Annette Kolb

Über politischen Mut, die Plagen des Schreibens und eine neue Werkausgabe

Von Hiltrud HäntzschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hiltrud Häntzschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Annette Kolbs Werk ist eigensinnig. Es lässt von den ersten Erzählungen bis zu den späten Einmischungen in tagespolitische Themen die Autodidaktin erkennen, freilich eine begnadete, Nichtwissen pariert sie mit Humor. Als Mädchen ihrer Zeit hatte sie nie die Chance zu einer höheren Schulbildung, geschweige denn zu einem wissenschaftlichen Studium von Geschichte, Religion, Literatur, Sprachen, Musik. Selbst ihr Gesuch von 1902, kunsthistorische Vorlesungen als Gasthörerin an der Münchner Universität zu besuchen – und das hat sie schon als Schriftstellerin unterzeichnet –, wird trotz persönlicher Empfehlung des Professors vom Ministerium ohne Begründung abgelehnt. Man rätselt, wie sie sich dennoch die unglaubliche Belesenheit selbst in eher abgelegene Werke der Kirchengeschichte, in die französische und englische Literatur, in gesellschaftliche und philosophische Diskurse hat aneignen können. „Zum Schreiben drängte sie nicht das Talent, sondern ihre Meinungen“, meint sie in ihrem späten Selbstporträt. Das wäre freilich ein vernichtendes Urteil über eine Autorin, aber als Selbstaussage charakterisiert es Annette Kolbs Eigenständigkeit im Denken, ihre Bedenkenlosigkeit gegenüber dem, was gesellschaftlich schicklich, politisch opportun (zumal während der Weltkriege) oder einer wie immer gearteten Karriere förderlich ist. Ihr Katholizismus ist tief verwurzelt und gelegentlich kritisch bis zur Respektlosigkeit. Sie hat zahlreiche Freunde unter den Juden und erlaubt sich doch befremdliche Urteile über „die Juden“. Die Umbrüche in der Geschlechterdebatte begleitet und lebt sie mit ganz eigenen Vorstellungen und ist keinem Lager zuzuordnen. Was Nationalitätencharakter und Völkerpsychologie angehen, so urteilt sie quer zum Zeitgeist und setzt sich Anfeindungen aus bis hin zu polizeilicher Verfolgung.

Die längste Zeit ihres Lebens war sie ziemlich mittellos, aber sie bewegte sich durch die Welt als Dame der Gesellschaft, sie spielte Adel. Das verdankte sie ihrer Begabung für Freundschaften, für das Knüpfen von Kontakten. Quer durch Europa war sie immerfort irgendwo eingeladen (vielleicht lud sie sich auch selbst ein), auf Schlössern, Landsitzen, in den geselligen Salons der Metropolen, unter Diplomaten. Mühelos drang sie vor zu einflussreichen Politikern, interviewte Aristide Briand und Kurt Eisner, tanzte mit Walter Rathenau, korrespondierte mit Gott und der Welt. Ihre ganze Existenz war bestimmt von der Zugehörigkeit zu zwei Vaterländern, es ist ihr Zwiespalt lebenslang, die „Erbfeinde“ sind ihr Mutter und Vater und es ist ihr unerträglich, wenn sie in Streit oder gar in Krieg geraten. Ihre lebenslangen Anstrengungen gelten der Überwindung dieses Zwiespalts. Freilich muss man das Bild von der Europäerin, als die sie stets etikettiert wird, ein wenig zurechtrücken: Ihr Europa endet – was ihr Interesse an und ihre Beschäftigung mit der europäischen Kultur angeht – an der deutschen und österreichischen Ostgrenze. Ein einziges Mal begegnet uns eine nachdenkliche Bemerkung, 1922 nach einer Onkel Wanja-Aufführung in Paris: „Ich bin nicht ‚östlich orientiert‘; ein östlich orientiertes Deutschland wäre heute sicherlich ein Unglück und ein Rückschlag. Wahrscheinlich aber ist der nahe Osten interessanter als wir alle zusammen […].“ (Westliche Tage, Band 2, S. 68)

Kurz gesagt: Sie war weltfremd und weltklug. Ihre produktive Schaffenszeit reicht vom Kaiserreich bis in die erwachsen gewordene Bundesrepublik, ihre Schreibweise ist so gut wie immer autobiographisch grundiert und ihre Thematik also stark auf die Zeitgeschichte bezogen. So ergeben die zeit- und lebensgeschichtlichen Zäsuren zwingend die chronologische Gliederung ihres Werkes in vier Abschnitte: die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, die Jahre der Weimarer Republik, das Exil mit Zweitem Weltkrieg und die Nachkriegszeit.

Dass ihre Schriften in diesen Zeitabschnitten an Umfang uneinheitlich sind, ist ihrer Biographie geschuldet: Ihre produktivste Zeit waren die Jahre des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik; Flucht und Exil ließen kein kontinuierliches Arbeiten zu; die späten Jahre sind schon geprägt vom Nachlassen ihrer schriftstellerischen Kraft.

In diese vier Lebensabschnitte gegliedert, ruft das Folgende Leben und Werk Annette Kolbs in Erinnerung.

1. 1899 – 1921: Europas unsterbliche Blamage

Bis zum zwölften Lebensjahr besucht sie – geistig unterfordert und eingeengt – die Klosterschule der Salesianerinnen in Thurnfeld bei Hall in Tirol, anschließend das Institut Ascher in München, eine private Mädchenschule. Nirgends gibt es eine Tür in eine geistige Welt und ihre große Geschichte, keinerlei Anleitung zu systematischem Denken. Einzig der bescheidene Salon ihrer französischen Mutter und deren Habitués aus der Welt der französischen und bayerischen Diplomatie, des Kreises um die Familien Richard Wagners und Cosima von Bülows, des katholischen Klerus und nachbarschaftlich verbundener Künstler (etwa der Generalmusikdirektor Felix Mottl, die Maler Hugo von Habermann und der Bildhauer Adolf von Hildebrand), verschaffen ihr Zugang zur Welt des Intellektuellen wie des Politischen. In der kleinen Erinnerung Drei Anfänge erzählt sie, wie sie sich Adolf von Hildebrand in ihrer Not anvertraut: „Herr Professor, was soll ich tun? Etwas muß geschehen. Es bleibt mir nur die Musik oder das Schreiben. So – Nichtstun, das wird nicht länger gehen.“ (Band 4, S. 291) Ihre erste Essaysammlung Kurze Aufsätze veröffentlicht sie 1899 auf eigene Kosten und erzählt später: „Als ich, durch zuviel Widerstand rabiat geworden, mein Erstlingswerk, ein gestelztes und weltschmerzliches Buch von 87 Seiten auf Selbstkosten herausgab, war des Gelächters kein Ende. Acht Exemplare wurden aus Jux sofort abgesetzt und bei Tees und Soireen zum Gaudium aller vorgelesen. Als ich trotzdem bei der Stange blieb, wandelte sich der Spott in stille Verachtung.“ (Franz Blei, Band 2, S. 198). Der Schriftsteller und Literaturvermittler Franz Blei ist es, der als Lektor für den Leipziger Verlag der weißen Bücher 1914 die Reihe der für Annette Kolbs schriftstellerisches Werk so typischen Essaybände mit Wege und Umwege fortsetzt. Zugute kommt ihr ihre erstaunliche Sprachbegabung. Nicht nur die Muttersprache Französisch, sondern auch fließendes Italienisch und Englisch erlauben ihr als Ersatzbeschäftigung literarische Übersetzungen (Die Briefe der Catarina von Siena, Auguste Villiers de l’Isle-Adam, Gilbert Keith Chesterton), die ihr immerhin einigen Respekt einbringen. Ein erster wichtiger Schritt gelingt ihr mit der Veröffentlichung ihrer Erzählung Torso 1905 in der Neuen Rundschau und damit beim renommierten S. Fischer Verlag in Berlin. Damit ist sie in der literarischen Szene angekommen. Neben Rezensionen für die Wiener Rundschau schreibt sie Feuilletons im ursprünglichen Sinn des Wortes, „Blättchen“ mit subtilen Beobachtungen aus der Gesellschaft, mischt sich behutsam in die Geschlechterdebatte um die Jahrhundertwende ein (Der unverstandene Mann, Die neuen Männer) und vertritt von Anfang an einen eigenwilligen Standpunkt, wie sie immer eine sehr eigenständige Rolle als Frau gespielt hat. Franz Blei porträtiert die Freundin in seinem Buch Glanz und Elend berühmter Frauen: „Annette hatte den Typus einer Frau als Vorläuferin vorweggenommen und lebendig hingestellt, wie wir ihn als geläufigen Typus für einmal in dreißig Jahren erhoffen, wo die weibchenhaften Hysterien dank eines sie nicht mehr verlangenden Männchens ausgestorben sein werden […]. Ja, die große Vorläuferin jenes erlösten und erlösenden Frauentypus war die Annette.“

Und dann der Paukenschlag: 1912 überrascht die Zeitschrift Die Neue Rundschau ihre Lesegemeinde mit dem Vorabdruck des Romans Das Exemplar, zusammen mit Thomas Manns Tod in Venedig. Die Buchausgabe folgt 1913 bei S. Fischer in Berlin und erregt Aufsehen. Rilke und Hofmannsthal melden sich begeistert, die Rezensenten erkennen das Innovative der Schreibweise wie der Unkonventionalität der Heldin. Mit dem soeben zum ersten Mal ausgesetzten Theodor-Fontane-Preis für Kunst und Literatur der Stadt Berlin ausgezeichnet, stünde dem Einzug der Autorin in die Meisterklasse der Literatur nichts mehr im Wege – wenn nicht der Krieg sich bedrohlich ankündigte.

An ihrer harmonisch gelebten Doppelzugehörigkeit zu zwei Vaterländern zerren nun das Morden des Krieges auf allen Seiten, aber mindestens ebenso die erbitterten Propagandaschlachten, die mentale Verrohung durch die Presse, die Vergiftung aller Beziehungen, die bis in ihre Bekanntenkreise reicht. Für sie ist das „Europas unsterbliche Blamage“, das komplette Versagen des gesunden Menschenverstandes, der Vernunft, ein Rückfall in atavistische Verhaltensweisen. Weder gehört ihre Kriegsgegnerschaft in den Friedenstauben-Pazifismus noch zu den militanten Antikriegs-Kampfparolen, er ist einem humanen Selbstverständnis geschuldet. Dass Frankreich und Deutschland tödlich aufeinander losschlagen, ist ihr unerträglich und gänzlich unfasslich: „ […] ich bin heimatlos durch diesen Krieg geworden“ schreibt sie in den mutigen Briefen einer Deutsch-Französin, die sie in Deutschland unmöglich machen. (Band 1, S. 378). Von Stund’ an gelten all ihre Anstrengungen dem Auseinanderhalten der Fronten, dem Beilegen der Streitpunkte, der Versöhnung. Wie unerschrocken, couragiert oder auch naiv und politisch gänzlich unerfahren sie das tut, zeigt ihr Vortrag im Januar 1915 vor der Literarischen Gesellschaft in Dresden Die Internationale Rundschau und der Krieg. Ein unpolitischer Vortrag, wie sie ihn nennt, den sie vor lauter Empörung des Publikums und gellenden Pfiffen nicht zu Ende sprechen kann, eine beißende Kritik an der Kriegspropaganda der Presse auf allen Seiten – im übrigen von erschreckender Aktualität. Ihre Haltung ist gelegentlich zwielichtig: Sie ist durchaus deutschfreundlich, nimmt die Bayern vom Vorwurf der Kriegshetze aus, die üblen ‚boches‘ sind die Preußen und im übrigen alle Chauvinisten dieser Welt (La Lettre d’une Allemande). Das ist ihr dröhnender Vorwurf an das zerrissene Europa und das Skandalon, mit dem sie sich ohne Rücksicht auf nationale Eitelkeiten so viele zu Feinden macht. Postüberwachung, drohende Inhaftierung gar vertreiben sie in die Schweiz, wo sie in der zerstrittenen Emigrantenszene zwischen Gleichgesinnten und Gegnern, zwischen Zustimmung und Verdächtigungen ratlos zu agieren scheint. Romain Rolland, wichtigste Figur im Berner Pazifistenkreis, schätzt Annette Kolb sehr, in seinem Tagebuch freilich notiert er ihre Schwächen:

Annette Kolb ist eine ausgezeichnete Frau; aber in der Politik flößt sie mir nur mäßiges Vertrauen ein: sie hat den auf ihrer Abstammung beruhenden Fehler, sie ist, ohne zu wollen, ein wenig zwiespältiger Natur: treuherzig, gefühlvoll; obwohl ihr, wenn sie will, leicht die Tränen in die Augen steigen, ist sie doch durchtrieben genug, ihre Tränen zu beobachten und mit ihnen gelegentlich den Leuten etwas vorzumachen. Sie ist naiv und gerissen zugleich. Sie scheut sich nicht, mir einzugestehen, daß sie dank der Unterstützung der Regierung (des Außenministeriums, das ihr gegen das Kriegsministerium beigestanden hat) in die Schweiz gekommen ist; und sie legt vor mir folgendes gefährliche Glaubensbekenntnis ab: sie sei zu allen Lügen bereit, wenn es für die gute Sache geschehe. Eine anfechtbare Geisteshaltung, denn wer anders als die Leidenschaft bestimmt, was eine „gute Sache“ ist. (Rolland, Romain: Das Gewissen Europas. Tagebuch der Kriegsjahre 1914-1919. Aufzeichnungen und Dokumente zur Moralgeschichte Europas in jener Zeit. Berlin 1983. Bd. 2, S. 368)

Die Tagebuchaufzeichnungen ihrer Enttäuschungen, Zarastro, spiegeln in ihrer Gehetztheit, in ihrer Ratlosigkeit zwischen Freundschaft und Intrige das Ende einer Epoche der Gewissheiten und den tastenden Aufbruch in eine neue Zeit.

2. 1921-1933. Der zweite Lebens- und Schreibabschnitt: Eine trügerische Ruhe

Die alte Welt ist verschwunden, sie hat sich selbst vernichtet. Der Adel und mit ihm die von Annette Kolb so geschätzte Salonkultur, die bayerische zumal mit ihren eigenen Gesandtschaften, gehören der Vergangenheit an. Beide Eltern sind 1915 gestorben, die Familie hat sich aufgelöst, München bietet ihr keine Attraktivität mehr. Der Elsässer René Schickele und seine Frau Anna, schon in Bern die Vertrautesten und wie Annette Kolb von der Mission einer Versöhnung beider Nachbarländer erfüllt, haben sich in Badenweiler, an der äußersten Westgrenze niedergelassen. Annette Kolb lässt sich von deren Architekten, Paul Schmitthenner, gleich neben Schickeles, ein kleineres Haus im selben Stil bauen und verbringt dort, beglückt von Haus, Garten, Umgebung und Aussicht über die Rheinebene nach Frankreich vergleichsweise glückliche Jahre: „[…] es war das Jahrzehnt, das sich in der Geschichte als ein Intermezzo einschaltete. Ja, es war, als läge nicht der schwerste aller Kriege nah hinter uns, es war, als griffe Vergessenheit um sich. Das einstige trügerische Licht zwar schien uns nicht mehr, aber es war Hoffnung in der Welt, die Theater standen in Blüte, die Dichter, Erzähler, Essayisten, die links vom Rhein ‚Gens de lettres‘ hießen, bei uns leider unter dem Namen ‚Schriftsteller‘ gingen (noch häßlicher ‚Schriftstellerinnen‘), wir Leute von der Feder also, waren plötzlich zu höherem Ansehen gelangt, es flossen uns größere Honorare zu, wir konnten unbehindert unsere Meinung äußern; ich hatte mir in der ‚Frankfurter Zeitung‘ meine Narrenfreiheit erworben.“ (Memento, Band 4, S. 213)

Neue Bekannte, neue Freundschaften treten in Annette Kolbs Leben. Neben René Schickele, dem engsten Freund, wird die Luxemburgerin Aline Mayrisch de Saint-Hubert zur wichtigen Kollegin, Gleichgesinnten und vor allem Mäzenin. Ihr Mann Émile Mayrisch ist hochvermögender Stahlmagnat in Luxemburg, sie ist die großzügige, gebildete und durchaus einflußreiche Gastgeberin auf ihrem Schloss Colpach an der belgischen Grenze. Zum Gästekreis der Mayrischs zählen gemeinsame Bekannte: André Gide, Walther Rathenau, Harry Graf Kessler, Pater Jean de Menasce. Die wichtigste und sehr konkrete Hilfe des Mäzenaten-Ehepaars ist die Öffnung ihrer Luxemburger Zeitung für Annette Kolb. Sie ermöglicht ihr Zweitverwertungen ihrer Feuilletons, aber zahlreiche Arbeiten erscheinen erstmals oder – weil sie in Deutschland auf Irritation gestoßen wären – nur in der Luxemburger Zeitung. Zwischen 1921 und 1938 sind über 74 Beiträge von Annette Kolb ermittelt. (Cornel Meder. Annette Kolb und Aline Mayrisch. In: Susanne Craemer [Hg.] Europäische Begegnungen, Luxembourg. Edition Saint-Paul 2006, S. 401-417)

Im Bekanntenkreis der ‚gens de lettres‘, der die klerikalen Gesandten und bayerischen Nobilitäten der Vorkriegszeit ablöst, ist Annette Kolb die anerkannte Autorin, deren entschiedene Meinung geschätzt wird. Ihr Selbstverständnis ist gefestigt. Auf ihre Stimme wird bei den berühmten Feuilletonumfragen gehört. In den von der Wochenzeitung Die Literarische Welt erbetenen Selbstdarstellungen deutscher Dichter 1931 erklärt sie energisch: „Ich habe etwas zu sagen. Was ich zu sagen habe ist wichtig. Ich habe etwas zu sagen.“ (Band 2, S. 507)

Gedanklich und thematisch setzt ihre Arbeit die mit dem Weltkrieg so bitter enttäuschten Versöhnungsbemühungen zwischen Deutschland und Frankreich unbeirrt fort. Mit der Gründung des Völkerbundes, der 1920 in Genf seine Arbeit beginnt, mit den Bemühungen Aristide Briands und Gustav Stresemanns um die Beilegung der deutsch-französischen Feindschaft und der Aushandlung der Verträge von Locarno, gegen Ende der Weimarer Republik schließlich mit der großen Genfer Abrüstungskonferenz scheint es Hoffnung auf Fortschritte zu geben, die Annette Kolb bereitwillig aufnimmt. Sie wohnt in der Abgeschiedenheit des südlichen Schwarzwalds, aber sie ist unentwegt auf Reisen, in Österreich, in Italien, in Frankreich, in der Schweiz, in Berlin – und erzählt anekdotenreich davon, stets auf aparte Weise Reiseerlebnisse mit Reflexionen zum Zeitgeist, mit Schilderungen von Begegnungen, mit Lektüreerfahrungen, mit ihren Meinungen über den Weltlauf zu verknüpfen. Und immer wieder speist sich ihr Erzählen aus den Erinnerungen an ihre Kindheit. Der Freund und Förderer Franz Blei charakterisiert ihre Schriftstellerei so: „Schreiben ist ihr nicht Metier. Sie erfindet nicht, sondern sie findet.“ (Franz Blei: Glanz und Elend berühmter Frauen. Berlin: Rowohlt 1927, S. 281 – 290, hier S. 289) Sie schreibt unbekümmert ‚ich‘, wenn sie sich meint, obgleich wir nach der Authentizität der Anekdoten, etwa in Spitzbögen lieber nicht fragen. Es sind authentische Geschichten, auch wenn sie sich vielleicht so nicht ereignet haben. Auch das einzige ausgewiesen belletristische Werk dieser Jahre, den Roman Daphne Herbst, muss sie nicht ‚erfinden‘, sie findet ihn vor in den Erinnerungen an ihre Kindheitsfamilie.

Sie glossiert neugierig, gelegentlich spöttisch, technische Errungenschaften, das Radio etwa, das in Deutschland seit 1923 öffentliche Rundfunksendungen ausstrahlt und rasch für Literaten zum wichtigen Medium wird. Es bringt ihr im abgelegenen Badenweiler die Welt ins Wohnzimmer und sie nutzt es gerne selbst, um ihre Stimme in die Welt zu senden, aber auch die Eisenbahn, Schiffsreisen, das Auto, das sie begeistert fährt, seit sie im September 1932 den Führerschein erwirbt und sich mit Hilfe von Bekannten einen kleinen Ford kaufen kann. Um ein professionelles Urteil ist sie wenig bekümmert. „Das Auto“, urteilt sie, uns heute eher belustigend, und beruft sich hier sogar auf die Versicherung von Fachleuten, sei „keiner wesentlichen Vervollkommnung mehr fähig.“ (Radiofreuden und Radioleiden, Band 2, S. 491)

Gegen Ende der Weimarer Republik, seit 1930 etwa, ziehen bedrohliche Wolken auf. Die politische Polarisierung verschärft sich, die Demokratie wankt, die europäischen Versöhnungsbemühungen werden von radikalen Parteien torpediert. Darauf muss eine Annette Kolb reagieren, die politische Schärfe ihrer Text nimmt zu. In der dezidiert pazifistischen Zeitschrift Die Frau im Staat greift sie frontal die überhebliche Geistesferne des Goebbels-/ Hitlerclans an in Goethe, die ‚politische Null, und den Quartanern gibt die durch Erfahrungen Kluge in ihrem Befohlenen Selbstporträt den weisen Rat, „daß die innerlich Geringen nicht zur Führung gelangen dürfen.“ 1932 erscheint ihr Beschwerdebuch, sie muss hadern mit Links und Rechts, mit den neu-alten chauvinistischen Parolen deutsch-französischer Feindseligkeiten auf beiden Seiten und fassungslos feststellen: „Wir haben mehr erfahren als irgend ein Menschengeschlecht vor uns und nichts gelernt […]. Alles ist so dumm, daß man’s erleben muß, um es zu glauben. […] Daß wir uns gar nicht vor unseren Nachkommen genieren?“ (Neue Zeiten, Band 2, S. 54) Wie viel schlimmer es bald kommen wird, scheint sie in ihrem idyllischen Badenweiler nicht zu ahnen.

Es folgt wie für so viele der schwierigste Lebensabschnitt.

3. Flucht und Exil 1933-1945: Inmitten der unheimlichsten Epoche unserer Geschichte

Wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs kennt Annette Kolb keinerlei Rücksicht auf sich, wenn es um die Wahrheit geht: Sie hält Ende Februar 1933 einen Vortrag im Westdeutschen Rundfunk Köln, dessen Wortlaut wir zwar nicht kennen, aber Manfred Hausmann, der Kollege hat ihn gehört und schreibt ihr noch am selben Tag einen besorgten Brief und rät ihr zur sofortigen Abreise über die Grenze.

Annette Kolb, die Pazifistin und scharfe Gegnerin jeglichen Nationalismus, flieht schon am nächsten Morgen in Panik um Freiheit und Leben in ihr zweites Exil, zunächst in die nahe Schweiz. Sie findet Aufnahme bei ihrer Luxemburger Freundin und lässt sich schließlich in Paris nieder – eine privilegierte Exilantin, gelingt es doch prominenten Bekannten, ihr 1936 zur französischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen. Einige relativ ruhige und produktive Jahre sind der stets kränkelnden und von Geldsorgen bedrückten Schriftstellerin gegönnt, mit jährlichen Besuchen der Salzburger Festspiele, in der Schweiz und in Südfrankreich, in Irland bei ihrer Schwester (wo sie regelmäßig im Radio ein kleines Klavierkonzert gibt, eine dringende Einnahmequelle), schließlich die Reise zur Tagung des amerikanischen PEN-Zentrums in die USA 1939, freilich stets im entsetzten Wissen um die Schreckensnachrichten aus Deutschland, die Gefährdungen der Freunde, Inhaftierungen, Selbstmorde und im Bewusstsein der ungeheuren Kränkung der anerkannten Schriftstellerin durch das Vaterland Deutschland. Durch den umfangreichen Briefwechsel mit dem nun in Südfrankreich lebenden Freund René Schickele wissen wir bis zu dessen Tod 1940 detaillierter als zu anderen Lebenszeiten von ihrem Ergehen, ihren Besuchen, ihren Schreibproblemen, ihren Hoffnungen und ihren Erschütterungen durch die täglichen Katastrophenmeldungen.

Aber es ist nicht nur die Vertreibung der Autorin, die ihr Leben bedrohlich entwurzelt, es ist die Vertreibung ihrer Bücher, die ihr die finanzielle Grundlage und die Anerkennung raubt. Am rigorosesten verfährt zunächst die Bayerische Politische Polizei. In dem von ihr herausgegebenen Verzeichnis der polizeilich beschlagnahmten und eingezogenen, sowie der für Leihbüchereien verbotenen Druckschriften (Institut für Zeitgeschichte München) auf 273 hektographierten Seiten sind 6843 Titel von 2293 Autorinnen und Autoren aufgelistet: Ich zitiere aus der Vorbemerkung: „Das vorliegende Verzeichnis enthält diejenigen Druckerzeugnisse des deutschen Büchermarktes, die auf Grund der völkischen und damit auch der sittlichen Erneuerung des deutschen Volkes durch die nationalsozialistische Revolution jeglichen Anspruch als geistiges Bildungsmittel des deutschen Volkes angesehen zu werden, verwirkt haben.“ Darin ist Annette Kolb mit dem Vermerk „Alles“ und der detaillierten Liste von 14 Titeln aufgeführt. Der Roman Die Schaukel ist nicht darunter, demnach wurde das undatierte Verzeichnis schon vor Ende August 1934, dessen Erscheinungsdatum, fertiggestellt. Wie weit dieses Verzeichnis für den Buchhandel Folgen hatte, ist nicht bekannt. Die preußischen und nach der Zentralisierung reichsweiten Zensurstellen waren gnädiger, auch aus taktischen Gründen. Zwar löste das Erscheinen des Romans Die Schaukel, insbesondere die anstößige Fußnote, Kontroversen zwischen der Reichsschrifttumskammer und der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums im Amt Rosenberg aus, aber noch hielten es die NS-Zensurstellen, insbesondere Goebbels, für zweckmäßig, Rücksicht auf das Ansehen Deutschlands im Ausland zu nehmen. Und Annette Kolb gehört zu jener Gruppe von Autoren, die um ihre Leser und um den deutschen Buchmarkt kämpft und damit eine heftige Verstimmung im Lager der Emigranten auslöst, zu denen sie sich nur unwillig rechnet. Wie Thomas Mann und Hermann Hesse hält sie ihrem Verleger Gottfried Bermann Fischer die Treue und dieser seinem irrigen Glauben, in Deutschland weiterhin publizieren zu können – bis der Verlag doch vertrieben wird, 1936 nach Wien, 1938 nach Stockholm und 1940 nach New York. Zu verfolgen ist das Zerwürfnis unter den Emigranten an der Reaktion auf die Tilgung der berühmten judenfreundlichen Fußnote in der Schaukel ab der 6. Auflage noch 1934. Annette Kolbs erfolgreichstes Buch überhaupt, die Biographie Mozart. Sein Leben, Wien: S. Fischer 1937, erreicht mit dem Vorabdruck in der Frankfurter Zeitung noch die für eine unpolitische und gänzlich unideologische Lektüre dankbaren deutschen Leser. Es wird ins Französische, Englische und argentinische Spanisch übersetzt. Ihre Impressionen von den Salzburger Festspielen (Festspieltage in Salzburg) erscheinen 1937 (und erweitert 1938) im Exilverlag Allert de Lange in Amsterdam. 1938 dann, mit Stand vom 31. Dezember, stehen Annette Kolbs „Sämtliche Schriften“ auf der 2. Liste des Schädlichen und unerwünschten Schrifttums, herausgegeben von der Reichsschrifttumskammer. Und nach der Besetzung Frankreichs gerät 1942 auch die ins Französische übersetzte und bei Albin Michel in Paris erschienene Mozart-Biographie auf die Liste der unerwünschten französischen Literatur, der Nachfolgeliste der sogenannten Liste Otto, des Indizierungsverzeichnisses der Franzosen, zusammengestellt mithilfe der willigen Zuarbeit der deutschen Besetzer. Die Feuilletons der außerdeutschen Basler National-Zeitung und der Luxemburger Zeitung, seltener der Neuen Zürcher Zeitung und des Pariser Tageblatt, sind hilfreiche Erscheinungsorte, um ihre kleinen Arbeiten unterzubringen und Geld zu verdienen. In der von Thomas Mann herausgegebenen und von Aline Mayrisch-de Saint-Hubert finanzierten Zeitschrift Mass und Wert finden sich Arbeiten vor ihr.

Aber die Vereinnahmung Österreichs, der Kriegsbeginn, die Besetzung Frankreichs bringen das Leben der mittlerweile Siebzigjährigen in lebensbedrohliche Turbulenzen. Unter neuerlicher Zurücklassung ihres Besitzes und ihrer Pariser Wohnung gelingen ihr 1941 unter abenteuerlichen und nicht mehr ganz nachvollziehbaren Umständen die Flucht über Madrid nach Lissabon und die Rettung nach New York. (vgl. ihre Darstellung in Memento, Band 4, S.211-251) Der American Guild for German Cultural Freedom und dem Emergency Rescue Committee, das Annette Kolb seit 1938 mit kleinen Geldzuwendungen hilft, war es schließlich mit der prominenten Unterstützung von Thomas, Katia und Erika Mann, von Hubertus Prinz zu Loewenstein, Dorothy Thompson, Ernst Lubitsch, Hermann Kesten und anderen geglückt, Herbert H. Lehmann, den Gouverneur des Staates New York persönlich zur Ausstellung des notwendigen Affidavits für Annette Kolb zu bewegen. (Akte Annette Kolb. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933.1945, Frankfurt am Main) Ebenso versucht sie wiederum, in Not geratenen Freundinnen und Kollegen unermüdlich Hilfe zukommen zu lassen. Wenig glückliche, kümmerliche Jahre des Exils in dieser Stadt, in der sie sich trotz vieler Vertrauter und Schicksalsgenossen nicht heimisch fühlen kann. Es gelingt ihr immerhin, die in den letzten Wochen der Flucht aus Europa fertiggestellte Schubert-Biographie bei Bermann-Fischer in Stockholm zu publizieren. Klaus Mann nimmt die Erzählung von ihrer Flucht aus Paris nach Vichy nach der Besetzung Frankreichs, La Débacle, in die zweite Nummer seiner neuen und nur kurzlebigen Zeitschrift Decision auf, und 1943 erscheint Klaus Manns und Hermann Kestens denkwürdige Sammlung Heart of Europe. An Anthologie of Creative Writing in Europe 1920-1940 (New York: L.B. Fischer 1943, 2. Aufl. Philadelphia: The Blakiston Company 1945), eine Sammlung alles dessen, was verboten, vernichtet, verbrannt ist und vergessen zu werden droht, darin Annette Kolbs autobiographische Erzählung und die Rückkehr in ihre Kindheit: Convent Life (also Klosterleben in englischer Übersetzung), ein Text, der erst elf Jahre später, 1954, in ihrem Band Blätter in den Wind erstmals in der Originalfassung erscheinen wird.

4. 1945-1967: Memento

In Amerika hält es Annette Kolb keinen Tag länger als dringend nötig. Mit den ersten Emigranten kehrt sie im Oktober 1945 nach Europa zurück. Einen festen Wohnsitz hat sie nicht, ihr Badenweiler Haus ist besetzt, die Pariser Wohnung von anderen bewohnt, eine Wiederbegegnung mit Deutschland, mit München schiebt sie hinaus bis zum Herbst 1946. Niederlassen will sie sich dort vorerst nicht. Immer auf Reisen, zu Freunden in die Schweiz, nach Frankreich; einen wenn auch labilen Anker bildet Paris.

Im Gepäck bringt sie ihre Arbeiten aus den Exilverlagen mit, die nur wenigen deutschen Leserinnen und Lesern bekannt sind, und Unveröffentlichtes. Die Schubert-Biographie erscheint 1947 in Zürich, König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner, die Studie, die so zentral in München und in ihrem Elternhaus angesiedelt ist, noch im selben Jahr bei Querido in Amsterdam. Nun kann sie des zehn Jahre zuvor gestorbenen engsten Freundes René Schickele noch einmal gedenken, der „gentillesse“ des hochgeschätzten Klaus Mann nachtrauern. Der Kreis schließt sich zu den Anfängen: Noch einmal veröffentlicht sie einen kleinen von ihr aus dem Französischen übersetzten Band: Sankt Hiernoymus. Schutzpatron der Übersetzer von Valéry Larbaud (München: Kösel 1956), in dem sie ihr Interesse für die zeitgenössische französische Literatur, ihre Kompetenz in früher Kirchengeschichte und ihr Faible fürs Übersetzen zusammenführen kann.

Zwar nimmt die 75jährige und dreimal Exilierte die Amnesie der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit Befremden wahr, aber für die Schuld an den Verbrechen, an Unfrieden, Krieg und einem gefährdeten Europa nimmt die Regionalpatriotin – wie schon nach dem Ersten Weltkrieg – die Bayern aus. Ihre Enttäuschungen – nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Zweiten Weltkrieg – weichen ein wenig der Hoffnung, die sie auf Konrad Adenauer setzt, er ist ihr die Lichtgestalt, Kritik an ihm weist sie kämpferisch zurück. Im Verein mit dem ebenfalls schon seit 1944 bewunderten Charles de Gaulle sieht sie eine europäische Friedensordnung näherkommen. „Ich habe etwas zu sagen“, diese ihre selbstbewußte Einschätzung von 1931 (in Selbstdarstellung, Band 2, S. 507) gilt jetzt erst recht. Sie macht Politik, korrespondiert mit Adenauer und de Gaulle, mit dem französischen Botschafter in Berlin André François-Poncet, mit Theodor Heuss und Heinrich von Brentano. Und sie wird hochdekoriert, mit Literaturpreisen (allen voran dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 1955), mit Verdienstorden, Akademiemitgliedschaften und Ehrenbürgerwürden.

Was ihr noch dringlich am Herzen liegt, ist die Erzählung ihrer Exilgeschichte, das Bewahren dieser traumatisierenden Erfahrungen von Flucht und Rettung: Memento. Memento, das heißt „Gedenke!“, „Erinnere Dich!“, Memento heißt auch die Fürsprache in der katholischen Messe. Sie schreibt und verwirft, schreibt und verwirft. Unzählige Seiten füllt sie und vernichtet sie. Es wird „viel Ballast über Bord fliegen“. (Memento, Band 4, S. 211) Verblüffender Weise lässt sie die Exilzeit in New York vollständig unerzählt. Übrig bleibt ein fast karges Kondensat, ohne jedes Ausmalen, jeden Schmuck und wohl deshalb umso anrührender. Die Textgestalt weckt Assoziationen zu ihren Altersbildnissen, den hageren markanten Gesichtszügen der Greisin.

O tempora, o mores! Die Greisin hat am Ende Schwierigkeiten, die Welt, die Kultur um sich herum noch zu verstehen. Ob es die moderne katholische Messe ist oder die Mode, das Gedudel aus dem Radio und der Wagnerkult, die Nachkriegsarchitektur oder veränderte Familienstrukturen, für nichts dergleichen findet die 94jährige in ihren Zeitbildern noch Verständnis oder gar Zustimmung.

Ein Lebensthema aber stellt sich nach den zwölf Jahren der von Deutschland ausgegangenen Gewaltherrschaft gegen das jüdische Volk neu: das jüdische Problem, „das stachlichste, das es gab“ (Gelobtes Land – gelobte Länder, Band 4, S. 135). Seit sie als knapp 7jährige bei der Begegnung mit einem jüdischen Mädchen (vgl. Torso, Band 1, S. 42-72) etwas gespürt hat von einer Ungleichheit, einer diffusen Anstößigkeit und einem Faszinosum zugleich, streift sie immer wieder die „Judenfrage“ und ihren Kampf mit den eigenen Vorurteilen, die sie als Katholikin, als Bayerin, als an der Hofgesellschaft Orientierte tief internalisiert hat. Besonders in privaten, nicht für die Öffentlichkeit gedachten Äußerungen, etwa im Briefwechsel mit René Schickele, erlaubte sie sich verstörende Formulierungen und also auch Gedanken, die von Antisemitismus oder Antijudaismus nur mit viel Wohlwollen freizusprechen sind. Nun steht die Auseinandersetzung mit ihren Vorurteilen auf dringlichste an. In dem langen, von ihrem sonstigen Schreiben auffällig unterschiedenen Essay Gelobtes Land – gelobte Länder von 1950/51 stellt sie sich – und tut sich wahrlich schwer damit. Im ersten Satz strotz sie noch von keckem Selbstbewußtsein: „Was immer sich gegen mich wenden läßt: mit fünfeinhalb Jahren habe ich mich selbst vor dem Ertrinken gerettet, und mit sechseinhalb Jahren habe ich die Judenfrage gelöst.“ (Band 4, S. 135) Das ist forciertes Mutmachen bei einem so problematischen Gewirr, in dessen Schlingen sie sich immer wieder verheddert. Im (vielleicht fiktiven?) Gespräch mit dem jüdischen Kollegen Franz Werfel wehrt sie sich gegen seine Einwände:

„Warum, zum Teufel, soll man nie ein freimütiges Wort über diese Sache sagen dürfen? Warum Vorsicht?“

„Du weißt nichts“, sagte Werfel, „du weißt zu wenig“, verbesserte er sich. „Du solltest mehr wissen.“

„Wissen!“ rief ich in den Wald hinaus. „Wissen soll ich, sagt er. Auch das noch! Laßt mir meinen impressionistischen Weg. Ein anderer Zugang steht mir nicht zu Gebot“ (Gelobtes Land – gelobte Länder, Band 4, S 174).

„Mein impressionistischer Weg“ – sind das nicht eben die vor allem Wissen angesiedelten Voreingenommenheiten, von denen sie sich nur schwer verabschieden mag?

Ihr Retter aus Frankreich in höchster Gefahr, ihr „Padre“ mit jüdischer Herkunft, der Dominikanerpater Jean de Menasce, dessen Namen sie nie verraten hat, nicht verraten durfte, wie Ruth Landshoff-Yorck in ihren biographischen Impressionen Erinnerungen eines sehr schönen Mädchens aus sehr gutem Hause festhält (Ruth Landshoff-Yorck erzählt von Samuel Fischer, Ernst Toller, Oskar Kokoschka, F.W. Murnau, Max Reinhardt, Marlene Dietrich und Annette Kolb. Süddeutscher Rundfunk. Sendemanuskript vom 17. Juli 1962), kann das Manuskript so nicht akzeptieren, macht sie auf den unbeabsichtigten Ton der Herablassung aufmerksam, wünscht ihn geändert. Sie nimmt sich das Tagebuch ihrer Amerikafahrt von 1939, Glückliche Reise, wieder vor und fällt für den Nachdruck wie eine Furie mit Rot- und Blaustift über den Text her, löscht, was ihr einst so wichtig war, tilgt die Erinnerungen und ihre Meinungen darüber, gerade zu ihrem „Judenproblem“ und zur damaligen aktuellen politischen Lage, die den Text so reizvoll machten. Mit äußerster Behutsamkeit kann sie sich am Ende die Vorstellung vom Land der Verheißung als neu gewonnene Heimat der Juden zu eigen machen, wenn auch immer noch problematisiert in dem ironisch getönten Titel Gelobtes Land – gelobte Länder.

Im Alter von 93 Jahren begegnet ihr Israel leibhaftig. Der 67 Jahre jüngere Philosoph und Dichter Elazar Benyoëtz aus Jerusalem wird ihr zum Gesprächs- und Briefpartner, zum engen Freund, zu „ihrem Hebräer“ und sie zu seiner „christlichen Schwester“. Keiner versteht so tief ihre Irritation wie dieser Israeli: „Sie ist im Recht, auch wo sie sich irrt […] Diese Annette hatte das Recht, sowohl gegen als für die Juden zu sein.“ (Benyoëtz in Sigrid Bauschinger: Ich habe etwas zu sagen. München 1993, S. 32) Er bestärkt sie in ihrer Überzeugung, dass die Gründung des jüdischen Staates ihr „Judenproblem“ endgültig gelöst hat, und immer dringlicher wird ihr Wunsch, dem Land Israel noch persönlich zu begegnen. Der Reiseplan ist geboren, freilich tauchen immer neue Hindernisse auf, bis Annette Kolb endlich im März 1967, 97jährig, fast erblindet und dem Verlöschen nahe, doch immer noch neugierig, ohne Benyoëtz, aber in Begleitung ihres Neffen das „gelobte Land“ kennenlernt, das sie schon immer sehen wollte. Einen schriftlichen Niederschlag der Reiseeindrücke in Briefen oder Essays oder auch nur Tagebuchnotaten gibt es nicht mehr, Lesen oder gar Schreiben war ihr zuletzt nicht mehr möglich. Einzig das auswendige Klavierspielen bleibt ihr. Und so ist sie im Alter vielfach fotografiert und gezeichnet worden.

„Wie dem auch sei, es ist genug, ich kann nicht mehr weiter. Der Leser hat jetzt das Wort.“ Dieses ist der letzte Satz aus Memento. (Memento, Band 4, S. 251)

Am 4. Dezember 1915 schrieb der Schriftsteller Franz Blei an die Freundin Annette Kolb: „Wär ich ein Verleger, machte ich eine Ausgabe deiner Werke in sechs hübschen Bändchen: das so hintereinander zu sehen und zu lesen, müsste eine reizende Offenbarung sein.“ (Mon. AK B 32) Zu diesem Zeitpunkt hatte sie gerade einen Roman und in drei Bändchen mit Essays, Skizzen und kleinen Porträts ihre verstreut in Zeitschriften erschienenen Arbeiten veröffentlicht. 40 Jahre später mahnt Ernst Robert Curtius die Kollegin und Freundin: „Lassen Sie sich meine herzliche Bitte noch einmal sagen: helfen Sie uns zu einer Gesamtausgabe all Ihrer Bücher, in einem Verlag. […] Ihre Bücher sind wertbeständig und müssen greifbar sein und sich neue Freunde gewinnen.“ (Mon. AK B63, undatiert, in den 50er Jahren)

Diese Aufforderung entsprach es, in 4 Bänden die wesentlichen Arbeiten Annette Kolbs versammelt, ausführlich kommentiert und zusammen mit einer Vielzahl von Rezensionen, die noch einmal ihre Bedeutung im letzten Jahrhundert spiegeln, herauszugeben.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag greift zurück auf Annette Kolb: Werke. Hg. i. A. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung von Hiltrud und Günter Häntzschel. Mit einem Essay von Albert von Schirnding. Göttingen: Wallstein Verlag 2017 (Reihe: Bibliothek Wüstenrot Stiftung. Autorinnen des 20. Jahrhunderts). zus. 2264 S., 40 Abb., im Schuber, 49,00 € (D); 50,40 € (A). Wir danken den an der Veröffentlichung der Ausgabe beteiligten Institutionen für die freundliche Genehmigung dazu.

Seit 2009 veröffentlichen die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Wüstenrot Stiftung in einer gemeinsamen Reihe wichtige Werke deutschsprachiger Literatur, die auf dem Buchmarkt nicht mehr präsent sind und dem heutigen Lesepublikum wieder zugänglich gemacht werden sollen. Eine Besonderheit dieser Reihe ist die Patenschaft, die eine zeitgenössische Schriftstellerin oder ein zeitgenössischer Schriftsteller für jede Edition übernimmt: Sie erläutern in einem einführenden Essay die Bedeutung des jeweiligen Werkes und stellen dieses im Rahmen einer Lesereise der Öffentlichkeit vor.

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Annette Kolb: Werke. (Bibliothek Wüstenrot Stiftung. Autorinnen des 20. Jahrhunderts).
Hg. i. A. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung von Hiltrud und Günter Häntzschel. Mit einem Essay von Albert von Schirnding.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
2264 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331105

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