Der langen Rede kurzer Sinn

Michael Gamper und Ruth Mayer legen einen Sammelband zur Mediengeschichte kleiner Formen vor

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schillers oft zitierte Wallenstein-Frage nach dem kurzen Sinn könnte man als konstitutiv für das Phänomen der Komprimierung betrachten. Beim Komprimieren geht es darum, eine Informationsmenge auf möglichst wenige Zeichen zu reduzieren, etwa, um sie schneller übertragen oder günstiger speichern zu können. Im Idealfall geschieht das verlustfrei, sodass der „lange Sinn“ nachher auch wieder rekonstruiert werden kann. Komprimierung geschieht mit Hilfe von Medientechniken – und zwar nicht erst seit Claude E. Shannon in seiner Informationstheorie ein Maß für die kleinsten Informationsmengen benannt hat. Komprimierung findet auch beim Medienwechsel statt – etwa, wenn akustische Informationen verschriftlicht werden – oder beim Wechsel der Zeichenkategorie, wenn zum Beispiel Zahlenmengen in ein Diagramm übertragen werden.

Als Komprimierung lässt sich nicht zuletzt die Wissenstradierung einordnen, wenn umfangreiches Wissen mehr und mehr zum Allgemeinwissen wird und seine explizite Ausformulierung (zum Beispiel in Lexika oder Lehrbüchern) von Generation zu Generation kompakter werden kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist Albert Einsteins Relativitätstheorie, für die es zur Zeit ihrer Entwicklung noch umfangreicher Abhandlungen zur Erklärung bedurfte und die heute – dank mathematischer Grundkenntnisse – in Physiklehrbüchern der gymnasialen Oberstufe nur noch wenige Seiten Platz einnimmt.

Neben den kulturellen Praktiken des Komprimierens kommen aber seit Beginn der digitalen Datenverarbeitung immer stärker mediale Technologien der Komprimierung zum Einsatz, um „kleine Formen“ zu erzeugen und zu speichern. Eine Betrachtung der Mediengeschichte dieser Formen kann also allemal erhellend für die Frage sein, wie sich Kultur und Medien aneinander entwickeln, wenn es darum geht, Zeit und Platz zu sparen.

Michael Gampers und Ruth Mayers Sammelband Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart versucht, diese Wechselwirkung von (kurzer) Form und medialem Dispositiv in den Fokus zu rücken. Hierfür nehmen sich die 17 Aufsätze des Bandes ganz unterschiedliche Mediengattungen vor, in denen derartige Texte (oder genauer Symbolsysteme) angesprochen werden. Gerade in Zeiten, in denen die Kulturkritik das Verschwinden der Aufmerksamkeit behauptet und dies daran misst, dass Medieninhalte immer kürzer und im immer schnelleren Wechsel daherkommen, scheint eine gründliche Betrachtung des Themas notwendiger denn je. Den Phänomenen Twitter, SMS, Handy-Film und der viel diskutierten „Clip-Ästhetik“ sind daher einige der Beiträge gewidmet. Andere verfolgen die Entwicklung kurzer Formen zurück in die Kulturgeschichte: Wie sich diese historisch durch zahlreiche Formate und Medien hindurch entwickelt haben, welche Querverbindungen zwischen einzelnen Disziplinen und Genres dabei zugrunde lagen und welchen Sinn (im Hinblick auf eine Epistemologie) die Kürze dabei jeweils bekommen hat – das sind die Schwerpunktthemen des Bandes.

Elisabetta Mengaldo schreibt über den literaturhistorisch wohl bekanntesten deutschen Kurz-Texter, Georg Christian Lichtenberg. Er hat wie kein anderer den Begriff Aphoristik bestimmt. Allerdings, und das ist Mengaldos Thema, war Lichtenberg eben auch Physiker und hat als solcher beispielsweise die nach ihm benannten Lichtenberg-Figuren entdeckt: musterförmige Anordnungen magnetisierbarer Partikel in einem Magnetfeld. Neben seinen Sudelheften, in denen er seine literarischen „Kurzschlüsse“ gesammelt hat, existieren auch eine Reihe von Labortagebüchern, in denen Lichtenberg zur Beschreibung seiner Versuche eine passende (Text)Form entwickelt hat. Die Frage, wie sich ein ephemeres Experiment für die Leser nachvollziehbar auf Papier speichern lässt, hat dabei zu einem ganz eigenen Genre geführt, in dem Bilder, Zahlen, Diagramme und Formeln zu erzählenden Elementen werden.

Die Formel als Kürzestform der Informationsübermittlung ist das Thema des Beitrags Magdalena Gronaus. Die Natur- und Literaturwissenschaftlerin basiert ihre Überlegungen auf zwei Beispielen: Zunächst stellt sie eine Formel für die Berechnung der „Frauenseele“ vor, die Karl Kraus 1909 als Satire in seiner Zeitschrift Die Fackel veröffentlichte. Eine vergleichsweise simple Gleichung, bei der das Ergebnis 0 sein soll. Die Autorin sieht darin mehr als nur einen plumpen Scherz: Kraus spielt mit einem Symbolsystem, das den meisten seiner Leser nur wenig vertraut ist. Eine mathematisch Gleichung suggeriert (auch heute noch) bei vielen, denen der Mathematikunterricht egal war oder in Vergessenheit geraten ist, schon gleich Kompliziertheit und wissenschaftliche Seriosität.

Ihr zweites Beispiel stammt vom Chemiker Justus von Liebig, der in der Augsburger Allgemeinen Zeitung in den 1860er Jahren die Chemie und ihre Formelsprache an Beispielen populär zu machen versuchte. Hierbei, so Gronau, sei aber ebenfalls mehr Distinktionsgeste als Aufklärung mitgeschwungen, wirft man einen Blick auf die Summenformeln der Liebig’schen Beispiele. Aber auch Strukturfomeln (die insbesondere bei organischen Verbindungen einen wesentlich größeren Aussagegehalt besitzen als Summenformeln) werden von ihr als „Produktionen der bildenden Kunst“ gewertet und müssten damit ebenfalls als Monumente von Arkanwissen angesehen werden können. Ihr Beitrag schließt damit, dass sie Kraus einen Rechenfehler nachweist (eine vergessene Klammer), um damit noch einmal mehr auf den Doppelcharakter von Formeln hinzuweisen: Mit ihnen lässt sich Wissen kompaktifizieren – aber adäquat nur dann, wenn man den Komprimierungsalgorithmus auch beherrscht. Ansonsten kommt allenfalls Rauschen und Getöse dabei heraus.

Johannes Paßmann, twitternder Ethnograph, widmet sich der Kurznachricht im Twitter-Netzwerk. In einem Nebensatz weist er auf die Entstehung des Formates aus der Geschichte der Funktelefonie hin, um sich dann hauptsächlich der Formensprache ausgewählter Twitterer zu widmen. Hier schreibt das Medium bereits sehr deutlich „an den Gedanken mit“, wie Friedrich Nietzsche (ein anderer berühmter Aphorist, dem sich ebenfalls ein Beitrag des Bands widmet) einmal über seine Schreibmaschine sagte. Bestimmte Formen von Humor, Insiderwissen, Intertextualität (in Form von Retweets) und andere Stilelemente stellt Paßmann bei einigen Twitterern vor. Er selbst hat Forschung nicht nur über dieses, sondern auch mit und in diesem Medienformat betrieben und reflektiert darüber, wie sich das Dispositiv und die Inhalte gegenseitig beeinflussen. Leider zeigt sich sein Beitrag zu fasziniert von den Twitter-Persönlichkeiten, die er als Beispiele nutzt, sodass der Text über weite Passagen eine Art von „Witze-Erklärung“ wird. Das technische Dispositiv gerät dabei weitgehend aus dem Bewusstsein.

Die drei hier genannten Beispiele besitzen eine Gemeinsamkeit: Sie handeln von Kurztexten, die die Oberflächen von anderen Zeichensystemen darstellen. Hinter Lichtenbergs Labortagebüchern steht das Experimentalsystem, das sich diskursiv eigentlich gar nicht fassen lässt. Er kann damit als einer der Vordenker dessen gelten, was der Berliner Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst als „Archäografie“ beschrieben hat: eine Textform, die Bedeutung nicht durch hermeneutische Durchdringung und diskursive Verhandlung entfaltet, sondern im (Nachvoll)Zug(e) der Ereignisse und mithilfe von Bildern, Formeln, Versuchsbeschreibungen und Zahlenangabe. Lektüre wird dabei zur „Reaktivierung“ und „Operativierung“ des Beschriebenen im Geist des Lesers. Diese Eigenschaft von Formeln ignoriert der Beitrag von Gronau leider völlig, indem sie sich auf historische Beispiele von gespielter Lehrsamkeit und geheuchelter Aufklärung kapriziert. Mit der Formalisierung mathematischer, physikalischer, chemischer, logischer und anderer Sachverhalte findet ebenfalls eine Enthermeneutisierung statt. Das schreibt sie, wenn sie anmerkt, dass mit Formeln konnotatfreies Wissen notiert werden kann. Dieses Aufschreibesystem der formalen Sprache wird im 19. Jahrhundert allerdings noch auf andere Weise wirkmächtig, weil es geeignet ist, zur Verarbeitung an Maschinen delegiert zu werden. Die Mathematikerin Ada Lovelace hat zur selben Zeit wie Liebig mit (mathematischen) Formeln gearbeitet, die von ihrem Kollegen Charles Babbage in dessen Proto-Computer „Analytical Engine“ hätten verarbeitet werden können. Und Charles Sanders Perice hat zeitgleich die formale Logik in elektrischen Schaltkreisen operationalisiert. Schließlich kratzt auch Paßmanns Twitter-Ethnografie leider nur an der Oberfläche: Das Vorhaben des Bands, die medialen Dispositive mit den Formen, die sie hervorbringen, zu kopplen, wird bei einer Darstellung von Twitter-Stilistiken einfach nicht erfüllt. Hinter Twitter stehen noch ganz andere Symbolsysteme, die das medientechnische Apriori jeden Tweets bilden: die Algorithmen, Datenbanken und Netzwerkprotokolle als unsichtbare Paratexte – zumeist kurz genug, um in den Kanon des Bandes aufgenommen zu werden.

Eine Mediengeschichte kann mithin nicht bloß eine Geschichte der Medieninhalte sein. Erzählverfahren, Text-Bild-Konstellationen und Wissenskondensationen (alle drei Abgrenzungsmotive des Bands) bilden zwar eine vortreffliche Grundlage für eine Epistemologie textueller Formen, dürfen aber Medientechnologien nicht ignorieren, die ja stets als Mitautoren auftreten und deren technologischer Rahmen dasjenige formatiert, was mit ihnen geschrieben und gesagt werden kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Twitter-Netzwerk, dessen Verknappung sich zwar historisch aus der Genealogie der Funktelefonie erklären lässt, was aber noch nicht erklärt, warum die Länge der möglichen Nachrichten erst kürzlich verdoppelt wurde. Immerhin produziert diese künstliche Ressourcen-Verknappung als Maßgabe für kreative Selbstbeschränkung seit Donald Trump politische Rhetoriken, die noch vor kurzem unvorstellbar gewesen sind. Die Algorithmen und Protokolle hinter den Tweets regieren mit – ein wichtiger Grund, sie als eigene Kurzformen ins Auge zu fassen.

Titelbild

Michael Gamper / Ruth Mayer (Hg.): Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Transcript Verlag, Bielefeld 2017.
395 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635560

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