Eine Rückkehr nach Thulsern

Gerhard Köpfs „Das Dorf der 13 Dörfer“ knüpft an seine früheren Romane an

Von Friedrich VoitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Voit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 1980er Jahren hatte sich Gerhard Köpf einen Namen gemacht mit rasch nacheinander erschienenen Romanen – Innerfern (1983), Die Strecke (1985), Die Erbengemeinschaft (1987), Eulensehen (1989), um nur die wichtigsten zu nennen. In ihnen schuf er seinen imaginierten Ort Thulsern, lokalisiert im voralpinen Blauen Land. Es folgten noch eine Reihe weiterer Romane, Erzählungen und Essays. Feuilletonisten und Literaturwissenschaftler beschäftigten sich mit ihm und seinem Werk. Köpf, der auch lange Jahre im In- und Ausland als Literaturwissenschaftler lehrte, galt als einer der herausragenden Schriftsteller seiner Generation und seine Bücher wurden in führenden literarischen Verlagen veröffentlicht.

Um die Jahrtausendwende wurde es ruhiger um Köpf. Man hörte, er habe sich der Medizin, genauer der Psychiatrie zugewandt. Neue literarische Bücher erschienen weiter, doch nun in größeren Abständen, auch waren es meist kürzere Erzählungen, Essays, die nach und nach in abgelegeneren Verlagen herauskamen und jüngst sogar im Selbstverlag. Sein letzter Roman Käuze in Pfeffer und Salz (2008), in dem sich eine Gruppe schrulliger Emeriti verschiedenster Fachrichtungen recht überheblich über die ungebildete Oberflächlichkeit und die Geist- und Traditionslosigkeit der Gegenwart ereifert, rieb sich trotz reichlicher und oft amüsanter Selbstironie vielleicht doch zu sehr am aktuellen Zeitgeist. Nach einigen schmalen Erzähl- und Essaybänden erschien nun der Roman Das Dorf der 13 Dörfer, der – neu für Köpf – in Österreich im Wiener Braumüller Verlag herauskam.

Der Roman knüpft an seine frühen Romane an und bringt ein Wiedersehen mit der Welt Thulserns, nicht nur für die Leser, sondern auch für den Erzähler. Es gibt dabei keine nennenswerte Handlung. Der Erzähler, der eine Zeitlang als schlecht bezahlter Dozent Literatur lehrte, verdient sich seinen Unterhalt als Autor beim Rundfunk. Seit langem verfasst er kürzere Beiträge für die Sendereihe Kalenderblatt mit Berichten über ‚denkwürdige Begebenheiten‘, mit Nekrologen und Ähnlichem, zu der dann als weitere Sendereihe Das Zwölfuhrläuten hinzukam, in der er das Mittagsläuten bekannter Kirchen der Region vorstellt. Im Auftrag des Senders macht sich der in einer Stadt lebende Erzähler auf, um über die Hauptkirche und ihr Geläut im Dorf der 13 Dörfer zu berichten, in dem er einst aufgewachsen war und das er seit langen Jahren nicht mehr besucht hatte. Hinter der Bezeichnung „Dorf der 13 Dörfer“ verberge sich, so erläutert der Erzähler gleich zu Anfang, nichts Geheimnisvolles; der Ort, dessen Name ungenannt bleibt, habe schlichtweg 13 Ortsteile. Die Reise wird, wie zu erwarten, eine Rückkehr in die eigene Vergangenheit, in eine Kindheit und Jugend nach dem zweiten Weltkrieg. Gleich mit der Ankunft am Bahnhof, dem Ausgangsort seiner Lebensreise, als er den Ort damals verließ, setzt der Strom der Erinnerungen ein.

Der wohl wichtigste Zuhörer des passionierten Geschichtenerzählers war wohl seine verstorbene Frau, die ihn noch immer begleitet. Ihr Foto liegt zuoberst in seinem Gepäck und an sie sind noch immer die Bilder gerichtet, die er sich ins Gedächtnis zurückruft. Der Roman besteht aus einer Sequenz von lose aneinander gereihten kürzeren Erzählungen, meist vier bis fünf Seiten lang. In einem Reigen von konzisen Porträts lässt der Erzähler Menschen und Ereignisse aufleben, die ihn damals im Guten wie Negativen beeinflussten – kauzige Lehrer, Pfarrherren, immer wieder Außenseiter, Männer und Frauen, die der Krieg ins Dorf gespült hatte und die das Kind und den Jugendlichen beeindruckten, die man im Dorf aber als nicht recht zugehörig ablehnte, dazu Freunde, erste schüchterne Liebe et cetera. Auch Figuren der Familie des Erzählers, die mancher Leser bereits aus früheren Thulsern-Romanen kennt, tauchen wieder auf. Die gelungensten Geschichten erreichen eine evokative Eindringlichkeit. Alle Charaktere sind mit Empathie, Sympathie, aber auch noch nachhallendem Hohn und Zorn geschildert. Mit diesen „Scherben der Erinnerung“ wird der ganze Lebensraum, eine ganz und gar nicht heile Welt ohne jegliche Nostalgie nach und nach sichtbar und in ihm die verlorene Wärme und provinzielle Enge jener 1950er und -60er Jahre, die bei manchem Leser ähnliche Erinnerungen wach werden lassen.

Köpfs Erzähler ist wie sein Autor ein passionierter Leser, bei dem Leben und Literatur sich miteinander verbinden und wechselseitig erhellen. Er versteht es nicht nur, verführerisch Geschichten zu erzählen – gelegentlich mit bravourösen Einlagen wie eine Geschichte des Films der 1950er und -60 Jahre in einem langen Satz. Immer wieder flicht der Erzähler auch literarische Fundstücke in seine Erzählungen ein. Diese sind kursiv kenntlich gemacht – bisweilen mit Hinweis auf die Quelle, meist jedoch ohne. Ein Verzeichnis der „Anregungen, Quellen und Zitate“ im Anschluss gibt Fingerzeige. Diese Zitate sollte man nicht als prätentiöse Belesenheitsbelege missverstehen. Sie gehören zum literarischen Spiel, das Köpf den Lesern anbietet.

Eines der letzten Erinnerungsbilder im Roman gilt dem Vater des Erzählers und der Schilderung einer gemeinsamen Skiwanderung, bei der der Vater die Spur legt, der der Sohn sicher folgen kann. Es ist ein dankbares Gedenken an die Zuneigung und unerschütterlich Geborgenheit, die der längst verstorbene Vater einst dem Kind gab. Diese Erinnerung schließt mit einem bewegenden Zitatfund: „Er hat Spuren hinterlassen, aber keinen Staub.“ Das wünscht sich wohl auch der Erzähler dereinst für sich, wenn er, seine Erzählung – und so auch Köpf den Roman – beschließend, der noch immer geliebten Frau sein eigenes mögliches Verschwinden andeutet, ein Motiv, mit dem Köpf auch andere Geschichten ausklingen ließ.

Wie sein Erzähler, so scheint auch Köpf gelegentlich scheinbar gelassen mit dem Vergessenwerden zu kokettieren. Soweit ist es aber noch nicht. Auch er hat in der Literatur seiner Zeit Spuren hinterlassen, die aufgefunden werden, solange es Leser geben wird. Mit dem neuen Roman können die früheren Thulserniaden wieder oder sogar neu entdeckt werden. Wünschenswert wäre es, wenn der neue oder einer der vormaligen Verlage die schönsten der in den letzten Jahren etwas abgelegen publizierten Novellen (etwa Ein alter Herr, Als Gottes Atem leiser ging – eine ebenso unterhaltsame wie verehrende Hommage auf den halb-vergessenen Eduard von Keyserling – oder Die Souffleuse) zusammen mit einigen Reiseerzählungen und Essays in einem Band vorlegen würde – etwa zum für 2018 anstehenden runden Geburtstag.

Übrigens: Das Rundfunkfeature über das Mittagsläuten im Dorf der 13 Dörfer kam nicht zustande. Warum? Das möge man selbst nachlesen.

Titelbild

Gerhard Köpf: Das Dorf der 13 Dörfer.
Braumüller Verlag, Wien 2017.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783992001859

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch