Von Eisenach bis Oggersheim

Pascal Richmann knüpft in seinem Buch „Über Deutschland, über alles“ an den von Heinrich Heine erfundenen Feuilletonstil an, bleibt in Sachen Ironie und frecher Angriffslust aber deutlich hinter seinem Vorbild zurück

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Deutschland hat ewigen Bestand,/ Es ist ein kerngesundes Land,/ Mit seinen Eichen, seinen Linden,/ Werdʼ ich es immer wiederfinden“, schrieb Heinrich Heine in seinen berühmten Nachtgedanken, mit denen er den Zyklus Zeitgedichte 1844 enden ließ. An Heine orientiert sich der 1987 in Dortmund geborene Pascal Richmann in seinem ersten Buch Über Deutschland, über alles. Es beginnt gleich auf dem Pariser Montmartre-Friedhof an Heines Grab und nimmt in seinen zehn Kapiteln nicht nur immer wieder auf den Erfinder des modernen Feuilletonstils Bezug, sondern lehnt sich auch deutlich an die Machart von dessen Reisebildern an, was aber durchaus keinen unoriginellen Ansatz für die Beschreibung unserer Gegenwart darstellt.

Über Deutschland, über alles begleitet einen jungen Schriftsteller auf dessen Fahrt durch sein Heimatland. Es geht von Eisenach bis Oggersheim, von Sylt bis ins sächsische Leipzig zum Fußballklub RB, vom Ballermann bis zur Walhalla. Und immer wieder rücken diejenigen unter Richmanns Landsleuten in den Blick, deren Deutschlandbild sich unterscheidet von dem offiziell gepflegten eines modernen, weltoffenen, multikulturellen Landes, tolerant gegenüber allem Fremden und mit klaren Vorstellungen, was die eigene gesellschaftliche Zukunft betrifft. Denn sowohl die „deutschkrümelnde […] Idiotie“ der sich im Schatten der Eisenacher Wartburg zum alljährlichen Burschenschaftstag versammelnden, mit der „üblichen Couleur, bestehend aus Band, Mütze, Zipfelbund“ ausgerüsteten Jungnationalen als auch die Dresdener „Spaziergänge“ der Pegida-Anhänger, die nicht nur  aus dem Umland der Elbmetropole zusammenströmen, deuten darauf hin, dass Deutschland noch längst nicht mit einer Vergangenheit abgeschlossen hat, in der kalt denkende Populisten ihre  wachsende Anhängerschaft schließlich in die Katastrophe führten.

Vieles von dem, was man für immer in der Rumpelkammer der Historie entsorgt wähnte, ist – wie Richmann auf seinen Reisen feststellen muss – noch oder schon wieder da. Nur die Gestalt, in der es uns heute begegnet, hat eine Modernisierung erfahren. Etwa wenn der Autor gemeinsam mit einer Freundin und einem merkwürdigen, rotbehosten Jüngling gegen Mitternacht hoch über dem Donautal, an der „wie ein nicht zu bezwingender Pottwal“ am Hang liegenden Walhalla, auf die Jagd nach Pokémon-Gespenstern geht. Oder sich einer Tagesfahrt per Schiff nach Helgoland anschließt, um dort, während gut gelaunte Reisegesellschaften von Rentnern und Angestellten die Duty-Free-Angebote der Insel nutzen, nach den Spuren des von den Nationalsozialisten zu rassenideologischen Zwecken missbrauchten Atlantis-Mythos Ausschau zu halten.

Mit 22 Seiten Anmerkungen bei 304 Textseiten – was die Lektüre gelegentlich arg erschwert, weil sich die Anmerkungen nicht wie üblich auf eine konkret kenntlich gemachte Textstelle beziehen, sondern immer nur auf die Seite, auf der Letztere zu finden ist – hat Richmann seinem Text ein Instrument mitgegeben, das diesen in verschiedene Richtungen – literarische, philosophische, geschichtliche, filmhistorische, auch privat-biografische – erweitert. Auch dem Internet wird hier der ihm heute gebührende Platz zugestanden. Gelegentlich scheint bei der Vielzahl der Quellen, auf die Bezug genommen wird – von Roberto Bolaño bis Ilse Aichinger, von Filippo Tommaso Marinetti bis Houston Stewart Chamberlain, von Max Brod bis Jonathan Franzen, von Susan Sontag bis Norbert Elias et cetera – allerdings auch ein bisschen Bildungsprotzerei im Spiel zu sein.

Die stört allerdings nicht so sehr wie die Manier des jungen Autors, alle auf der Gegenwartsebene auftretenden Personen immer wieder „Impulsreferate“ halten zu lassen. Und dass er den Dichter Hoffmann von Fallersleben „vernichtende Hotel- und Restaurantbewertungen auf Google“ verfassen oder an einer anderen Stelle den Hamburger Heine- und Fallersleben-Verleger Campe seine Überweisungen an die beiden Dichter mit Hilfe eines TAN-Generators bewerkstelligen lässt, ist bei Weitem keine so originelle Vergegenwärtigung von Historischem, wie das von Richmann wohl intendiert war. Sodass unterm Strich die Punkte in den Kategorien Ironie und Angriffslust – in die sich bei Heinrich Heine nicht selten ein Schuss Häme mischte – eindeutig an Richmanns Vorbild aus dem 19. Jahrhundert gehen.

Alles in allem freilich hat man mit dem gerade einmal 30-jährigen Autor einen erzählenden Essayisten vor sich, von dem noch einiges zu erwarten sein dürfte. Ganz anders als die zu Beginn des neuen Jahrtausends erschienenen Deutschlanddurchquerungen und -umrundungen von Roger Willemsen (Deutschlandreise, 2002), Peter Richter (Blühende Landschaften, 2004) oder Wolfgang Büscher (Deutschland, eine Reise, 2005) hat er sich stilistisch einen Ausgangspunkt gesucht, von dem er weiß, dass er schon in jener Zeit, als er erfunden wurde, ebenso produktiv wie provokant war.

Vielleicht muss Richmann sein unübersehbares Talent noch ein wenig disziplinieren. Vielleicht lädt er selbst zu Missverständnissen ein, wenn er Begegnungen wie die mit dem Ex-NPD-Bundesvorsitzenden und Fraktionsführer im sächsischen Landtag, Holger Apfel, an dessen neuer Wirkungsstätte, der „Maravillas Stube“ in Palma de Mallorca, gar zu wertneutral beschreibt. Aber die wichtigsten Koordinaten seines Debüts stimmen. Und die könnten Pascal Richmann auf einen Weg führen, der mit den 300 Seiten von Über Deutschland, über alles gerade erst seinen Anfang genommen hat.

Titelbild

Pascal Richmann: Über Deutschland, über alles.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
328 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256521

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