Zarenadler und Sowjetstern
Der Schweizer Slavist Ulrich Schmid belegt die fatalen Folgen für ein freies Russland anhand ästhetischer wie emotionaler Suggestionen offiziöser Inszenierungen
Von Volker Strebel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit dem Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ 1989/1990 war auch das Ende der Sowjetunion eingeleitet. Sang- und klanglos hatte die ehemalige Weltmacht aufgehört, zu existieren. Ein Vorgang, der nicht ohne mentale Folgen geblieben ist. Auch ein Vierteljahrhundert später sucht das moderne Russland seinen Platz in einer immer globaleren Welt und denkt über seine Identität nach.
In neun differenzierten Beiträgen, die unter dem Titel Technologien der Seele erschienen sind, widmet sich der renommierte Schweizer Slavist Ulrich Schmid russischen Befindlichkeiten. Über viele Jahre hinweg hat er Stimmen und Stimmungen im heutigen Russland auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis analysiert und ausgewertet. Der Untertitel dieser vorliegenden Sammlung – Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur – belegt sein besonderes Interesse in der Nachverfolgung von künstlich wie künstlerisch erzeugtem Bewusstsein.
Das Spektrum seiner Untersuchungen erstreckt sich über Aspekte politischer Inszenierung unter Bezugnahme kultureller wie religiöser Anleihen bis hin zu zeitgenössischen Foren russischer Selbstdarstellung. Anstelle der in Sowjetzeiten verordneten Ideologie des Marxismus-Leninismus ist im heutigen Russland unter anderem die Rede von sogenannten „traditionellen Werten“ einer „russländischen Zivilisation“ getreten, die es zu bewahren gilt. Ulrich Schmid verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass nicht etwa von „russischer Kultur“ die Rede ist, sondern von einer „russländischen Nation“, die sich auf den russischen Staat bezieht.
Der Staatsapparat mit seinen Machtinstrumenten verkörpert die alles überspannende Instanz, die sich in der Wahrung „traditioneller russischer Werte“ gegen die propagierten zahlreichen Feinde zur Wehr setzt, die Russland bedrohen. Der in Anspruch genommene wertkonservative Patriotismus bildet für diese Zwecke das notwendige Alibi. Anhand ausgesuchter Beispiele zeigt Schmid die bemerkenswerte Effizienz offiziöser Strategien in der Kulturindustrie auf. Bewusst werden kollektive Deutungsmuster bezüglich vorgeblicher allgegenwärtiger Feinde des Landes geschaffen: „Freund-Feind-Schemata, die Präferenz für eine gelenkte Demokratie und loyale staatsbürgerliche Verhaltensmuster schleichen sich über die Populärkultur in das kollektive Bewußtsein ein“.
Auf diese Weise werden diverse Denk- und Strategiemodelle erzeugt, die nicht nur in Russland selbst, sondern auch außerhalb des Landes ein hartnäckiges Eigenleben führen. Da ist etwa, entgegen nachweisbarer historischer Überprüfbarkeit, die Rede davon, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die ausgestreckte Hand Russlands vom Westen ausgeschlagen wurde. Eine weitere Denkfigur wird mit der beklagten „NATO-Osterweiterung“ transportiert. Diese leichthin übernommene Formulierung impliziert eine vorgebliche Stoßrichtung gegenüber Russland, die es so im Bündnis nicht gibt. Dass im Nebeneffekt dieses Schlagwortes die Souveränität mittelosteuropäischer Staaten verschluckt wird, ist in der aggressiven Ukraine-Politik Russlands blutig zum Ausdruck gekommen.
Ein befremdliches Gebräu aus historischen Halbwahrheiten und philosophischen Versatzstücken rückt an die Stelle eines zivilgesellschaftlichen Diskurses in Freiheit. Anstatt einer souveränen Bewältigung der sowjetischen Vergangenheit werden Cyberattacken und virtuelle Informationen bemüht, um die Gegenwart zurechtzubiegen. Die allgegenwärtige Berufung auf vorgeblich traditionelle Werte ist bereits insofern eine hohle Phrase, als eine idealisierte zaristische Vergangenheit mit Inhalten und Symbolen der Sowjetherrschaft mühelos verknüpft wird.
Es gelingt Schmid aufzuzeigen, dass das Land in einem Klima virtuell erzeugter Bedrohungen durch zahlreiche Feinde zusammengehalten werden soll. Real bleiben hingegen verschleppte Reformen, eine alles durchsetzende Korruption sowie „Machtinteressen einer kleinen Elite“, die tatsächlich bedient werden.
Die beeindruckende Vielzahl ausgewerteter Dokumente und einschlägiger Wortmeldungen im Kontext geschichtlicher und landeskundlicher Hintergründe konterkarieren zugleich jene Vorwürfe, die eine kritische Analyse der russischen Politik als „Dämonisierung“ missverstehen. Schmids Analysen bezüglich einer zunehmenden nationalrussischen Ideologisierung fallen umso kritischer und besorgter aus, da er die Freiheitsliebe und Unabhängigkeit der russischen Kultur jenseits instrumentalisierter Machtinteressen sehr wohl zu schätzen weiß.
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