Wie das Wasser des Atlantiks
Ein Sammelband verfolgt die verschiedenen Strömungen von „American/Medieval“
Von Janina Rojek
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSo vielseitig das Feld „American/Medieval“ so vage ist seine Bedeutung, wie der wenig greifbare Titel American/Medieval: Nature and Mind in Cultural Transfe des Sammelbandes von Gillian R. Overing und Ulrike Wiethaus illustriert. Die Herausgeberinnen machen so auch in der Einführung deutlich, dass sich der Begriff American/Medieval einer festen Definition entzieht, denn seine Bestandteile sind zugleich Adjektive und Nomen, jeweils dynamische und offene Kategorien, die zudem – und das kommt erschwerend hinzu – eine immense räumlich-zeitliche Trennung überbrücken. American/Medieval ist „about the eddying currents that flow between two unstable markers,“ welche die Beiträge des Bandes aus verschiedenen Sichtweisen verhandeln. Dabei ergibt sich weniger ein zusammenhängendes Ganzes mit einem klar verfolgbaren roten Faden, sondern vielmehr eine Ansammlung von Streiflichtern, die zu weiteren Diskussionen und Verhandlungen einladen. Die insgesamt neun Beiträge folgen den drei Axiomen „that A/M encodes settler state trauma, that it generates new archives, and that it transfers cultural ways of being in and with nature and its creatures“. Während die meisten Aufsätze mehr als eines dieser komplexen Themengebiete anschneiden, ergibt sich aus den Axiomen eine lose dreiteilige Struktur des Bandes anhand der thematischen Cluster „Altes Trauma“, „Neue Archive“ und „Kreaturen in Bewegung“, die in sich ebenfalls verschiedene Gedankengänge und Ideen zusammenbringen, aber nicht -führen. Im Folgenden soll ein streiflichtartiger Überblick einen Eindruck über die Bandbreite und Limitation von American/Medieval aufzeigen.
Während die Leserin oder der Leser im ersten Teil vielleicht die Beschäftigung mit eingangs erwähnten Besiedlungstraumata erwarten mag, eröffnet ihn Tina Marie Boyer mit ihrer Untersuchung der fiktiven Ursprungsgeschichten des Internet-Horror-Memes Slender Man. Die Bezugnahme auf das europäische Mittelalter erfüllt hier gleich zwei Zwecke: Zum einen verleiht es dem kulturellen Erbe Amerikas Authentizität, zum anderen ist es weit genug entfernt, um als Schauplatz und Ursprung für monströse Wesen und Vorlage für neue Monster zu dienen. Ein imaginiertes europäisches Mittelalter ist dabei sinnstiftend für ein modernes amerikanisches Phänomen.
Ulrike Wiethaus‘ Beitrag erschließt ein ähnlich monströses Wesen, den Wirtschaftsmenschen, eine Verkörperung kapitalistischer Profitsucht, die zunehmend zum Ausdruck und zur Leitfigur antisemitischer Propaganda wird und ihren Ursprung in mittelalterlichen Stereotypen des habgierigen Juden hat. Wiethaus geht in ihrem Beitrag jedoch weniger auf den Ursprung ein, als vielmehr auf die Verhandlung und Beziehung von Kapitalismus und Religion, wie sie Max Weber und Karl Marx postulieren. Sie zeichnet den Weg und die Verwandlung des Wirtschaftsmenschen über den Atlantik und zurück nach; ihre Argumentation führt sie dabei nur am Rande ins Mittelalter. Dies zeigt, dass das kulturelle Erbe amerikanischer Mythen zwar durchaus mittelalterliche Spuren enthält, diese jedoch mit der Zeit verwässern, sodass sich die Frage stellt, wie relevant der Bezug ist.
Die eindeutigste Verbindung findet sich wohl in pseudo-mittelalterlichen Kulturphänomenen, wie es Mary Kate Hurley im zweiten Teil mit Game of Thrones, bzw. der Romanvorlage A Song of Ice and Fire beschreibt. Das Genre dieser Werke wird oft als mittelalterliches Fantasy-Epos beschrieben. Hurley argumentiert, dass diese Beschreibung gerade in ihrer Paradoxie akkurat sei, da der Text so als ein „fictional temporal archive“ fungiere, welches „an alternative medieval past that is ultimately less complicated and nuanced than its historical referent“ kreiere. Das zeitliche Archiv ist der wichtigste Fokus ihres Aufsatzes, denn es leitet nicht nur das Genre und den Ursprung des Textes auf einer Meta-Ebene, sondern es beschreibt auch die Beziehung der fiktionalen Charaktere zu ihrer Vergangenheit. Narben – sowohl menschliche Narben körperlich-psychischer Natur, als auch figurative Narben der einst bewaldeten und nun gerodeten und ‚zivilisierten‘ Landschaft Westeros‘, welche die Eroberungsfeldzug Aegons und damit eine gewalterfüllte Vergangenheit in Erinnerung ruft – sind hier der zentrale Ausdruck des zeitlichen Archivs. Eine ähnliche figurative Narbe prägt die Geschichte Amerikas, welche auf gewaltvoller Eroberung basiert. Hier wird Hurleys Argumentation leicht schwammig, da sie einerseits anerkennt, dass Amerika in diesem Vergleich die Seite der Eroberungsmacht einnimmt, jedoch gleichzeitig erklärt, dass nur ein fiktionaler Bezugspunkt, nämlich das Genre des Fantasy-Epos eine Identifikation mit der präferierten Seite der Geschichte erlaube, denn „in order for the ‚old‘ to be ‚true‘, it must be safely distant from ist audience, but sufficiently familiar that the audience can see in it ist own image.“ Wenn Catelyn Stark jedoch die vernarbte Landschaft betrachtet und an die einfachen Fischerleute denkt, die durch Aegons Eroberungsfeldzug vertrieben wurden, ist ihr Bezug zu dieser Vergangenheit – ähnlich wie der der zeitgenössischen amerikanischen Leserin oder Zuschauerin – im Zwischenraum. Sie ist zugleich weder dem einfachen Fischervolk, noch der Eroberungsmacht zuzuordnen. Ohne dass Hurley es in diesen Worten sagt, ist es vielleicht genau dies, was den „peculiarly American mediviealism“ George R. R. Martins ausmacht. Den Bogen spannend zum Titel des Bandes greift Hurley erneut das Paradox des Genres und des Begriffs American/Medieval auf: beide Bezeichnungen schweißen Konzepte zusammen, die sich gegenseitig exkludieren und nur durch „imaginative acts that give it form“ existieren.
In ähnlicher Weise spannt Joshua Davies den Bogen über die amerikanische Eisenbahn ins Mittelalter: Anhand literarischer Beschreibungen von Bahnhöfen, der gotischen Architektur von Bahnhofshallen und Werken über diese Architektur beiderseits des Atlantiks beschreibt er die verschiedene Facetten und Bewertungen der Gotik und bestätigt somit seine Aussage, dass die Gotik „no less than other forms of medievalism, is fascinated by the producation and interpretation of difference“, die sich in sozialen Hierarchien niederschlägt und diese durch die Verortung in einer imaginierten Vergangenheit legitimiert. In diesem Sinne spiegelten das Mittelalter und die Gotik aktuelle soziale Anliegen wieder und kreierten damit eine Art Mittelalter, „which suggests that the medieval has never not been modern“. Davies‘ Beitrag ist, wie Overing und Wiethaus in der Einleitung schreiben „a far-reaching analysis of the cultural and visual apparatus that is the American railway” – vielleicht auch etwas zu weitreichend, denn seine vielen Ideen lassen sich kaum in ein einziges Hauptargument zusammenführen und einige im Titel erwähnte Aspekte bleiben unerklärt.
Im letzten Teil wendet sich American/Medieval den im Untertitel beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur zu. Margaret D. Zulick untersucht beispielsweise, Wladimir Propps Analyse des Zaubermärchens adaptierend, Tierfabeln und Tiernarrative und argumentiert, dass sie Variationen der immer selben Geschichte sind. Ihre Analyse beinhaltet vier ausgewählte Beispiele, welche von antiken bis mittelalterlichen Fabeln über Trickstergeschichten bis hin zu virtuellen Tiernarrativen in der Furry Szene reichen, die sich des Civil Rights und Coming Out-Diskurses bedienen. Ihr Augenmerk liegt dabei weniger auf einer Aushandlung der transatlantischen und -historischen Übersetzung (im doppelten Sinne des Wortes) der Tierfabel Reineke Fuchs in die amerikanischen Volkserzählungen von Joel Chandler Harris um Brer Rabbit, sondern vielmehr auf den narrativen Sequenzen der jeweiligen Genres und der Übertragung einzelner Elemente, Charaktere oder Motive in das andere Genre. Sie zeigt damit auf, wie das Tiernarrativ als Medium der Sozialkritik nutzbar ist, wobei mittelalterliche Ausprägungen der Tierfabel weniger der Ursprung, als vielmehr ein Erscheinungsbild des Narrativs sind. Ein anderer Ausdruck der Sozialkritik findet sich in Narrativen von Doppelleben, die im Zentrum von Ulrike Wiethaus‘ Beitrag„The Black Swan and Pope Joan: Double Lives and the American/Medieval“ stehen. Der Mythos um Päpstin Johanna, die im 9. Jahrhundert regiert haben soll, sogenannte „Fairy Lover“ Legenden über gestaltwandelnde, übernatürliche Wesen, welche ihren menschlichen Geliebten besondere Geschenke (wie Wissen oder Macht) geben, und nicht zuletzt der Film Black Swan sind ausgewählte Beispiele eines Narrativs des Dopplungsprozesses, der aus einer subalternen (weiblichen) Position hervorgeht und damit hegemoniale Ansprüche einer männlichen Überlegenheit aushebelt. Die Legende um Päpstin Johanna bedient sich der kirchlichen und royalen Tradition der Dopplung: Der Glaube, die Identität und Autorität des Königs teile sich in einen sterblichen, natürlichen Körper und einen überirdischen Staatskörper, wurde auch auf das Amt des Priesters und Papstes übertragen. Weibliche „Zwillingsbildung“ im Sinne einer Dopplung entweder des weiblichen Körpers als Körper und Staatskörper oder im Sinne eines ausgelagerten Doppels als Ausdruck der Transgression der weiblichen sozialen Position (wie in der Fairy Lover Legende), bezihungsweise des weiblichen Egos (wie in Black Swan) ist zugleich eine Brückenbildung zwischen männlichen und weiblichen sozialen Feldern, die bis in heutige feministische Bewegung Bedeutung hat.
Die Herausgeberinnen beschreiben die vorgenommene Gliederung und das Projekt American/Medieval anhand der Metapher des Atlantiks – „ebbing, flowing, eddying“ – welche nicht nur die Verbindung der Kontinente Europa und Amerika verdeutlicht, sondern auch die Reichweite und zugleich Ungreifbarkeit des Begriffs. Die hier beschriebenen Streiflichter machen deutlich, welche Stärken und Schwächen der vorliegende Band enthält: Zum einen zeigt er Wege durch ein, so Overing und Wiethaus, relativ unerschlossenes Territorium auf, das durch eine Reihe von Fragen immer weiter geöffnet wird, zum anderen kann er die Frage, welche neue Erkenntnis das in den einzelnen Beiträgen mehr oder minder stark postulierte Verständnis von American, Medieval und American/Medieval erreicht wird, nicht abschließend beantworten. Der Band American/Medieval bietet dennoch Denkanstöße und Gedankenexperimente für die weitere Kartographie des Begriffs.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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