Freundschaft, Krieg und Frieden

Sara Pennypacker erzählt in „Mein Freund Pax“ eine Geschichte mit existentieller Wucht

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Wildtier finden, großziehen und als Freund behalten – jedes Kind dürfte sich diesem Traum schon einmal hingegeben haben. Peter ist das gelungen. Er findet einen verlassenen Fuchswelpen und zieht ihn groß, während er selbst noch um den Verlust seiner Mutter trauert. Doch die Geschichte der symbiotischen Freundschaft, die sich zwischen Junge und Fuchs entwickelt, ist gar nicht die Geschichte, die der neue Jugendroman von Sara Pennypacker erzählt. Der schlichte englische Titel Pax weist durch seine Bedeutungsoffenheit besser auf das Geschehen als der im Deutschen unglücklich verlängerte Titel Mein Freund Pax, der zusammen mit dem Klappentext auf der Rückseite, der die Geschichte einer besonderen Freundschaft verheißt, viel zu sehr eine der üblichen Erzählungen von einem Kind und seiner tiefen Bindung zu einem Tier, die zusammen alle Gefahren meistern, erwarten lässt. Diese Geschichte geht der Romanhandlung jedoch voraus.

Der Roman beginnt mit einer der Illustrationen von Jon Klassen, die zunächst zu kindlich für die teilweise drastische Handlung erscheinen, die jedoch bei erneuter Betrachtung durch ihre minimalistische Ästhetik und die starken Kontraste viel von der Stimmung transportieren, die den Roman trägt. Wir sehen einen einsamen Fuchs direkt an einer bedrohlich breiten Straße sitzen. Er blickt zur Seite, scheint wie erstarrt, er harrt aus. Worauf wartet er? Ist er in Gefahr?

Die Romanhandlung setzt kurz vor diesem Bild ein und wird aus der Perspektive eines Fuchses erzählt. Wir sitzen in einem engen Auto, der Fuchs schmiegt sich an einen Jungen, den er gut zu kennen scheint, dem er vertraut. Doch der Junge ist nervös. Verstört. Wir erleben, wie beide aussteigen, vom wortkargen, unsympathischen Vater des Jungen überwacht. Langsam verstehen wir, was der Fuchs nicht begreifen kann: Er soll ausgesetzt werden. Der Junge lockt ihn mit einem Spielzeug tief in den Wald, um dann zum Auto zurückzukehren und abzufahren. Der Fuchs kann nur noch das wegfahrende Auto sehen. Der verzweifelte Junge reckt die Arme aus dem Fenster und brüllt seinen Namen: Pax.

Das folgende Kapitel ist aus der Sicht des Jungen Peter erzählt, von einem personalen Erzähler, der dichte Einblicke in die Gedankenwelt des Jungen gewährt, die direkt und intensiv in den Erzählverlauf eingearbeitet sind, Rückerinnerungen ermöglichen und dennoch immer eine gewisse Distanz zu dem Jungen halten, der in seinen verstörten Emotionen den meisten Lesern bei allem Identifikationspotenzial auch fremd bleiben dürfte ‒ hier zeigt sich das handwerkliche Können Pennypackers, die meisterlich die verschiedene Stimmungslagen mit Erinnerungen und Reflexionen zu verweben versteht. So halten auch die Kapitel, in denen wir Pax folgen, eine Distanz zu dem Wildtier, dessen ganz anders gearteten Zugang zur Welt die Autorin plausibel gestaltet.

Langsam und mühsam, mit dem Verstehenshorizont eines Zwölfjährigen und eines Fuchses lernen wir, was vor sich geht. Krieg ist in dieses Land, das zeitlich und örtlich unbestimmt bleibt, eingezogen und Peters Vater hat sich freiwillig zum Wehrdienst gemeldet. Peter musste zu seinem Großvater, ein Fuchs war da eine Last und musste weg. Doch schon am ersten Abend bereut Peter, auf seinen Vater gehört zu haben, und bricht schlecht vorbereitet auf, seinen zahmen Fuchs zu retten, der den Ansprüchen der Wildnis kaum gewachsen sein dürfte.

Doch auch hier erfüllen sich die Erwartungen nicht: Es gibt keinen heldenhaften Jungen, der sich durch die Widrigkeiten von Wetter, Landschaft und Krieg schlägt, und keinen treuen Fuchs, der instinktiv seinem Jungen entgegenwandert, tapfer und zäh. Vielmehr müssen alle Charaktere sich ihren inneren Abgründen, ihren Verletzungen und Zweifeln stellen ‒ und vor allem: ihrer Angst.

Schon am ersten Tag seiner Suche stolpert Peter in der Dunkelheit und bricht sich den Fuß. Mühsam schleppt er sich in eine nahe Scheune, wo ihn die düstere Einsiedlerin Vola findet. Nach gegenseitigem Misstrauen versorgt die unheimliche Bewohnerin des einsamen Gehöfts den Jungen und er darf bleiben, bis er wieder reisefertig ist. Langsam und behutsam entwickelt sich eine innige Beziehung zwischen den beiden Einzelgängern. Parallel dazu nähert sich Pax vorsichtig der Fuchsdame Bristle und ihrem schwächlichen kleinen Bruder Runt an, die unter dem Schutz des alten Fuchses Grey stehen. Doch schon bald verkünden die Krähen die Nachricht vom Näherkommen der kriegskranken Menschen und ein dunkler Schatten der Bedrohung legt sich über das Leben.

Ohne wirkliche Kriegshandlungen zu schildern, gelingt es Pennypacker, die Allgegenwärtigkeit der Gefahr auszudrücken, mit welcher der Krieg das Leben lähmt. Diese Lähmung wird eindringlich durch Verletzungen inszeniert. Vola hat in einem früheren Krieg, in dem sie Schuld auf sich geladen hat, bereits ein Bein verloren, Peter hat den gebrochenen Fuß, Runt verliert seinen Hinterlauf durch eine Miene und auch Paxʼ Pfoten sind von der Käfighaltung aufgerissen; er muss das schnelle Laufen freier Füchse erst mühsam lernen. Die Fuchsdame Bristle und Vola haben sich wörtlich oder übertragen vor der Grausamkeit der Welt in ihren Bau zurückgezogen. Dennoch scheinen es gerade die Verletzungen zu sein, die zu Großmut und Empathie befähigen. Pennypackers Charaktere stemmen sich mühsam gegen den Hass und besonders die Wut, die tief in jedem schlummert, die man zulassen muss, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen. Peter möchte nicht werden wie sein jähzorniger Vater, der freiwillig in den Krieg gezogen ist, und Vola hat im Krieg einen Menschen getötet. Es ist die Kraft der Fantasie, die sie von ihrer Verstrickung in diese Schuld befreit.

Der Krieg ist in der Geschichte Pennypackers kein spezieller Krieg, sondern ein Prinzip. Eine Abstraktion der destruktiven Kräfte in Mensch und Tier, die sich nur durch Standhaftigkeit, Freundschaft und Mitgefühl überwinden lassen, wie in dieser komplexen Erzählung auf mehreren Ebenen vorgeführt wird. Fast noch wichtiger wird die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung, die weder Peters Vater noch sein Großvater wirklich übernehmen wollten, die seine Mutter nicht übernehmen konnte; Verantwortung für einen kleinen Fuchs, für neu gefundene Freunde, für einen verletzten Bruder oder Gefährten.

Diese großen Themen im Rahmen einer gut lesbaren, spannenden Geschichte zu erzählen, die zum Nachdenken zwingt, die selbst kleine Verletzungen verursacht, denen man sich als Leser stellen muss, ist eine große Kunst, die selten in einem Jugendroman verwirklicht wird. Natürlich ist es keine einfache Lektüre ‒ es wird wenig verwundern, dass es kein wirkliches Happy End gibt, wie Kinder es zu verlangen gewohnt sind. Meine Kinder hat das Buch angegriffen, sie haben es zwischendurch gehasst, denn die Welt des Romans ist bisweilen so abstoßend und ungerecht, wie auch unsere es sein kann ‒ die eigentlichen Opfer des Krieges sind auch hier die Unschuldigen. Aber meine Kinder wollten immer weiter hören, waren im Bann der elementaren Wucht, die diese Geschichte entfaltet. Sara Pennypacker ist ein sehr aufrichtiger Roman gelungen, der Kinder fordert, aber immer ernst nimmt, der ihnen etwas zumutet, aber ihnen auch viel mitgeben kann. Die Illustrationen von Jon Klassen haben eine Tiefendimension, die erst bei aufmerksamer Betrachtung deutlich wird. Das sollte man von guten Illustrationen auch erwarten, nur dass uns zu oft viel zu wenig zugemutet wird. Es dürfte wenig Kinderbücher geben, auf die sich das schwere Wort Franz Kafkas so eindeutig anwenden lässt: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Titelbild

Sara Pennypacker: Mein Freund Pax.
Mit Illustrationen von Jon Klassen.
Übersetzt aus dem Amerikansichen von Birgitt Kollmann.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
302 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783737352307

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