thema Diversität eher problemorientierte deutschsprachige Markt nutzen vor allem angloamerikanische Publikationen poetische Formen im Sinne weniger semantisch als klangfarblich argumentierender Sprache. Im Verein mit üppigfarbigen Bildern macht All the Colours of the Earth von Sheila Hamanaka (Mulberry Books, 1999) die Vielheit menschlicher Erscheinungsformen synästhetisch erfahrbar. Das Buch lässt sich geradezu als Gegenthese zur aktuellen Sprachregelung, von „Children of Colour“ verstehen: Statt erneut eine Linie zwischen farbigen und vermeintlich nicht-farbigen, „weißen“ Kindern zu ziehen, reißt das Buch die Wir-Ihr-Dichotomie von beiden Seiten ein.

Die Analyse bildet eine Momentaufnahme des deutschsprachigen Marktes im Jahr 2015/2016 ab, die internationale Literatur des angloamerikanischen und frankophonen Marktes (mit einem Schwerpunkt auf Afrika) will noch weniger Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen, doch kann sie Tendenzen und einen Horizont aufzeigen, vor dem die Publikationen in deutscher Sprache zu verorten sind. Überdies eignen sich Bilderbücher besonders für Lizenzausgaben und entsprechend sind viele der vorgestellten Titel ursprünglich oder nachträglich auch in anderen Sprachen erhältlich.

Anmerkungen:

[1] Quelle: Der Tagesspiegel online vom 16.8.2015. http://www.tagesspiegel.de/medien/vierjaehriger-antwortet-zur-fluechtlingsdebatte-sind-da-auch-auslaender-nein-da-sind-kinder/12195148.html. (Besucht am 3.2.2016)

[2] Vgl. Heidi Rösch: Bilderbücher zum interkulturellen Lernen. Hohengehren 1997. Ferner: Das ist bestimmt was Kulturelles. kjl&m 13. Extra (2013).

[3] Zur Begriffsbestimmung vgl. ausführlich Michael Schönhut in: Sven Hartwig und Fernand Kreff (Hg.) Lexikon der Globalisierung. Bielefeld 2011, S. 52–55.

[4] Vgl. Taylor Cox Jr. / Ruby L. Beale: Developing Competency to Manage Diversity. Readings, Cases and Activities. San Francisco 1997, S. 1. Zitiert nach: Schönhut (2011), S. 52.

[5] Vgl. Clemens Dannenbeck/ Hans Losch: „Herkunft (er)zählt“. In: ded-Brief 3 (2001), S. 31-33.

[6] Vgl. dazu ausführlich: Heidi Rösch: Interkulturelle Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Differenz und Dominanz, Diversität und Hybridität. In: Das ist bestimmt was Kulturelles. Kjl&m 13.extra, S. 22-23.

[7] Das Kopftuch ist als Zeichen deshalb problematisch, weil es die Dichotomie von kultureller Stereotypie – nicht jede Muslima trägt Kopftuch – und die potenzielle Marginalisierung innerhalb einer Kulturgemeinschaft – Unterdrückung von Frauen und Mädchen – zusammenschließt.

[8] Vgl. Walter Benn Michaels: The Trouble with Diversity: How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality. New York 2006, S. 4ff.

[9]  Dem Jahr, in dem der §175 aus dem StGB gestrichen wurde.

[10]  Hier schließt die im Seminar ausführlich behandelte, hier jedoch nicht darstellbare Diskussion an, ob Diskriminierungsprozesse auch durch Benennung tradiert und so unnötiger Weise auf die Kinder übertragen werden. Alternativ böte sich an, diskriminierende Begriffe wie das ‚M‘-Wort, das ‚N‘-Wort durch Marginalisierung aus der Welt zu schaffen.

Der Beitrag ist Teil des Seminar-Projekts „Diversität im Kinder- und Jugendbuch“ an der Universität Bayreuth, dessen Ergebnisse in der Dezember-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de veröffentlicht sind.