„What are you doing in Germany?“

Stimmen für eine andere Geschichtsschreibung des bundesdeutschen Films

Von Peter EllenbruchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Ellenbruch

Nachdem die Filmgeschichtsschreibung zum bundesdeutschen Kino zwischen dem Oberhausener Manifest und den Entwicklungen des sogenannten Neuen Deutschen Films jahrzehntelang wie betoniert schien, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Aktivitäten, um die seltsam kanonisierte und ideologisch fragwürdige Situation aufzubrechen. Eine der wohl wirkmächtigsten Maßnahmen in diesem Zusammenhang dürfte der Dokumentarfilm Verfluchte Liebe deutscher Film von Dominik Graf und Johannes F. Sievert sein, der 2016 veröffentlicht wurde (rezensiert in der Ausgabe November 2016). Nun gibt es vom selben Team mit Offene Wunde deutscher Film eine Fortsetzung jenes Projekts. Im gleichen Stil geht es hier weiter mit der Darstellung einer alternativen Film- und Fernsehgeschichtsschreibung der BRD, wobei die Schwerpunkte der Betrachtung in den 1970er und 1980er Jahren liegen, ergänzt allerdings durch Ausflüge in die 1950er/60er Jahre einerseits und bis in unsere Tage andererseits. Dabei ist von weitreichenden wissenschaftlichen Analysen bis zu persönlichen Breitseiten alles zu erleben. Zu Wort kommen hier VertreterInnen einer erweiterten Perspektive auf das BRD-Kino, sowohl aus der Filmpraxis als auch aus der Filmhistoriographie – und verhandelt werden vor allem Faszinationen bezüglich des Genre-Kinos, aus denen Wünsche hervorgingen, auch in der Bundesrepublik populäres Kino gegen die Intellektualisierungen des Neuen Deutschen Films lebendig zu halten. Etliche Personen aus dem ersten Teil tauchen hier wieder auf, um für ihre Sache einzutreten. So teilt Klaus Lemke weiter gegen eine biedere Art des Filmemachens aus, und etliche seiner Filme werden hier bezüglich ihrer Produktionseigenarten näher beleuchtet. Wolfgang Büld kann man als vielfältigen Filmemacher jenseits seiner bekannteren Neue-Deutsche-Welle-Filme der frühen 1980er Jahre kennen lernen. Wolfgang Petersen und Carl Schenkel geben dem Publikum einige Einsichten ins Verhältnis der Filmkulturen von BRD und USA. Doch das wären nur einige wenige Facetten, die Regisseure, Schauspieler, Schnittmeister und (Film)Musiker hier einbringen. Für die filmhistorischen Einordnungen zuständig sind Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto, Rainer Knepperges und Olaf Möller, mit ihnen zusammen entdeckt man die Afrika-Filme von Jürgen Goslar aus den 1970er Jahren, Erstaunliches aus dem Spätwerk Georg Tresslers, die Schauer-Qualitäten der „Moorfilme“ sowie die dystopischen Genre-Geniestreiche des Wolfgang Menge, der als Autor in einer Zeit Fernsehen machen durfte, als die Sendeanstalten sich noch etwas trauten und das formatierte TV noch auf Abstand gehalten wurde.

Die Aussagen aus den Interview-Situationen werden mit Filmausschnitten, Produktionsfotos, Plakatmotiven und Kommentaren von Dominik Graf verwoben, so dass sich eine Flut von Informationen und Ideen über das Publikum ergießt. Vielfach wird dieses Werk deshalb als „Essay-Film“ oder „Film-Essay“ bezeichnet, doch da das Label „Essay“ heutzutage immer dann verwendet wird, wenn verschiedene Materialien nicht erkennbar dokumentarisch-chronologisch kompiliert werden, greift diese Bezeichnung zunächst zu kurz. Dieser Film ist vielmehr gleichermaßen ein Aufklärungsfilm und ein Nachdenkfilm. Aufklärungsfilm für diejenigen, die immer noch in einem Verständnis des westdeutschen Kinos jener Zeit verharren, das beim Oberhausener Manifest ansetzt und den Neuen Deutschen Film für die filmhistorische Hauptsache der 1970er Jahre hält, Nachdenkfilm für diejenigen, die Versatzstücke des hier verhandelten durchaus kennen, doch noch keine roten Fäden für einen größeren historischen Zusammenhang gefunden haben. Dass Offene Wunde deutscher Film letztlich einer klassischen Essay-Form folgt, die keine abgeschlossenen Argumentationen und keine chronologisch-festgefahrenen Zusammenhänge liefern will, beflügelt selbstredend dieses Nachdenken – man muss an der Darstellung hochkonzentriert dranbleiben, um z.B. den Übergängen und Zusammenhängen zwischen Heimatfilm und Horrorfilm oder den Produktionsbewegungen zwischen Kino und Fernsehen folgen zu können. Hier wird einem nichts Formatiertes vorgekaut, man muss sich auf die teils recht schnellen Kompilationsübergänge einlassen, dabei Gedanken folgen, die manchen sprunghaft vorkommen mögen. Das wäre für viele wohl ein Kritikpunkt, dass man in kurzer Zeit mit so vielen Personen, Zusammenhängen und Standpunkten konfrontiert wird, sodass man kaum alles mitbekommen kann. Doch diese Form ist gerade die Stärke dieses Films – sie sagt denjenigen, die mit einem kanonisierten Bild der bundesdeutschen Filmgeschichte im Publikum sitzen: „Seht her, das habt ihr alles verpasst! Während ihr euch jahrzehntelang über ‚Literaturverfilmungen‘ des Neuen Deutschen Films unterhalten habt, haben andere sich um echtes populärkulturelles Kino gekümmert.“

In diesem Sinne ist die zweimal wiederholte Schlussphrase des Films „What are you doing in Germany?“ auf verschiedenen Ebenen interpretierbar – nicht nur als Frage nach dem wenig Bekannten und Verdrängtem im bundesdeutschen Kino sondern auch als anklagende Nachfrage, warum so viele Film-Strömungen zwischen 1949 und 1989 mit historiographischer Nichtbeachtung gestraft wurden – und warum die durch die „Oberhausener“ und ihre Adepten geforderte und mitgestaltete Filmförderung bis heute letztlich Genre-Kino verhindert. Denn durch diese beiden Facetten – die nach wie vor recht einseitige Betrachtung der bundesdeutschen Filmgeschichte und die aktuell eher neo-bildungsbürgerliche Ausrichtung vieler Filmförderungsanstalten – bleibt der Umgang mit deutschen Filmen mit der Situation einer „offenen Wunde“ vergleichbar: dort ist nichts verbunden oder stringent behandelt, vielmehr wird höchstens hier und da inkonsequent herumgedoktert, sodass man nur hoffen kann, dass sich nicht alles noch richtig entzündet und zu einer fatalen Sepsis entwickelt.

Die Leistung von Graf und Sievert ist es allerdings, nicht nur auf diesen Zustand hinzuweisen sondern durch ihren Dokumentarfilm auch Denkanstöße und Filmtitel zur Vertiefung einer größer gedachten BRD-Film- und Fernsehgeschichte zu liefern – fürwahr ein großer Tupfer für die offene Wunde.

Offene Wunde deutscher Film
Deutschland 2017
Regie: Dominik Graf, Johannes F. Sievert
90 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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