Ministerium, Schreiben und Satyriasis
Arne Ulbricht erzählt (aus) Guy de Maupassants Leben
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFiktionalisierte Künstlerbiografien sind ein Geflecht aus Fallstricken. Es gilt, sie in einem akrobatischen Schreibakt, der sich den Lesern als Eleganz präsentieren sollte, zu umgehen. Mit anderen Worten: Biografische Romane sind zarte Pflänzchen, die es mit Bedacht heranzuziehen gilt, stehen sie doch am äußersten Rand eines Feldes, das von wissenschaftlicher Exaktheit über lockere Schwänke aus dem Leben bis hin zu relativ freier Fiktionalisierung reicht. Immer sind sie von den Extremen des allzu Sachlich-Kühlen einerseits und des allzu Hymnisch-Trivialisierenden andererseits bedroht. Dass es einen begehbaren, wenn auch steinigen Weg durch alle Klippen gibt, beweist Arne Ulbricht – freier Autor, Lehrer für Französisch und seit der eigenen Schulzeit großer Fan von Guy de Maupassant – mit einem Roman, der Enthusiasmus und Wissen unterhaltsam und gut recherchiert miteinander verquickt.
Am Anfang steht der Anfang des Endes: Maupassants Selbstmordversuch zu Beginn des Jahres 1891, nachdem er den Neujahrsabend mit seiner Mutter in Cannes verbracht hat, nach besonders heftigen Migräneanfällen, die nicht zuletzt seiner Grunderkrankung, der Syphilis, zu schulden sind. Maupassant kommt in eine psychiatrische Klinik.
Nach diesem Einstieg richtet sich der Fokus auf Maupassants Kindheit – unbeschwert am Strand von Etretat mit seinem jüngeren Bruder Hervé und seiner Mutter, vom untreuen Vater getrennt lebend, nicht davor zurückschreckend, ihren Söhnen unter anderem Macbeth oder Gedichte von Charles Baudelaire vorzulesen. Zu Beginn seiner Schulzeit wird Guy zu Hause unterrichtet. Er verbringt sehr viel Zeit in der Natur, insbesondere am Strand, wo er ein Paar beim Geschlechtsakt beobachtet und damit seine eigene Sexualität entdeckt. Vor den ersten Abenteuern mit Frauen steht jedoch „die Hölle auf Erden“, das katholische Internat in Yvetot – kalt, unwirtlich und langweilig. Zwar entdeckt Guy bereits in der ersten Zeit dort „Block und Stift als Waffen gegen Ödnis und religiösen Stumpfsinn“, doch erst als er Freunde und damit Verbündete im Kampf gegen die Anstalt findet und mit ihnen einen Geheimbund gründet, wird das Leben erträglich für ihn. Die nächtlichen Eskapaden, zum Beispiel das Leeren eines Weinfasses im Klosterkeller, bleiben nicht unentdeckt und haben den Rauswurf der Beteiligten zur Folge. Guy schließt die Schule in Rouen ab, wo er regelmäßig Gustave Flaubert trifft. In diese Zeit fallen seine ersten ernsthaften Schreibversuche, sogar ein erster öffentlicher Erfolg mit einem Gedicht zum Schuljubiläum. Flaubert wird sein väterlicher Mentor, während der leibliche Vater ihn in die Welt der Damen einweiht. Kurz bevor das Jura-Studium beginnt, bricht der Deutsch-Französische Krieg aus, dessen Grausamkeiten Maupassant nicht verborgen bleiben, obwohl er den Militärdienst vor allem in der Heeresverwaltung ableistet.
Nach dem Krieg entschließt sich der gerade 20-jährige für eine Beamtenlaufbahn im Marineministerium. Fortan verbringt er jede freie Minute mit dem Schreiben von Gedichten und boulevardesk-obszönen Theaterstücken. Jedes Wochenende im Sommer rudert er mit Freunden auf der Seine. Daneben trifft er sich bei Flaubert mit Iwan Turgenew, Émile Zola und Edmond de Goncourt, dessen jüngerer Bruder Jules an der Syphilis gestorben ist. Wie offenherzig die Gespräche in diesem Kreis sind, wird deutlich, als Maupassant bekennt, dass „Vögeln“ für ihn wie „Rudern und Schreiben“ sei. In die Zeit der Zusammenkünfte bei Flaubert fallen weitere schriftstellerische Fingerübungen, ebenso ein immer heftigeres Leiden an der „Tyrannei des Ministeriums“ und schließlich die Syphilis-Diagnose. Im Verlauf der Behandlung mit Quecksilber verliert Maupassant alle Haare und kann sich nur mit Schreiben von seinem Leiden ablenken. Mit Kollegen und Freunden kommt er regelmäßig in Zolas Haus in Médan zusammen und beteiligt sich an dem Sammelband Soirées de Médan. Mit der darin veröffentlichten Novelle Boule de suif ist Maupassant der erste große Erfolg beschieden. Dann stirbt Flaubert und es folgen Wochen, in denen sein einstiger Zögling wie besessen arbeitet, obwohl ihn Krankheitssymptome unablässig quälen, insbesondere heftige Migräneanfälle, die mit dem Aussetzen des Sehvermögens auf dem rechten Auge einhergehen.
Mit dem Besuch Maupassants bei seiner Mutter, die sich aus gesundheitlichen Gründen längere Zeit auf Korsika aufhält, endet der Roman und öffnet sich gleichzeitig auf eine knapp zehnjährige Schriftstellerkarriere, die Maupassants Ruhm begründet.
Betrachtet man die inhaltlichen Schwerpunkte, die Ulbricht in dieser biografischen Revue setzt, wäre in einer klimaktischen Reihung zuerst das Ministerium zu nennen, in dem sich Maupassant eingesperrt fühlt und mit dem eine deutliche Analogie zu dem Aufenthalt in Yvetot hergestellt wird. Die Klage über diese Arbeit bezieht sich auf die Monotonie des Immergleichen, einhergehend mit dem Anwachsen administrativer Tätigkeiten im Verwaltungsapparat der 3. Republik und aufs heftigste mit jeder künstlerischen Kreativität kollidierend. Als zweites wäre Maupassants unersättliches sexuelles Verlangen zu erwähnen, seine Satyriasis, für die Ulbricht deutliche, mitunter hart an der Grenze zum Pornografischen lavierende Worte findet. Das jedoch, so ist zu konzedieren, verlebendigt den Text und macht ihn vermutlich für solche Leser attraktiv, denen Maupassant bislang nicht begegnet ist.
Als wichtigstes Thema tritt die sich zunächst schleppend, dann ganz sprunghaft vollziehende Entwicklung eines Schriftstellers hervor, dessen Anfänge heute kaum mehr rezipiert werden. Während Ulbricht die Titel dieser Gedichte und Theaterstücke in seinem Roman im Wortlaut zitiert, belässt er es für die späteren Werke bei Anspielungen. So offenbaren sich einerseits die Inspirationen, die Maupassant entweder direkt oder vermittelt begegneten und in die Genese seiner Texte einflossen, andererseits klafft gerade dadurch die kompositorische Leerstelle besonders deutlich auf, denn es fehlen in Ulbrichts Fiktion die 1880er Jahre, Maupassants intensivste dichterische Schaffenszeit. Das jedoch sollte man dem Autor nicht zum Vorwurf machen, sondern sich, falls überhaupt, einfach nur fragen, ob das Projekt ursprünglich eventuell weitergeführt werden sollte und dann unter Umständen an Sachzwängen scheiterte. Vielleicht hätte das Ende, das am Anfang steht, ursprünglich doch am Ende sein sollen. Oder war es von vorneherein als donnernder Paukenschlag gedacht, als Erfüllung des Menetekels, unter dem Maupassants Leben stand?
Falls dem so ist, dann ist hier lediglich in Betracht zu ziehen, dass die ersten Seiten im Vergleich zu allem Folgenden tendenziell langatmig wirken und sich Ulbricht hier nicht auf der Höhe des Stils befindet, die er im Anschluss erreicht. Dem wäre aber wiederum entgegenzuhalten, dass er gerade damit Maupassants Auffassung von realistischer Schreibweise erfüllt, dass nämlich Wahrheit nicht durch die simple Aneinanderreihung von Fakten, durch das bloß summative und genaue Abbilden erzeugt werde, sondern vielmehr durch eine Illusionierung mit Lücken, die ihren Konstruktcharakter offenlegt und eine besondere Art der Weitergabe, korrespondierend mit der Weltsicht des Autors, insinuiert. So auch Ulbricht: Er transportiert seine Perspektive auf Maupassant, seine Konstruktion eines Autors entsprechend der Vision dieses Autors selbst und so, dass er damit auch Leser in seine Weltsicht hineinzieht. Stilistisch pendelt sich diese Vision in einer Balance zwischen rationaler Distanz und emotionaler Nähe ein: Immer dann, wenn ein eher neutraler Blick auf die Ereignisse überwiegt, und immer dann, wenn Dialoge wiedergegeben werden, geben sich die Sätze hölzern, kantig, halten die Leser auf Abstand. Kommt es demgegenüber zur Innensicht, zur Wiedergabe der Gedankenwelt Maupassants, dann leuchtet das zu Ende des 19. Jahrhunderts in Schriftstellerkreisen diskutierte Ideal des „style indirect libre“, der erlebten Rede, auf – in zeitdeckenden Textpassagen, die ihre Leser uneingeschränkt mitnehmen in die illusionierte Wahrheit.
In seinem biografischen Roman über Maupassant legt Ulbricht, das ist ihm ebenfalls zugute zu halten, Wert auf akribische Recherche: Ein angemessen knappes Vorwort und ein Literaturverzeichnis beweisen, dass der Autor sich an den neuesten wissenschaftlichen Biografien orientiert hat. Die „ergänzende Literatur zu den einzelnen Kapiteln“ ist zusätzlich sehr wertvoll, weil sie die genauen bibliographischen Angaben zu den jeweils erwähnten Schriften Maupassants liefert.
So jämmerlich wie Maupassant am Ministerium scheint Ulbricht zwar nicht an der Schule zu leiden. Als wie paradox er jedoch seinen Broterwerbsberuf empfindet, zeigen seine Texte zum Schulbetrieb, unter anderem der vorzügliche Band Lehrer? Ein unverschämt attraktiver Beruf aus dem Jahr 2015. Bei all diesen Höhen und Tiefen wünscht man Ulbricht unbedingt, sein Schreibtalent weiter zu pflegen, die Ressource der erlebten Rede zu nutzen und an den ganz leichten Dialogdefiziten zu arbeiten. Wie dem auch sei: Sollte man vor Beginn der Auseinandersetzung mit biografischen Romanen mit Vorbehalten zu kämpfen haben, wird man diese beim Lesen von Ulbrichts Maupassant schnell über Bord werfen.
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