Autobiografien japanischer Unternehmer
Matthias Wittig versammelt in „Identität und Selbstkonzept“ Beschreibungen von Leben und Werk zwischen verlogener Selbstdarstellung und prosaischer Gebrauchsliteratur
Von Matthias Koch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWarum erschien der vierte und letzte Band der Autobiografie von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) über Erlebnisse zwischen seiner Geburt und dem Jahr 1775 mit einer rund 19-jährigen Verspätung – die ersten drei Bände waren bereits 1811 bis 1814 unter dem Titel Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit veröffentlicht worden – im Jahr 1833 nach dem Tod des Verfassers? Um zu seinen Lebzeiten existierende Personen nicht zu kompromittieren und keine bösen Briefe zu bekommen? Das könnte in diesem Fall stimmen – und lässt zugleich tief blicken für die Textsorte der Autobiografie im Allgemeinen.
Matthias Wittigs Studie Identität und Selbstkonzept. Autobiographien japanischer Unternehmer der Nachkriegszeit ist eine textwissenschaflich-philologische Dissertation und kombiniert beste japanistische Tradition mit gegenwärtiger Literaturwissenschaft. Entstanden ist sie im Fachgebiet Japanologie an der Freien Universität Berlin. Das Buch versammelt neben der ausführlichen Einleitung und einem kurzen Schlussteil Analysen von vier Autobiografien japanischer Unternehmer. Im Einzelnen geht es um die – im Original japanischsprachigen – Lebensberichte des Damenunterwäsche-Tycoons Kōichi Tsukamoto (1920–1998), des Mini-Haus-Erfinders Nobuo Ishibashi (1921–2003), des Bankers und Asahi-Brauerei-Retters Hirotarō Higuchi (1926–2012) und des Unternehmeringenieurs, ordinierten buddhistischen Mönchs sowie Kyocera- und KDDI-Gründers Kazuo Inamori (geb. 1932). Deren Hauptinhalt wird gerafft wiedergegeben und anhand von Forschungsfragen zur Schreibmotivation sowie zum roten Faden im Spannungsfeld zwischen der Darstellung und Konstruktion der eigenen Identität und des Selbst im Sinne situativer Selbstdarstellungen und des umfassenderen Selbstkonzepts textwissenschaftlich analysiert.
Bei den Autobiografien der vier Entrepreneure handelt es sich um rückblickende Beschreibungen des eigenen Lebens und Wirkens durch die Augen eines empathisch-verständnisvollen Menschens, der selektiven Wahrnehmung, der leicht lückenhaften Erinnerung und sehr individuellen Schwerpunktsetzung sowie den wirklichkeitsverfremdenden Selbstdarstellungszwecken des jeweiligen Verfassers. Darüber hinaus geben sie ausgewählte Einblicke in das selbstentblößte Seelenleben, aufbereitet für eine an wirtschaftlich überdurchschnittlich erfolgreichen Persönlichkeiten der Konkurrenzgesellschaft interessierte Öffentlichkeit.
Die Texte sind ursprünglich in einer Autobiografie-Kolumne im Kulturteil der Morgenausgabe der japanischen Wirtschaftszeitung Nihon Keizai Shimbun (The Nikkei; jp. Shimbun = Zeitung) erschienen. Sie ist unter den Wirtschaftszeitungen mit etwas weniger als drei Millionen verkauften Exemplaren der Morgenausgabe die auflagenstärkste in Japan. Das Veröffentlichungsmedium verweist auf den Leserkreis: UniversitätsabsolventInnen und Besserverdienende, die an „der Wirtschaft“ im Allgemeinen und an über einen längeren Zeitraum erfolgreichen Unternehmensleitern und ihren Erfolgsgeheimnissen in Form von „Berufsautobiographien“ und prosaischen Sachbüchern wie „Ratgeberliteratur“ im Besonderen interessiert sind.
Zeit- und raumübergreifend besitzt die Autobiografie seit dem Altertum die „Grundfunktion eines Rechenschaftsberichts“. In diesem Zusammenhang diskutiert Wittig am Anfang seiner Einleitung den Autobiografie-Begriff im Westen und in Japan und den „Sinn und Wert einer Definition“ anhand deutscher Begrifflichkeiten (Autobiografie, Ego-Dokument, Ich-Roman, Lebensbeschreibung, Selbstporträt, Selbstzeugnis, Tagebuch), englischer Termini (autobiography, biography, life narrative, life-writing, self-writing) und japanischer Wortschöpfungen (denki 伝記 (Biografie, Lebensbeschreibung), ikita akashi 生きた証 (Beweis, gelebt zu haben), jibunshi 自分史 (Eigengeschichte), jiden 自伝 (Autobiografie), jiden meita mono 自伝めいたもの (autobiografieartiger Text), jidenteki tekisuto 自伝的テキスト (autobiografischer Text), jijoden 自叙伝 (Autobiografie), kaikoroku 回顧録 (Lebenserinnerung), kaisōroku 回想録 (Memoiren), nikki 日記 (Tagebuch), shishōsetsu 私小説 (Ich-Roman), shōgen 証言 (Zeugnis, Selbstzeugnis), zuihitsu 随筆 (Miszelle)). Der Verfasser neigt dem Begriff „Selbstzeugnisse“ zu, gibt jedoch dem Terminus „Autobiographie“ den Vorzug, da es sich hierbei um den analogen Begriff zum japanischen Begriffspaar „jiden / jijoden“ 自伝 / 自叙伝 handelt, den alle vier Autobiografen selbst auf ihren jeweiligen Rechenschaftsbericht über das eigene Leben und Werk anwenden.
Die vier Unternehmer verflechten die Zeitenläufte mehr oder weniger eng auf der Grundlage ihrer individuellen Selbstbilder zu je eigenen Selbstdarstellungen und Selbstkonzepten mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf ihren frühen Lebensjahren. Zwei der vier Autobiografen haben den „Zweiten Weltkrieg“ (dainiji sekai taisensō, 1939–1945), der in Japan mit Bezug auf japanische Geschichte im engeren Sinne häufig – wegen des Angriffs auf Pearl Harbor Anfang Dezember 1941 – als „Pazifischer Krieg“ (Taiheiyō sensō, 1941–1945) und im weiteren Sinne auch – wegen des Mukden-Zwischenfalls Mitte September 1931 in der Mandschurei – als „Fünfzehnjähriger Krieg“ (jūgonen sensō, 1931–1945) bezeichnet wird, außerhalb des japanischen Mutterlandes erlebt.
Selbstverständlich gehen nicht alle Unternehmerautobiografen chronologisch vor, nichtsdestoweniger kann der zeitliche Rahmen des Untersuchungszeitraums nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein politik-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlich wie folgt gegliedert werden: die Besatzungszeit (1945–1952), die Zeit des Wiederaufbaus (1950–1954) mit dem wegen des Korea-Krieges entstandenen Sonderbedarf (1950–1953/54), die durchschnittlich zweistellige ökonomische Hochwachstumsphase (1954–1973), die Phase stabilen mittleren Wachstums mit durchschnittlich über fünf Prozent (1973–1991) und die sogenannte Phase der Stagnation, die in Japan seit ein paar Jahren häufig als die „verlorenen zwanzig Jahre“ (ushinawareta nijū nen, 1991–2010) bezeichnet wird. Der Anfang November 2017 zum vierten Mal wiedergewählte Premierminister Shinzō Abe (Amtszeit 26.09.2006–26.09.2007 und 26.12.2012–) verfolgt seit seinem Amtsantritt Ende 2012 ein nach ihm „Abenomics“ etikettiertes Wirtschaftswachstumsprogramm mittels einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik gegen eine schon relativ lang anhaltende Phase der Deflation.
Die vier Unternehmer waren nach dem Zweiten Weltkrieg je nach Person über fünf, sechs Jahrzehnte hinweg bis zum Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts auf der obersten Führungsebene ihrer Wirtschaftsorganisationen aktiv. Drei Personen – Tsukamoto, Ishibashi und Inamori – waren (Mit-)Gründer und (Mit-)Eigentümer ihres Unternehmens und somit die meiste Zeit ihrer Entrepreneur-Existenz hauptverantwortliche Unternehmensleiter und zugleich Topmanager im operativen Geschäft ihrer Firma beziehungsweise Unternehmensgruppe. Das galt nicht für Higuchi, der vor seinem Engagement bei der Asahi-Brauerei (Asahi Breweries) jahrzehntelang als Banker die Karriereleiter bis zum stellvertretenden Direktor der Sumitomo-Bank (Sumitomo Ginkō) emporgeklettert war, und in der Bier-Branche als Seiteneinsteiger galt. Ihm wurde als Führungskraft die Kommandogewalt über die Belange der Asahi-Brauerei anvertraut, weil seine Bank Kapitalbeteiligungen an dem in der Meiji-Zeit (1868–1912) während der industriellen Revolution gegründeten Unternehmen hielt und der Mann über ihm, Ichirō Isoda (1913–1993), unter Bankern auch als „Kaiser der Sumitomo-Bank“ (Sumitomo Tennō) bekannt, Higuchi den letzten Karriereschritt und die Beförderung an die Spitze der Sumitomo-Bank bis dahin verweigert hatte.
So individuell die Lebensläufe der untersuchten Unternehmer und ihre jeweiligen Geschäftsmodelle (gewesen) sein mögen, so gibt es über die beinharte Elementarbedingung und Daueraufgabe hinaus, dass Handels-, Industrie- und Geldkapitalisten das Vermögen, über das sie verfügen, vermehren müssen, eine Reihe von gemeinsamen sinnstiftenden Erzählmotiven. Fast ist man geneigt zu sagen: Wie man es nicht anders erwartet hätte, wenn Entrepreneure aus dem Nähkästchen parlieren, auf Höhen und Tiefen ihres insgesamt sehr erfolgreichen beruflichen sowie privaten Lebens dankbar, selbstbewusst, bescheiden und stolz zurückblicken und zugeben, viel, aber doch noch nicht alles erreicht zu haben, was sie sich vorgenommen hatten, und ungezählte Male das „Glück“ erwähnen, das sie in der einen oder anderen prekären Situation hatten. Aber sie wären keine fähigen Entrepreneure, wenn sie die Gelegenheit nicht im richtigen Moment beim Schopfe zu packen verstanden hätten.
Zwei der vier Persönlichkeiten verfügen wegen der Ungnade der frühen Geburt auch über kontinentale Kriegserfahrungen in Kampfverbänden und bauen ihre tendenziell eher negativen Erfahrungen mit der Vorneverteidigung des japanischen Archipels in überwiegend affirmativer Weise auch in ihren autobiografischen Bericht ein. Im Fall von Kōichi Tsukamoto, Gründer der heute weltweit agierenden Unternehmensgruppe Wacoal, geht die Auslegung der eigenen Kriegserfahrungen und die ihm selbst wie ein Wunder anmutende Tatsache, den Zweiten Weltkrieg doch tatsächlich irgendwie überlebt zu haben, so weit, dass nur höhere Wesen wie „Gottheiten“ (kamisama) ihn beschützt und auserwählt haben können, um post bellum der Welt im Allgemeinen und Japan im Besonderen als Pionier der Damenunterwäschebranche, erfolgreicher Unternehmer, Mäzen von Kunst und Sport sowie als Politikberater zu dienen und sich dadurch vor seinen im Krieg gefallenen Kameraden zu rechtfertigen und von der Schuld, unverdientermaßen überlebt zu haben, einigermaßen rein zu waschen.
Das Kritischste, was den beiden ehemaligen Soldaten zu dem umfassenden Eroberungsprogramm, den mit Waffengewalt vom westlichen Kolonialismus bereits befreiten Gebieten Chinas und Koreas weitere Räume in Ostasien, Südostasien und Ozeanien mit den zugehörigen Bewohnern unter japanisches Oberkommando zu zwingen, nachträglich eingefallen ist, sind Beschwerden über unfähige japanische Kommandeure, die ihre Schutzbefohlenen als Kanonenfutter behandelt und mit falschen Entscheidungen das Leben ungezählter japanischer Soldaten auf dem Gewissen haben. Auch Nobuo Ishibashi, der spätere Direktor der heute noch im Bereich Hausbau weltweit agierenden Unternehmensgruppe Daiwa House, soll nach Kriegsende praktisch bis zum Ende seines Lebens eine „Überlebensschuld“ empfunden haben, die abzutragen er sich zeitlebens praktisch bemüht hat, zum Beispiel durch die Errichtung einer Gedenkstätte, regelmäßige Begehung des buddhistischen O-Bon-Totengedenkfestes.
Kürzt man die von Wittig analysierten Autobiografien von Tsukamoto, Ishibashi, Higuchi und Inamori auf die wichtigsten „Narrative“ und „Pflichtnarrative“ zusammen, so gehört das japanisch-allzujapanische Bekenntnis, wegen chronischer Überarbeit und betriebsbedingter Reisetätigkeit ein relativ „schlechter Vater“ gewesen zu sein, wie selbstverständlich dazu. Aber in den Vordergrund ihrer berufsautobiografischen Selbstentblößung stellen die vier Autoren einen bunten Strauß an Themen wie Religiosität, Spiritualität und Aberglaube, Patriotismus beziehungsweise Nationalismus, Dienst an der japanischen Volksgemeinschaft (vor 1945) beziehungsweise an der japanischen Gesellschaft (nach 1945), kurz: Verantwortung für das sogenannte große Ganze, Altruismus, Sendungs- und Klassenbewusstsein sowie Kampflaune insbesondere gegenüber betriebsgewerkschaftlichen Aktivitäten, persönliche Entbehrungen für das Vaterland und den eigenen betrieblichen Gewinn, demonstrative Bescheidenheit und Understatements sowie Aussagen zur ganz eigenen Unternehmensphilosophie und vor allem tief empfundene Dankbarkeit für das Glück des Tüchtigen, garniert mit der „obligatorische(n) Photographie von Matsushita Kōnosuke, Gründer des heutigen Panasonic-Konzerns und ‚Management-Gott‘ (keiei no kamisama)“.
Da in Autobiografien zur Selbstverteidigung und zum Zweck der „narrativen Selbstkonstruktion“ sowie zum Schutz von Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden, Bekannten, Kollegen und Geschäftspartnern et cetera Vieles ungesagt und das wahre Ich oder Selbst notwendigerweise ein mehr oder weniger verfremdetes, konstruiertes Bild bleibt, beginnt Wittig seine Schlussbemerkungen mit einem Zitat aus einem Brief von Sigmund Freud an seinen amerikanischen Neffen vom 10. August 1929. Darin lehnt Freud den Vorschlag seines Neffen, eine Autobiografie zu veröffentlichen, mit dem Urteil ab, solche Texte seien „verlogen“ und somit „wertlos“. Nur wenn der Autobiograf Anteil an für die Allgemeinheit wichtigen Ereignissen hatte und es sich um eine herausragende Persönlichkeit handelt, sei eine Autobiografie als subjektiv konstruierter „Rechenschaftsbericht“ gerechtfertigt.
Eine wichtige Schreibmotivation für Autobiografen sei, so Wittig, die Deutungshoheit über das eigene Leben und Werk zu behalten und das erste und letzte Wort über Dinge zu haben, die man ja doch wohl selbst am besten wisse, beschreiben und einordnen könne, weil man sie selbst erlebt und empfunden habe. Das Vorrecht der Selbstdefinition und der von allen anderen Menschen zu akzeptierenden – subjektiv einzig richtigen – Selbstdarstellung vor Fremddefinition sowie Fremd- und Falschdarstellung gilt als wichtigste Motivation, eine Autobiografie zu verfassen und zu veröffentlichen.
Zur Angebots- und Nachfrageseite von Autobiografien schreibt Wittig im ersten Satz seines Buches: „‚Autobiography sells!‘ könnte eine Parole des 21. Jahrhunderts lauten, denn das allgemeine Interesse an ‚wahren Geschichten‘, an ‚real erlebter Wirklichkeit‘ ist […] ungebrochen.“ Selbstzeugnisse, Erinnerungskultur und Autobiografien boomen weltweit, zweifellos stärker als Identitäts- und Selbstkonzept-Forschung über moderne japanische Entrepreneure. Wittigs Studie ist in diesem Kontext vor allem deshalb ein lesenswerter Beitrag, weil in ihr zum einen kulturübergreifend-systemisch unternehmertypische Erinnerungs- und Schreibmotive sowie Selbstdarstellungs- und -konstruktionstechniken mit häufig wiederkehrenden Narrativen in Verbindung mit kulturell bedingten Pflichtnarrativen herausgearbeitet werden. Zum anderen trägt er mit seinem synoptisch-literaturwissenschaftlichen Forschungsansatz zum Verständnis der gegenwärtigen japanischen Kultur und Gesellschaft bei und bereichert die außereuropäische Selbstzeugnisforschung.
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