Ein Kind der Siebziger

Nicol Ljubić erinnert in seinem Roman „Ein Mensch brennt“ an hochpolitische Zeiten

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dies ist ein Roman“, heißt es programmatisch im Vorspann zum neuen Buch Ein Mensch brennt des 1971 in Zagreb geborenen Berliner Schriftstellers und Journalisten Nicol Ljubić. „Mit Ausnahme Hartmut Gründlers sowie der aus Politik und Publizistik bekannten Personen sind sämtliche Figuren frei erfunden“. Der Anti-Atom-Aktivist Hartmut Gründler, der erkennen musste, dass sein kompromissloser Kampf gegen das System und gegen den amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt gescheitert war und der sich im November 1977 – als „letzte und äußerste Form des Protestes“ – durch seine Selbstverbrennung zu einem Märtyrer des „Lebensschutzes“ zu machen suchte, ist die entscheidende Figur in diesem raffiniert erzählten Roman. Aber nicht die wichtigste. Am wichtigsten sind der Ich-Erzähler Hanno Kelsterberg, der damals ein erstaunlich normaler deutscher Junge war, sein Vater – und vor allem seine Mutter.

Nach dem Tod der Mutter, die 2011 noch die Katastrophe von Fukushima erlebt hatte – eine letzte Bestätigung ihrer seit der APO-Zeit gewachsenen und bis an ihr Ende stur beibehaltenen Apokalypse-Gewissheit –, sieht sich der 44-jährige, unfreiwillig zum „Alleinerben in Sachen Hartmut“ mutierte Hanno mit seinen Erinnerungen konfrontiert. Erinnerungen an eine behütete, im Grunde glückliche Kindheit im beschaulichen Tübingen. An den autoritären und doch geliebten Vater. An gemeinsame Spritztouren im legendären Citroen DS 21, dem ganzen Stolz dieses nicht unsympathisch gezeichneten Unternehmers mit Tendenzen zum Lebemann. An die zaghaften ersten Emanzipationsversuche der Mutter, der das private Glück plötzlich mehr reichte. Also an die den jungen Hanno prägenden Jahre, „in denen Hartmut das Maß aller Dinge war“. Dieser persönlich bedürfnislose, stets korrekte und extrem idealistische, vollkommen humorfreie, hartnäckige und unbeugsame Politkämpfer, der im August 1975 ins Souterrain des Kelsterbergschen Hauses einzog, machte aus Hannos Mutter innerhalb weniger Monate eine andere Frau. Für die Wahrheit! Gegen die Lügen der Atomindustrie und der Regierung! „Da war einer, der brannte, der keine Minute ruhte“. Flugblätter, Demonstrationen, Hungerstreik und am Ende die selbstzerstörerische Aktion um der Wahrheit willen. Mutter hatte für fast alles Verständnis, was Hartmut sagte oder tat. Noch lange nach dessen Tod, in den Wochen nach dem GAU von Tschernobyl, war sie in seinem Sinne aktiv, und bis an ihr Lebensende betrachtete sie es als ihre Hauptaufgabe, ihm einen ehrenvollen Platz im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt zu verschaffen.

Wo blieb Hanno? Ohne die Gegenwelt seiner Fußballalben, ohne das phänomenale Jahrhunderttor von Klaus Fischer im Stuttgarter Länderspiel gegen die Schweiz hätte er das alles wohl kaum durchgestanden. Vor allem als die Familie im „Deutschen Herbst“ 1977 zerbrach und der der Emanzipation seiner Frau immer verständnisloser begegnende Vater aus Hannos Leben verschwand. „Es wäre sicherlich falsch“, meint er Jahre später, „Hartmut die alleinige Schuld daran zu geben, dass sich meine Eltern auseinanderlebten […]. Hartmut war wohl so etwas wie ein Beschleuniger oder vielleicht auch Auslöser“. Doch inzwischen weiß Hanno auch, dass dieser „Soldat im Krieg gegen die Atomlobby“ mehrmals Mütter und Kinder zu instrumentalisieren versuchte – der kleine Hanno der 1970er Jahre war, ungefragt, eine Art „Kindersoldat“. Letztlich habe Hartmut der Familie doch das Leben genommen, „indem er meiner Mutter die Verantwortung für die Welt übertrug, die Verantwortung, vor der er sich mit seinem Tod gedrückt hat“.

Nicol Ljubić, dessen mehrfach ausgezeichneter Roman Meeresstille (2010) in bester Erinnerung ist, hat gründlich recherchiert. Er führt den bundesdeutschen Alltag der 1970er Jahre in zahlreichen prägnanten Details vor Augen, ruft die damalige politische Stimmung im Land in Erinnerung und liefert wertvolle Bausteine zur Vorgeschichte der Grünen. Ljubić hat auch an der Sprache gefeilt: Ein Mensch brennt ist ausnehmend gut erzählt und liest sich flüssig, was auch darüber hinweghilft, dass der Roman gegen Ende dann doch länger wird als vielleicht nötig. Was manische Sorge um die Menschheit – statt um die Nächsten, um den Einzelnen –, realitätsblinder Idealismus, Besessenheit und sture Unbedingtheit anrichten können und angerichtet haben, das erfährt man hier auf sehr eindringliche Art und Weise.

Titelbild

Nicol Ljubic: Ein Mensch brennt. Roman.
dtv Verlag, München 2017.
336 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281300

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