Mit dem Grüntee-to-go zum Waterboarding

Juli Zeh zeigt in ihrem Roman „Leere Herzen“, wohin totale Überwachung und Politikverdrossenheit führen können

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir befinden uns im Jahr 2025, 8 Jahre nach Angela Merkels Rücktritt. Die BBB, die „Besorgte-Bürger-Bewegung“ – die AFD lässt grüßen –, hält die Zügel fest in der Hand und ist eifrig dabei, die demokratische Grundordnung weiter einzuschränken: Aus „Effizienzgründen“ wird die Zahl der Verfassungsrichter auf drei reduziert, die Fünf-Prozent-Hürde auf fünfzehn Prozent angehoben und „Schulversager“ werden in der Grundschule durch Zwischenprüfungen frühzeitig „aussortiert“. Als Grundproblem wird natürlich auch alles „Ausländische“ gesehen, das der Staat versucht, so weit wie möglich zurückzudrängen: In Deutschland arbeitende Ausländer müssen Sonderabgaben zahlen, in ehemals von Teestuben und Koran-Buchhandlungen geprägten Innenstädten zieht wieder „deutsche Gründlichkeit“ ein und zu guter Letzt – oh je! – soll auch noch der Import ausländischer Biersorten verboten werden. Seit die Regierung mit Google kooperiert, ist auch die Überwachung der Bürger gesichert, Videokameras und Fitness-Armbändern sei Dank. Die wenigen verbliebenen kritischen Geister spielen schon längst keine Rolle mehr – sie tummeln sich noch vereinzelt in Blogs, wo sie darüber debattieren, wie eine Partei wie die BBB es schaffen konnte, mit demokratischen Mitteln an die Macht zu gelangen.

Europa- und weltpolitisch sieht die Zukunft ebenfalls nicht gerade rosig aus: Die UNO steht kurz vor ihrer Auflösung, die USA befindet sich in einem Wirtschaftskrieg mit Europa, die zweite Finanzkrise ist noch nicht lange vorbei und nach dem Brexit kam es außerdem zum Frexit und Spexit. Ironie der fiktiven Geschichte: Ausgerechnet Wladimir Putin und Donald Trump, bei dessen Antritt man „vom Untergang des Abendlands“ sprach, beenden gemeinsam den Syrienkrieg, was wiederum einen Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina ermöglicht. Auch der sogenannte Islamische Staat – im Roman „Daesh“ genannt – ist keine globale Bedrohung mehr, sondern beschränkt sich auf „eine Handvoll dekadenter Warlords“. Hier kommt Britta, die Protagonistin in Juli Zehs Roman Leere Herzen, ins Spiel. Sie vermittelt unter dem Deckmantel der „Brücke“, offiziell eine „Heilpraxis für Psychotherapie“, Selbstmordattentäter an verschiedene Organisationen, zu denen verschiedene Umweltorganisationen ebenso gehören wie die eben genannte Daesh. Ob man im Supermarkt einen Joghurt kauft oder bei der Brücke einen Selbstmordattentäter bucht, macht letztlich keinen Unterschied – das Geschäft mit den Suizidalen ist ein ebenso rationales und kommerzielles wie jedes andere, wenn zuvor sämtliche Moralvorstellungen über Bord geworfen wurden. Die „Patienten“ – die Perfidität ist kaum zu übertreffen – würden mit ihrem Tod sogar noch etwas Gutes bewirken.

Doch bevor die geeigneten Kandidaten an die Organisationen weitervermittelt werden, müssen sie einen strengen Auswahltest in 13 Stufen durchlaufen, zu denen unter anderem das Verfassen eines Abschiedsbriefes an die Eltern, die Einweisung in eine Psychiatrie und das Waterboarding gehören. Erst wenn alle Stufen erfolgreich durchlaufen werden und die Suizid-Absicht damit tatsächlich bewiesen wurde, werden die Ausgewählten potenziellen „Kunden“ wie „Green Power“, Tierschutzorganisationen, Daesh et cetera wie eine Ware angeboten. Vorselektiert werden sie von einer komplizierten algorithmengestützten Software, die Babak, Brittas schwuler, aus dem Irak stammender Geschäftspartner, entwickelt hat: Lassie, der Name des Algorithmus, „läuft los, die Nase am Boden, schnüffelt durch die hellen und dunklen Winkel menschlicher Kommunikation, schafft Verknüpfungen.“ Auf einer „Suizidalitäts-Skala“ nimmt sie eine Bewertung der infrage kommenden „Patienten“ zwischen 1 und 12 vor, wobei 12 die höchste Stufe ist. Brittas bis dato konkurrenzloses Geschäftsmodell hat sich über die Jahre bewährt und ist überaus lukrativ – bis es zu einem Anschlag kommt, der von Selbstmordattentätern ausgeführt wird, die von einem anderen Unternehmen rekrutiert wurden. Federführer der „Empty Hearts“ ist ein ehemals von Britta abgelehnter Todeskandidat, der versucht, das Geschäft mit den Suizidwilligen an sich zu ziehen. Und damit nicht genug, hat auch der BND seine Finger mit im Spiel.

Dass Juli Zeh eine hochpolitische Autorin ist, die sich mit verschiedenen Gegenwartsentwicklungen immer wieder kritisch auseinandersetzt, dürfte bekannt sein. So finden sich in Leere Herzen fast sämtliche Themen wieder, über die sie bereits journalistisch geschrieben hat – vor allem in ihren 2013/14 an verschiedenen Orten erschienen Texten, die im Essay-Band Nachts sind das Tiere (2014) versammelt sind. In ihnen geht es unter anderem um eine „ausufernde Massenüberwachung“, den Verzicht auf persönliche Autonomie, Algorithmen, Datenschutz, den „Zwang zur ‚Normalität‘“, den Geheimdienst und die Aushöhlung des demokratischen Systems. Wenn Zeh in ihrem Essay Wo bleibt der digitale Code Civil? beispielsweise schreibt, „Ziel des entfesselten Spiels [mit den Daten der Einzelnen; SJ] ist eine algorithmische Einhegung des Menschen, welche die Berechenbarkeit von menschlichem Verhalten zur Folge hat“, so lässt sich das fast eins zu eins auf ihren Roman übertragen. In einem Offenen Brief an Angela Merkel fragt sie, wie „mit der exponenziell wachsenden Übermacht von Google“ umzugehen sei, und fordert „einen TÜV, der Algorithmen auf ihre Demokratiesicherheit prüft.“

Auch wenn die Zahl der angesprochenen Themen im Roman zuweilen etwas überhandnimmt und der allzu offensichtliche moralische Impetus nervt, so ist es Zeh gelungen, sie zu bündeln und in den Plot zu integrieren. Die Dystopie entwickelt eine eigene Dynamik und vermag – zumindest streckenweise – zu fesseln. Dazu trägt unter anderem die Figurenzeichnung der Protagonistin bei, die im Roman eine Metamorphose durchläuft: Nimmt sie – als frühere Verfechterin der Demokratie – zu Beginn die äußeren Umstände einfach so hin, ohne ihnen etwas entgegenzusetzen, als Reagierende, die auch die persönlichen Beziehungen – egal, ob zu ihrem Mann, ihrer Tochter oder ihrer Freundin – nur halbherzig führt, so gewinnt sie gegen Ende ihre Menschlichkeit und Überzeugungskraft zurück. Auch die Familie und die Beziehungen zu anderen Menschen werden ihr zunehmend wichtiger.

Zeh führt ihren Lesern mit Britta vor Augen, wohin die zunehmende Politikverdrossenheit in der Gegenwart, der Verlust des Glaubens „an eine bessere Welt“, führen kann, was es heißt, wenn niemand mehr weiß, „wofür oder wogegen er sein soll“. Dazu zählen auch jegliche Moralvorstellungen. Britta leidet, wie der Titel schon andeutet, an einem „leeren Herzen“. Am Ende des Romans gibt sie ihre Praxis auf und beschließt, sich mehr um ihre Familie zu kümmern. Etwas zu viel des Guten, weil ins Kitschige abdriftend, ist es jedoch, wenn betont wird, dass Britta es jetzt genießt, „selbst für Sauberkeit im Haus zu sorgen“: „Morgens steht sie früh auf, macht Frühstück für die Familie, bringt Vera zur Schule und widmet sich anschließend in aller Ruhe der Hausarbeit.“ Rosamunde Pilcher hätte das sicher nicht anders geschrieben – aber Juli Zeh? Ist das Ironie? Verwundert reibt man sich die Augen ob einer solchen Wandlung und besinnt sich auf die wirklich starken Passagen im Roman, beispielsweise die detailreiche und bis ins Mark erschütternde Beschreibung des Waterboarding oder die sich entwickelnde Freundschaft der Protagonistin zu einer Selbstmordattentäterin.

Sprachlich bewegt sich Leere Herzen im soliden Mittelfeld, vor allem im Vergleich mit Zehs anderen Romanen. Zeichnete sich etwa Corpus Delicti (2009) durch seine sehr viel kargere und dialoglastigere Diktion aus, so kam Unterleuten (2016) – nicht nur auf der Ausdrucksebene – deutlich ausgefeilter daher. Mancher Neologismus, manche Wortspielerei ist originell, beispielsweise Brittas „Paradoxien-Schmerz“, der daher rührt, dass demokratieverdrossene Nicht-Wähler Wahlen gewinnen, „während engagierte Demokraten mit dem Wählen aufhören.“ Oder auch die Bezeichnung „Zwölfenderin“ – eine Frau, die den Wert 12 auf der Suizidalitäts-Skala aufweist. Negativ fallen hingegen die zuweilen eingestreuten stilistischen Manierismen auf, die man auch schon aus anderen Texten der Autorin kennt, zum Beispiel: „Die Welt fühlt sich an wie schief aufgehängt“ oder „Wie hellgelber Chiffon liegt das Licht auf den glatten Flächen der Möbel“. Mögen solche Sätze aus dem Kontext gerissen noch halbwegs annehmbar klingen, so nehmen sie sich im übrigen Textgefüge aus wie Aliens. Da hilft nur, es der Protagonistin gleich zu tun, und zum nächsten Grüntee-to-go zu greifen.

Titelbild

Juli Zeh: Leere Herzen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
350 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875231

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