Naturforschung jenseits der großen Naturforscher

Der Sammelband „Akteure, Tiere, Dinge“ erkundet die Produktion von Naturwissen in der Frühen Neuzeit

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichte wird ebenso wie Naturgeschichte häufig als das Handeln und Entscheiden großer Männer erzählt. Leicht stellt sich da der Eindruck ein, äußere Rahmenbedingungen oder das Mitwirken weiterer Beteiligter sei nur eine Marginalie. Nicht so in Silke Förschlers und Anne Marissʼ Sammelband Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit. Freilich tritt auch hier der Name Carl von Linné häufiger auf, der schließlich nicht zuletzt in Michel Foucaults Analyse der Wissenskonstituierung eine Rolle spielt. Andererseits betonen die Beiträge des Bandes aber immer wieder auch die Bedeutung gerade solcher Akteure, die von Beruf aus per se eigentlich keine Naturforscher waren.

In ihrer knappen Einleitung stellen Förschler und Mariss dabei zunächst heraus, dass es ihnen in Bezug auf Naturgeschichte vor allem auf Verfahrensweisen der Wissensgenerierung ankommt, wobei diese sowohl empirisch als auch textuell als auch bildlich ausfallen können. In der Tat ist der Sammelband interdisziplinär angelegt, was dazu passt, dass Naturforschung innerhalb der Frühen Neuzeit auf kein einziges akademisches Fach begrenzt blieb. Die Autoren des Bandes sind unterdessen primär Historiker, Kunstwissenschaftler und Kulturwissenschaftler, wobei Förschler selbst momentan an ihrer kunsthistorischen Habilitation mit dem Titel „Tiere in Bildern naturgeschichtlicher Ästhetik“ arbeitet und der Band auf eine Tagung aus dem Sommer 2015 zurückgeht, die von der DFG sowie der LOEWE-Stiftung gefördert wurde.

Den Herausgeberinnen geht es um einen „historisch beobachtbaren Wandel der Naturgeschichte“, die „zur Herausbildung der modernen Naturwissenschaften“ geführt habe und die über die Beobachtung historischer Verfahrensweisen sichtbar werden soll. Der dazu gewählte Untersuchungszeitraum reicht hierfür vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Was Tiere betrifft, bilden diese selbstredend einen zentralen Bestandteil jeder Naturforschung. Entsprechend findet sich am Ende des Bandes eine theoretische Fundierung, die noch einmal rückblickend die vorangegangenen Beiträge innerhalb der Human-Animal Studies verortet. Das ist gewinnbringend, obgleich Leser aus dem Bereich der Animal Studies sich vielleicht schon früher stärkere Bezüge zur Theorie der Animal Studies gewünscht hätten. Gleichfalls würden sich derartige Leser eventuell eine größere Schwerpunktlegung auf lebende Tiere wünschen – viele Tiere des Bandes sind schlichtweg totes und zu sammelndes Material, etwa Insekten. Andere Beiträge dagegen beschäftigen sich gar nicht mit Tieren.

Sammeln – nicht nur von Insekten – ist indes ein gutes Stichwort hinsichtlich der Makrostruktur des Bandes, denn er gliedert sich in die drei Teile „Sammeln & Systematisieren“, „Kommunizieren & Transformieren“ sowie „Erfinden & Präsentieren“. Dem liegt die Idee zugrunde, dass zur Erforschung der Natur zunächst überhaupt erst Daten gesammelt werden müssen, im Anschluss daran Kommunikation über diese Daten stattfindet und sie schließlich einer Öffentlichkeit präsentiert werden können. Der erste Schritt des Sammelns ist dabei auch in der Covergestaltung des Bandes festgehalten: Zu sehen ist ein gemalter Vogel, der – bereits tot und gesammelt – an einer seinen Schnabel durchlöchernden Schnur aufgehängt ist. Gewiss mutet das für den heutigen Tierfreund makaber an, obschon der künstlerischen Gestaltung seines Federkleids und insbesondere dessen Farben eine gewisse Attraktion nicht abgesprochen werden kann. Kunsthistorisch zu verorten ist das Bild in Jagdstilleben, die von adeligen Liebhabern im 17. Jahrhundert in Auftrag gegeben wurden. Dennoch verbirgt sich in dieser Form der adeligen Zerstreuung durchaus ein naturwissenschaftlicher Anspruch: „Die Arten der Vögel w[u]rden bestimmt, ihre Ähnlichkeiten diskutiert und aufgelistet, Namen, Alter, Geschlecht angegeben und Vergleiche mit bekannten Exemplaren aus der tradierten Literatur gezogen“.

Beim Sammeln von Naturgegenständen waren unterdessen – so erfährt man in den Beiträgen des ersten Teils – nicht nur Adlige oder Naturwissenschaftler involviert. Vielmehr beschäftigte es Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen, die alle jeweils ihren ganz eigenen Beitrag zur Naturforschung innerhalb der Frühen Neuzeit leisteten. Naturforschung war damals eine Art gesellschaftsübergreifendes Projekt. Es bildete sich daher auch so etwas wie eine „grassroots-Gelehrsamkeit“ heraus, die nicht unwesentlich von Missionaren in fernen Ländern getragen war. Dass das Forschen ferner eine ganze Reihe von organisatorischen Rahmenbedingungen erforderte, erfährt man im Teil „Kommunizieren & Transformieren“, in dem es nicht zuletzt um kommunikationstechnische Verfahrensweisen geht. Wesentlich waren diesbezüglich etwa das Führen von Referenzkatalogen und Listen sowie eine rege Korrespondenz mit anderen Forschenden, weil so das gemeinsame Vorgehen effizienter koordiniert werden konnte. Ferner war außerdem die Kommunikation mit der indigenen Bevölkerung am Amazons von Belang, was hier einmal mehr verdeutlicht, dass Naturerforschung auch von völlig unbekannten Einzelindividuen und eben nicht nur von westlichen Universitätsgelehrten befördert wurde.

Von großem Interesse aus Sicht der Animal Studies sind insbesondere der Beitrag von Julia Breittruck über die Haltung von Kanarienvögeln im 17. und 18. Jahrhudert in Paris sowie derjenige von Karin Leonhard über die bildliche Darstellung von Schlangen. Bezüglich der Kanarienvogelhaltung stellt Breittruck zwei Thesen auf: Zum einen sei ihre Haltung innerhalb einer städtischen Schicht zunehmend auf Akzeptanz gestoßen – wohingegen sie anfangs noch als bloße Kuriositätenlust stigmatisiert war – und zum anderen habe sich mit der zunehmenden Akzeptanz ihrer Haltung eine Debatte darüber entwickelt, inwieweit Vögel eine Menschenähnlichkeit annehmen könnten. Belächelt sei die Vorliebe für Kanarienvögel jedoch anfangs noch gewesen, weil sie verglichen wurde mit „dem Sammeln von artificialia, wie Büchern, Kupferstichen, Medaillen oder Büsten“. Der Essay leistet damit einen Beitrag zur von den Animal Studies diskutierten Problematik der Verdinglichung von Tieren. Interessant ist dabei insbesondere, wie diese Verdinglichung sich nicht nur wie sonst häufig beobachtet auf Nutztiere erstreckt, sondern sogar von Haustiergegnern ins Spiel gebracht wurde. Breittruck verfolgt in ihrem Essay allerdings eher das Argument, dass man an der veränderten Bewertung der Kanarienvogelhaltung Veränderungen bezüglich der Generierung von Naturwissen ablesen könne. Hingegen bezieht sich Leonhards Tierbeitrag weniger auf die Produktion von Naturwissen, als vielmehr auf dessen Darstellung. Indem sie verschiedene Repräsentationen von Schlangen in den Blick nimmt, wird deutlich, wie manche Akteure „Kunst und Naturwissenschaft“ als „getrennte Dinge“ ansahen, andere jedoch eine Verbindung behaupteten. Für eine radikale Trennung würde etwa der Gegensatz „zwischen abstrakter Diagrammatik und deskriptivem Naturalismus“ hinsichtlich mancher Schlangendarstellungen sprechen. Andererseits legt aber zum Beispiel auch der Beitrag von André Krebber über die Insektenforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian nahe, dass in der Frühen Neuzeit eine genuine Verbindung zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft bestand. Überhaupt bleibt festzuhalten, dass der Sammelband durch seine eingestreuten Abbildungen der besprochenen Bilder deutlich gewinnt.

Das Hauptziel des Bandes, verschiedene Verfahrensweisen der Naturforschung innerhalb der Frühen Neuzeit zu beleuchten, ist sehr gut gelungen. Anhand verschiedenster Perspektiven wird klar, wie diverse Akteure aus unterschiedlichsten Bereichen an der Erforschung der Natur mitgewirkt haben. Organisatorische Rahmenbedingungen, Institutionen und Orte des frühneuzeitlichen Naturforschens werden dem Leser eindrücklich vor Augen gestellt. Für den an den Animal Studies interessierten Leser ist der Band hingegen nur bedingt zu empfehlen. Je nachdem, unter welchem Blickwinkel er sich für Tiere interessiert, kann ihm der Band jedoch durchaus erhellende Einblicke gewähren.

Titelbild

Silke Förschler / Anne Mariss (Hg.): Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit.
Böhlau Verlag, Köln 2017.
258 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783412505202

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