Müde Gesichter, jedoch Prachtkerle
Bohuslav Kokoschkas vielstimmiger Marine-Roman „Ketten in das Meer“
Von Klaus-Peter Walter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDoch, doch, Österreich hatte einmal eine eigene Marine, auch wenn man sich das heute kaum mehr vorzustellen vermag. Man besuche nur einmal das Heeresgeschichtliche Museum in Wien: Natürlich gibt es dort alles über die kaiserlich-königliche Artillerie, Kavallerie, Infanterie und Gebirgsjägertruppe zu sehen, aber eine erstaunlich große Abteilung ist der Seefahrernation Österreich gewidmet, samt gesunkenen und geborgenen U-Booten und anderem mehr, was eher vom Untergang erzählt als von stolzer Flottenpracht und -herrlichkeit. Im Heeresgeschichtlichen Museum hängt auch Anton Romakos berühmtes, eher spöttisch-karikierendes Gemälde Admiral Tegetthoff in der Seeschlacht von Lissa aus dem Jahr 1866. Backenbärtige Seesoldaten mit keck (oder verzweifelt?) verrutschten Tschakos, offenkundig irgendwie im falschen Film, schlagen auf einem hölzernen Admiralschiff eine Schlacht, die sie sogar am Ende trotz unterlegenem Material gewinnen.
Genau mit dieser scheinbar aus der Zeit gefallenen Truppe befasst sich Bohuslav Kokoschkas Roman Ketten in das Meer. Wie es der Name andeutet, handelt es sich um den jüngeren Bruder Oskar Kokoschkas, der von 1892 bis 1976 lebte. Wie der ältere war Bohuslav bildender Künstler, Schriftsteller und obendrein Musiker.
Beide Kokoschkas dienten, genau wie zum Beispiel Leo Tolstoj, Isaak Babel, Georg Trakl, als Soldaten. Oskar wäre im Ersten Weltkrieg beinahe einem Kopfschuss und einem französischen Bayonett zum Opfer gefallen. Bohuslavs militärische Karriere verlief ruhiger und unblutiger: Er war Musiksoldat, stationiert auf dümpelnden Kähnen im östereichisch-kroatischen Hafen Pula. An Land, ganz in der Nähe, befindet sich eine halbwegs gemütliche Musikkaserne, wo ein halb tauber Kapellmeister das Regiment führte. Mit abprotzender Schiffsartillerie haben die Musiker kaum je zu tun, allenfalls einmal, als die Flotte dem Feind ausgeliefert werden soll. Das Schlimmste, was den Seesoldaten ansonsten droht, ist hoher kaiserlicher Besuch. Dann heißt es Messingteile wienern oder Uniformen wieder in den Originalzustand bringen, sonst gibt es „Bau“, im österreichischen Marinejargon „Busho“ genannt.
In den Bau gelangt Bohuslav wegen seiner losen Streiche und seiner generellen Aufsässigkeit des öfteren. Den Marinemusikern bleibt viel Zeit (zu viel Zeit?), auf manigfaltige Weise Allotria zu treiben, oder kleineren Schiebereien oder Betrügereien zu obliegen. Ein Soldat veranstaltet beispielsweise eine Lotterie, doch den ausgelobten Hauptgewinn, einen wertvollen Ring, besitzt er gar nicht. Unvergesslich die mündlichen Tubaimitationen des Geigers in seinem Orchester, aber auch die Tricks mit den leicht austauschbaren Mützenbändern, die einen raschen Identitätswechsel von Schiff zu Schiff ermöglichen und so eine Extraportion Ausgang erschleichen helfen. Einmal geht das ins Auge: Das Schiff, dessen Mützenband Bohuslav trägt, ist leider schon untergegangen, was der Wache, an der er vorbei muss, nicht unbekannt ist. Also heißt es wieder: Ab in den Bau!
Ketten ins Meer ist ein Seestück, aber kein Kriegsroman. Nicht umsonst betitelte ihn der Verleger der Erstausgabe von 1972 Das Logbuch des Bohuslav Kokoschka. Mit dem großen Namen musste geworben werden, und mit dem Gattungsbegriff „Logbuch“ lag man so falsch nicht. Vieldeutiger und wohl mehr im Sinne des Autors ist jedoch der jetzt wieder zu Ehren gelangte Originaltitel. Adolf Opel, der Verfasser des Nachwortes, versteht ihn als Freiheitsruf und setzt ihn in Beziehung zu einem Lied über die Meuterer von Cattaro: „Ketten in das Meer, Wort Freiheit braus’ ins Gehör, Lied, steig auf zur Sonne!“ Hier offenbahrt sich wohl eher die innere Haltung Kokoschkas zum Militärwesen. Natürlich – die Ketten, die da ins Meer hinabrasseln, sind in erster Linie Ankerketten, aber dass sie herabgelassen sind, beschreibt treffend die Situation des Schiffs von Musiksoldat Kokoschka Bohuslav.
Dieser stand immer im Schatten seines älteren Bruders, was nicht heißen soll, dass der sich nicht zeitlebens, zum Teil rührend, zum Teil unterdrückend um ihn gekümmert hätte. Bohuslavs Romandebüt hat Oskar der Große wohlwollend begleitet, geschätzt und unterstützt, doch zu einer Veröffentlichung kam es zunächst nicht. Das Buch lag jahrzehntelang auf Halde.
Gleichwohl ist Kokoschka ein erstaunlich frischer, moderner Roman gelungen, dessen Vielstimmigkeit, Bildkraft und humane Gesinnung überraschen. Natürlich meldet sich darin immer wieder der Autor selbst zu Wort, doch rasch wendet sich sein Blick stets wieder ab, zunächst zu den Kameraden, die nicht immer einfach zu ertragen sind. Er wird Zeuge homosexueller Liebschaften oder tragischer Todesfälle, erlebt aber auch Beispiele echter Freundschaft und heitere Episoden, die den tristen Alltag des Militärlebens erträglich erscheinen lassen. Die Männer sind gebeutelt und müde, aber in der Mehrzahl gute Kerle.
Ein eleganter, ebenso einfacher wie wirkungsvoller Kniff ermöglicht Kokoschka, die Perspektive seines Romans von sich weg auf die Welt zu richten. Das Manuskript wird von einer Reihe südslawischer Freundinnen, darunter der Postmeisterin Maza und ihrer Freundin Danka, gefunden und reihum gelesen. Dies eröffnet ihm die Möglichkeit, auch deren Geschichten zu erzählen, Liebesgeschichten, die manchmal im Selbstmord enden, Geschichten von sexueller Nötigung, von Gewalt durch Tiere – einen wilden Bären – oder Menschen wie den wüsten kriminellen Salo.
Und dann ist plötzlich alles zu Ende. Der Krieg ist aus und die Matrosen erhalten Urlaub auf Immer. Wohin jetzt mit all den vielen Geschichten, den Menschen, von denen man noch viel mehr erfahren möchte? Es ist selten, dass das Erreichen der letzten Romanseite so bedauerlich ist wie hier und man wissen möchte, wie es weitergeht. Hinter dem Leser liegt ein Panorama des Lebens, ein Kaleidoskop der Menschen zur Zeit des Ersten Weltkrieges, schön, bunt, traurig und manchmal so tragisch wie das Leben selbst.
Besondere Freude bereitet die liebevolle Edition des Romans, der mit Zeichnungen Kokoschkas illustriert wird. Auszüge aus eigenen Kompositionen bilden ein leider nicht klingendes, nur zu lesendes Arpeccio dazu.
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