Der Tschechow des Films

Eine Retrospektive in London ehrt den iranischen Regisseur Sohrab Shahid Saless

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Das ist ein Stil, den ich in allen meinen Filmen beibehalten will: Beobachten, bemerken, ohne die Aufregung und die Gefühle zu teilen; wenn ich anfinge, mich auf die Seite meiner Figuren zu stellen oder sie zu verteidigen, könnte das Publikum nicht selbst urteilen. Es geht darum, zu sehen zu geben – und nur dann schämen sich die Leute.*

Beobachten und sich zurückhalten, damit das Publikum selbst ein Urteil fällen kann – diesem Grundsatz bleibt Sohrab Shahid Saless treu, solange er Filme dreht. Der iranische Drehbuchautor und Regisseur steht derzeit im Mittelpunkt einer Retrospektive, die das Goethe-Institut in London mit organisiert hat und die von November 2017 bis Januar 2018 eine Vielzahl seiner Filme präsentiert. Das ist auch deshalb erfreulich, weil Shahid Salessʼ Filme im Gegensatz zu denen seiner Landsleute wie Abbas Kiarostami oder Jafar Panahi bisher nicht auf DVD erschienen sind.

Überhaupt ist es ein großes Glück, dass seit 2016 eine Wieder- beziehungsweise Neuentdeckung seiner Filme zu verzeichnen ist: Neben Berlin und München kam es bisher in Brüssel und Teheran zu einer Werkschau. In Irans Hauptstadt waren einige seiner „deutschen“ Filme zu sehen.

Das Leben und Werk von Sohrab Shahid Saless (1944–1998) birgt zwei Besonderheiten, die hierzulande nur wenig bekannt sind: Zum einen ist er einer der bedeutendsten Impulsgeber des modernen iranischen Kinos. Mit Ein einfaches Ereignis (1973) und Stillleben (1974) hat er zwei Filme geschaffen, die durch Form und Inhalt – ihre bewusst gewählte Kargheit und Statik sowie durch ihre Konzentration auf das „eingefrorene“ Leben wenig begüterter Menschen, auf ihre Sprach- und Hilflosigkeit – epochemachend auf den intellektuellen iranischen Film gewirkt haben.

Andererseits ist Shahid Saless auch Teil des Neuen Deutschen Films. 1944 in Teheran geboren, lebt er ab 1963 in Wien und Paris, wo er Film studiert, bis er 1968 in den Iran zurückkehrt, um Dokumentarfilme für das iranische Kulturministerium zu drehen. Nachdem seine beiden „iranischen“ Spielfilme auch im Ausland prämiert werden – zum Beispiel mit dem Silbernen Bären für Stillleben –, entscheidet sich der links eingestellte Regisseur, Ende 1974 ins Exil in die Bundesrepublik zu gehen. Der Druck des Geheimdienstes SAVAK auf ihn nahm zuvor so stark zu, dass neue Dreharbeiten abgebrochen werden mussten.

In der Bundesrepublik dreht Shahid Saless 13 Kino-, Fernseh- und Dokumentarfilme wie In der Fremde (1975), Die langen Ferien der Lotte H. Eisner (1979) und Utopia (1982). Er verfilmt deutsche und russische Literatur, so Der Weidenbaum (1984) seines Vorbilds Anton Tschechow, Wechselbalg (1987) von Jürgen Breest und Rosen für Afrika (1991) von Ludwig Fels. Sie alle werden prämiert. Grabbes letzter Sommer (1980) nach Thomas Valentin erhält den Grimme-Preis in Gold für das beste Drehbuch, den besten männlichen Schauspieler und die beste Regie.

1984 wird Shahid Saless auch Mitglied der Akademie der Künste (Berlin) in der Sektion Film- und Medienkunst. Doch so erfolgreich sich sein Lebenslauf im westdeutschen Exil liest, so schwierig sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen für ihn: Als Ausländer muss er immer wieder eine neue Aufenthaltsgenehmigung beantragen, bis sie schließlich dauerhaft wird. Als Nichtdeutscher, so beklagt er einmal, könne er nicht selbst produzieren, sondern sei auf die Zusammenarbeit mit heimischen Produzenten beziehungsweise den Redakteuren der öffentlich-rechtlichen Anstalten angewiesen.

Hinzu kommt, dass Shahid Saless konsequent an seinen Vorstellungen vom Filmemachen festhält, Einsprüche nicht akzeptiert, vor allem aber „schwere“ Stoffe realisiert, die soziale Missstände behandeln: Das isolierte und monotone Leben türkischer Arbeiter im grauen Kreuzberg der 1970er Jahre (In der Fremde, 1975); den Werdegang eines arbeitslosen deutschen Ingenieurs, der sich strikt der Leistungsgesellschaft verweigert und sich von seiner Ehefrau in eine Anstalt einweisen lässt (Ordnung, 1980); die Ausbeutung und schlechte Behandlung von fünf Prostituierten in einem Berliner Club durch ihren sadistischen Zuhälter, für den alles nur ein Geschäft ist (Utopia, 1982).

Doch genau das zeichnet Shahid Salessʼ Filme aus – sie entziehen sich der üblichen Sehweise: Das Tempo ist stark gedrosselt, der Schnitt reduziert und der Blick auf bestimmte Abläufe konzentriert. Diese Abläufe werden teilweise so lange wiederholt, bis ihre „Mechanik“ sichtbar und die Atmosphäre regelrecht spürbar wird. Shahid Salessʼ Figuren sind meist Einzelgänger und Außenseiter, die aus ihrer Situation nicht ausbrechen können und denen es nicht selten misslingt, sich anderen gegenüber verständlich zu machen. In seinen Filmen setzt der Regisseur die Figuren bestimmten Situationen aus und zeigt, wie sie reagieren – ohne ihr Verhalten zu bewerten oder zu kritisieren.

Im letztem Punkt folgt er seinem großen Vorbild, dem russischen Schriftsteller Anton Tschechow (1860–1904), der eine Art Referenzpunkt für den iranischen Drehbuchautor und Regisseur darstellt: „Was mich sehr interessiert, ist die Art zu schreiben von Tschechow“, sagt Shahid Saless während der Berlinale im Juni 1974 zu einem Journalisten. „Ich bemühe mich sehr, so zu filmen, wie er geschrieben hat.“ 1981 setzt er mit Anton P. Čechov seinem Lehrmeister, wie Shahid Saless ihn einmal genannt hat, ein Denkmal: Zusammen mit dem deutschen Tschechow-Übersetzer und -Herausgeber Peter Urban realisiert er den weltweit ersten Dokumentarfilm über dessen Leben.

Doch nicht nur Tschechow spielt für die Filme von Shahid Saless eine bedeutende Rolle. In seinem Debüt Ein einfaches Ereignis, in dem er die Geschichte eines zehnjährigen Jungen erzählt, der mit seiner Familie in ärmlichen Verhältnissen und vom illegalen Fischfang im Kaspischen Meer lebt, finden sich Anklänge an François Truffauts Debüt Sie küssten und sie schlugen ihn (1959). Auch der Protagonist in Shahid Salessʼ Erstling behauptet gegenüber seinem Lehrer, dass seine Mutter verstorben sei, doch im Gegensatz zu der von Antoine Doinel stirbt sie tatsächlich an Tuberkulose.

Jean-Pierre Melville ist ein anderer französischer Regisseur, dessen Werk Spuren bei Shahid Saless hinterlassen hat – insbesondere der Thriller Der eiskalte Engel (1967), in dem Alain Delon einen apathischen, gefühlskalt wirkenden Killer spielt, der bei einem Mord gesehen, von der Polizei verhört und für seine Auftraggeber zu einer solchen Gefahr wird, dass sie ihn zu eliminieren versuchen. Der aggressive Zuhälter in Shahid Salessʼ Utopia, der keine einzige menschliche Regung den fünf Prostituierten gegenüber zeigt, erscheint wie eine Art Wiedergänger von Melvilles Auftragskiller.

In Shahid Salessʼ 1979 entstandenem Filminterview Die langen Ferien der Lotte H. Eisner erzählt die 1933 aus Berlin geflohene deutsch-jüdische Filmjournalistin und -historikerin von den Stationen ihres Lebens, vor allem von den Herausforderungen für sie als Exilantin in Frankreich, die hier mit der Zeit eine neue Heimat findet. Der Schwarz-Weiß-Film ist aufschlussreich in Hinblick auf Shahid Salessʼ eigene Exilerfahrungen. Sein Interview wirkt aber auch wie eine Antwort auf Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914–1975 (1975), den rund fünfstündigen Interviewfilm von Hans Jürgen Syderberg, in dem die frühere Festspielchefin Winifred Wagner über ihr Leben und über ihre – ungebrochene – Nähe zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus spricht.

Im Gegensatz zu Lotte H. Eisner ist es Shahid Saless nicht vergönnt gewesen, sein einstiges Heimatland wieder zu besuchen. 1991 kehrt er nach knapp sechs Jahren in der ČSSR wieder in die Bundesrepublik zurück, um sie vier Jahre später wiederum Richtung USA zu verlassen. Krankheit, Alkoholismus, Erschöpfung und ganz entscheidend die veränderte Film- und Fernsehlandschaft im wiedervereinigten Deutschland erschweren die Arbeitsmöglichkeiten für den Regisseur. Als wäre seine filmische Arbeit abgeschlossen, erhält Shahid Saless Ende 1994 den Großen Preis der Stiftung des Verlags der Autoren für sein „Gesamtwerk“. Er stirbt 1998 in Chicago an inneren Blutungen.

Anmerkung:

* Das Zitat von Sohrab Shahid Saless ist im Original auf Französisch. Übersetzung von Alexandra Jarchau.