Taiwan ist nicht China

Der Sinologe Thilo Diefenbach stellt in „Kriegsrecht“ auf 450 Seiten neue Literatur aus Taiwan vor

Von Astrid LipinskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Astrid Lipinsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kriegsrecht“: Davon hatte Taiwan reichlich und für den weltweit längsten Zeitraum, von 1949 bis 1987. In diesem Jahr feiert Taiwan das 30. Jubiläum der Aufhebung des Kriegsrechts. Ebenso 30 taiwanische Kurzgeschichten gibt der Sinologe Thilo Diefenbach nun heraus – 19 davon hat er selbst übersetzt.

Aber Kriegsrecht als Titel für eine Sammlung von Kurzgeschichten? Er wurde, so der Herausgeber, bewusst so reißerisch gewählt. Ein Blick in die USA zeigt, dass er nicht in die falsche Richtung lenkt: In den vergangenen Jahren erschienen dort gleich mehrere Romane, die Taiwans Kriegsrecht thematisieren. Wie die englischen Romane und auch Diefenbachs Geschichten zeigen, ist das taiwanische Kriegsrecht eng mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste des 28. Februar 1947, dem sogenannten Ererba, verbunden. Beide – Kriegsrecht und Ererba – sind Pfeiler der taiwanischen Geschichte, kommen aber in der Geschichte der VR China gar nicht vor, genauso wenig wie die Kulturrevolution in Taiwan eine Rolle spielt.

Die in den USA erschienenen Darstellungen des taiwanischen Kriegsrechts im Roman zeigen, dass es erstens Jahrzehnte gedauert hat, bevor eine Annäherung an das Thema möglich wurde, und dass es zweitens (oder gerade deshalb) noch lange nicht vergessen ist, wie Jennifer Chows The 228 Legacy (2013), Julie Wus The Third Son (2013) und Shawna Yang Ryans Green Island (2016) zeigen.

Die Autorinnen der amerikanischen Romane haben allesamt (familiären) Taiwan-Bezug. Umso höher ist Thilo Diefenbach und seinen Co-Übersetzern ihre Übersetzungsleistung auch ohne familiäre Taiwan-Abstammung anzurechnen, und umso größere Objektivität und Repräsentativität kann das literarische Taiwan-Bild ihrer Auswahl beanspruchen.

Diefenbach erklärt den Zusammenhang in seiner zwanzigseitigen „Einleitung“, die tatsächlich  eine detaillierte neuere Geschichte Taiwans und seiner Literatur ist.  Er nutzt sie, um die Besonderheiten aufzulisten, die Taiwan von China unterscheiden und die die übersetzten Geschichten dokumentieren.

In vier Überkapiteln werden im Buch die Früh- und Spätphase des Kriegsrechts, die Zeit kurz nach der Aufhebung und die weiter entfernte Zukunft des neuen Jahrhunderts nachgezeichnet. Die Geschichten in den ersten beiden Kapiteln zeigen die Inhalte des „Kriegsrechts“: Entmenschlichung in „Gerüchte“, allgegenwärtige Bespitzelung in „Der Informant“, die Bestrafung von unschuldigem jugendlichem Idealismus in „Landesverrat“ oder „Flucht in die Berge“. Weitere Geschichten illustrieren Spätfolgen des Kriegsrechts sowie die Schwierigkeiten beim Aufbau eines demokratischen Systems („Die Demonstration“, „Keine Ahnung von Politik“, „Eine Stimme“). Auch die Demokratisierungserfahrung mit einer Vielzahl konkurrierender Parteien ist Taiwan-spezifisch und auf dem chinesischen Festland nicht zu finden.

Die zehn Geschichten im letzten Überkapitel repräsentieren in ihrer Formvielfalt einschließlich Essay („Einsicht“, „Meine Welt“) oder  Fabel („Die Straße“) die neue gesellschaftliche Diversität. Genauso spiegeln sich in den Geschichten aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wie Alter oder das Verrinnen der Zeit in einer rapide alternden Gesellschaft mit einer der niedrigsten Geburtenraten weltweit: „Geschichten von der Beerdigung“, „Die Trauerwoche“, „Ein unzuverlässiger Zeuge“ gegenüber einer urbanen Jugendkultur („Die Welt“). „An den Ufern des Tamsui“ illustriert lokaltypische Geschichte und Feste. Insgeamt macht dieser Block mit zehn Geschichten aus den Jahren ab 2008 ein Drittel der übersetzten Erzählungen aus. Mit dem Umfang wird die Bedeutung des aktuellen Wandels betont – auch für die zukünftige Beschäftigung mit taiwanischer Literatur und den Wert ihrer Vermittlung in deutscher Sprache.

Im Untertitel Neue Literatur aus Taiwan wird der politische Anspruch der Anthologie deutlich: Es hat 1982 („Blick übers Meer“,herausgegeben von Helmut Martin) und 1986 („Der ewige Fluss“,herausgegeben von Kuo Heng-yü) bereits deutsche Übersetzungen taiwanischer Kurzgeschichten gegeben, die im Untertitel aber jeweils als „chinesische Erzählungen“ (aus Taiwan) betitelt waren. Taiwanische Erzählungen wurden hier also als Untergruppe der chinesischen Literatur definiert. 30 Jahre später verzichtet Diefenbach bewusst auf den China-Bezug und benennt die hauptsächlich chinesischsprachige, aber häufig im Taiwan-Dialekt und mit japanischen und englischen Sprengseln versehene Literatur als das, was sie ist: als Literatur aus Taiwan und als eine literarische Dokumentation des Landes. In der Einleitung erfährt der  Leser von der speziellen sprachlichen Entwicklung Taiwans seit der japanischen Kolonialzeit (1895–1945) und es werden die eigenen Sprachen der 16 anerkannten Ureinwohner-Stämme in Taiwan (weniger als 2 Prozent der Bevölkerung) anhand der Geschichte „Nein, sie ist meine Vuvu“ sowie der Nennung der Autorin mit ihrem ursprünglichen Stammesnamen Lamuru Pakawyan demonstriert. Mit Syaman Rapongan sind die Ureinwohner unter den insgesamt 25 taiwanischen Autoren sehr gut vertreten. An die jeweiligen Geschichten schließt sich eine Kurzbiografie des Verfassers und seiner Werke an und lädt zur weiteren Beschäftigung mit bevorzugten Autoren ein. Ein Überblick zeigt, dass unterschiedliche Altersgruppen vertreten sind, bis hin zur ursprünglichen Herkunft vom chinesischen Festland (Shu Chʼang, geboren 1928 in Hubei, Chang Show-Foong, geboren 1941 in Zhejiang, Peng Ko, geboren 1926 in der Provinz Hebei, und Yin Dih, geboren 1937 in Shanghai). Andere Autoren kommen aus Taiwan, sind aber Kinder von Vätern vom chinesischen Festland oder sind in Taiwan geboren, stammen aber nicht überwiegend aus Taipei, sondern aus Süd- und Ost-Taiwan und aus nichtstädtischem Umfeld.

Kriegsrecht bietet für diejenigen, die sich das erste Mal mit Taiwan beschäftigen, einen umfassenden und leserfreundlichen Einblick in das Land und seine Dörfer, Städte und Berge, die ihm von Seiten portugiesischer Seefahrer den Titel „Isla Formosa“ einbrachte. Aber auch für Sinologen und nicht-chinesisch sprechende Asienwissenschaftler lohnt sich das Buch, das mit einer 15-seitigen, von Lutz Bieg zusammengestellten, Bibliographie mit Übersetzungen taiwanischer Autoren und Sekundärliteratur schließt. Zahlreiche der literarisch angesprochenen Themen regen die sozialwissenschaftliche Analyse an: Von der Taiwan-China-Beziehung („Die Verwandten in Hongkong“) bis zum Führerkult und seinen künstlerischen Auswirkungen („Der alte Han und seine Bronzestatuen“).

Den ernsthaften Grundton, der im Hintergrund auch der komischsten Geschichten und Satiren lauert, setzt Thilo Diefenbach zu Beginn mit dem Gedicht „Der Hund“ (1972) von Cheng Chiung Ming, der sich dem Schweigegebot verweigert. Auch in der letzten Geschichte des Buches „Die Welt“ (2016) geht es um das Sprechen, das hier zum Ausdruck des Generationenkonflikts wird und mit der Aufforderung von Jung an Alt endet, den Mund zu halten – über ihre eigene Vergangenheit zu Zeiten des Kriegsrechts.

Titelbild

Thilo Diefenbach: Kriegsrecht. Neue Literatur aus Taiwan.
Iudicium Verlag, München 2017.
452 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783862054916

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