Der Krimi im Intertext

In ihrer Studie „Morde und andere Geheimnisse in der Bibliothek. Über Buch-Räume in der Kriminalliteratur“ führt Lydia Schultchen-Holl zwei verschiedene Forschungszweige zusammen

Von Andrea KreuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Kreuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Bibliothek zum Tatort wird, so zeigt Lydia Schultchen-Holl in ihrer Dissertation Morde und andere Geheimnisse in der Bibliothek, sind weder der Gärtner noch der Butler die ersten Tatverdächtigen, denn als Zentralfigur der Bibliothek ist seit jeher der Bibliothekar zu nennen. Obwohl ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ein starker Wandel des traditionell männlichen Berufsbildes einsetzte, bleibt der Bibliothekar im Kriminalroman meist männlich. Eine Ausnahme bildet Rye Pomona, welche in Reginald Hills Dalziel-Pascoe-Krimis als Bibliothekarin und Mörderin in Erscheinung tritt. Wie sie selbst, so bildet auch ihr Arbeitsplatz, die öffentliche Stadtbibliothek, eine Ausnahme. Denn Bibliotheken eignen sich zwar als Krimi-Orte, weisen jedoch im Kriminalroman zumeist einen exkludierenden und gegenüber Neuentwicklungen, wie beispielsweise dem Internet, einen musealen Charakter auf. Im Kriminalroman mit der Bibliothek als zentralem Handlungsort ist tendenziell ein gewisser Überschuss an belesenen Charakteren zu verzeichnen. Die Bibliothek dient zumeist als Bühne für den Kriminalfall. Nur in einem der von Lydia Schultchen-Holl analysierten Romane findet jemand wirklich inmitten der Bücher den Tod.

Die Dissertation untersucht das seit dem 19. Jahrhundert sehr beliebte Bibliotheksmotiv im Kriminalroman. Ziel der Arbeit ist der Brückenschlag zwischen zwei verschiedenen Forschungszweigen. Bezogen auf die Theorien der Kriminalliteratur wurde eine strukturanalytische Herangehensweise gewählt, im Rahmen der Kontextualisierungen des Bibliotheksmotivs ein narratologisch und semiotisch ausgerichteter Bezugsrahmen. Untersucht wird hierbei die imaginäre Bibliothek, bezogen auf die Typensystematik literarischer Bibliotheken von Dietmar Rieger. Von besonderer Relevanz ist dabei ihre Funktion als Wissensspeicher.

Für eine möglichst umfassende Beantwortung der Frage nach den Effekten und Funktionen der Bibliothek im Kriminalroman besteht die Arbeit aus vier Einzelanalysen verschiedener Bibliotheksrepräsentationen und -funktionen im Kriminalroman, welche durch einen umfassenderen motivgeschichtlichen Überblick ergänzt werden. Die Detailanalysen berücksichtigen Werke, in denen die Bibliothek der zentrale Schauplatz ist. Der anschließende, breiter angelegte Überblick wendet sich hingegen Werken zu, in denen die Bibliothek als Nebenschauplatz fungiert. Neben Reginald Hills Kriminalromanen in der Stadtbibliothek umfassen die ersten vier Analysen die Universitätsbibliothek im Kriminalroman anhand von Michael Innes‘ Ermittler John Appleby, die labyrinthische Klosterbibliothek bei Eco und die politisch geprägte Privatbibliothek in Leonardo Paduras Nebel von gestern. An dieser Auswahl wird die komparatistische und internationale Ausrichtung der Arbeit bereits deutlich. Die Wahl des Textkorpus ermöglicht somit eine umfassende und differenzierte Betrachtung des Bibliotheksmotivs.

Ecos Roman Der Name der Rose ist zweifelsfrei als der Bibliothekskrimi schlechthin zu bezeichnen. Die Bibliothek fungiert hier als historisch konservierende Instanz. Sie weist eine labyrinthartige Struktur auf und der im Krimi häufig präsente ‚locked room‘ (traditionell ein hermetisch verschlossener Raum, in dem ein Mord begangen wurde, was zunächst logisch unmöglich erscheint) wird hier als Versteck für kritische Literatur verwendet. Während die Mönche in ewiger Wiederholung die Bibel oder bibelkonforme Literatur kopieren und rezipieren, verfügt der Bibliothekar Jorge über einen gänzlich anderen Kanon. Ebenso wie in den weiteren analysierten Kriminalromanen mit der Bibliothek als zentralem Handlungsort sind die vielen intertextuellen Verweise, beispielsweise auf Sir Arthur Conan Doyles Eine Studie in Scharlachrot und natürlich Jorge Luis Borges durch die Figur des Bibliothekars, augenfällig. Der Bibliothekskatalog erweist sich bei Eco als grundlegendes Ermittlungsinstrument und führt schließlich zur Entdeckung des locked room und der Forderung nach der Herausgabe des vergifteten Buches, zugleich Motiv und Mordinstrument. Schließlich wird Jorge ebenso wie die Bibliothek von den Flammen erfasst und bildet damit die, eingangs erwähnte, einzige Figur, welche wirklich inmitten von Büchern stirbt. Die Zerstörung der Bibliothek kann zwar einerseits als Scheitern gewertet werden, da der Mörder nicht gefasst werden kann und anstelle eines Erkenntnisgewinns deren Verlust am Ende steht. Andererseits kann die brennende Bibliothek aber auch als Bild für den Beginn einer neuen Mediengesellschaft und den Triumph des Wissens über eine idealistische Utopie betrachtet werden.

Analog zu Eco werden in den anderen Einzelanalysen die Besonderheiten der Universitätsbibliothek bei Innes, der Stadtbibliothek bei Hill sowie der politischen Privatbibliothek bei Padura in den jeweiligen Kapiteln pointiert herausgearbeitet.

Im abschließenden Kapitel zu den massenweise auftauchenden Krimibibliotheken sind die Ausführungen zur Kinder- und Jugendliteratur von besonderem Interesse. Bereits im Rahmen der Drei ???-Reihe um Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews war Letzterer für Recherche und Archiv zuständig. Die Bibliothek bildet hier zwar keine feste Größe, ist jedoch in der gegenwärtigen phantastischen Kinderliteratur, beispielsweise der Harry-Potter-Reihe oder den Romanen von Cornelia Funke zentraler Bestandteil. Schultchen-Holl führt weiter aus, dass hier eine Verbindung zwischen dem Kriminalroman, besonders der Thriller-Variante und dem Abenteuerroman hergestellt wird und diese zugleich kriminalistische und abenteuerliche Erzählweise auch den Einsatz des Bibliotheksmotivs begünstigt. Die phantastische Komponente ermöglicht zudem die Verwendung von Motiven wie beispielweise der Reise durch das Buch, unter anderem bei Cornelia Funke. Somit erfolgt im Rahmen der Kinder- und Jugendliteratur die Rückwendung des Kriminalromans zu seinen phantastisch abenteuerlichen Anfängen.

Das Ziel einer Zusammenführung der Forschungen zum Kriminalroman und dem Bibliotheksmotiv ist Schultchen-Holl in jedem Fall gelungen. Durch die Wahl der Analysebeispiele konnten unterschiedliche Funktionsweisen innerhalb des Kriminalfalls ermittelt und aufgezeigt werden. Diese Erkenntnisse werden im letzten Kapitel durch den weitergefassten Überblick zur Kriminalliteratur mit der Bibliothek als Nebenschauplatz ergänzt. Gerade die Betrachtungen zur Kinder- und Jugendliteratur zeigen hierbei eine Beziehung zwischen dem Kriminalroman und dem Bibliotheksmotiv auf, welche in der Sekundärliteratur bis dato noch nicht berücksichtigt wurde und erlauben interessante Schlussfolgerungen auf die aktuelle Adaptation des seit jeher beliebten und stets wandelbaren Kriminalromans.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Lydia Schultchen-Holl: Morde und andere Geheimnisse in der Bibliothek. Über Buch-Räume in der Kriminalliteratur.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2017.
259 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812119

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