Ein großer jüdischer Aufklärer in Berlin

William Hiscotts erste umfassende Studie über Saul Ascher

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass unvollendete und unbekannte Manuskripte aus dem Nachlass von Schriftstellern und Schriftstellerinnen durch kundige Herausgeber doch noch gedruckt werden, erlebt die literarisch interessierte Öffentlichkeit häufig. Dass hingegen Fragment gebliebene Dissertationen durch den betreuenden Hochschullehrer zum Druck befördert und dabei um ein Vorwort, die Überprüfung von Text und Fußnoten sowie den bibliographischen Anhang ergänzt werden, dürfte zu den Ausnahmen in der Geschichte akademischer Publikationen gehören.

Um eine solche Ausnahme handelt es sich bei der großen Studie des im Jahre 2013 plötzlich verstorbenen Philosophiehistorikers, Aufklärungsforschers, Publizisten und Übersetzers William Hiscott über den jüdischen Aufklärer Saul Ascher (1767–1822). Viele Jahre intensiven Studiums, weit ausgreifender archivalischer Recherchen und präzis-kluger Rekonstruktionen historischer und biographischer Kontexte hat Hiscott auf eine philosophiehistorische Darstellung verwendet, die einem der minores in der jüdisch- deutschen Philosophie-, Kultur- und Politikgeschichte die gebührende wissenschaftliche Aufmerksamkeit verschaffen sollte.

Bereits Anfang der 1960er Jahre hat der Romanist Werner Krauss für ein „Studium der obskuren Schriftsteller des Aufklärungszeitalters“ plädiert und damit einer inzwischen allgemein anerkannten und durch profunde Ergebnisse ausgewiesenen Forschungsrichtung sachlich und methodisch den Weg gebahnt, den auch Hiscott mit seiner großen Arbeit über Saul Ascher beschritten hat. Geht es doch darum, einen philosophischen Publizisten im Grenzgebiet von Philosophie, Gesellschaftsgeschichte und schöner Literatur, einen begeisterten Kantianer und radikalen Fürsprecher der Haskala, also der innerjüdischen Aufklärung, zudem einen weitgehend freien Schriftsteller und Autor publikumswirksamer Stellungsnahmen und Streitschriften im Kontext von Spätaufklärung und Berliner Klassik zu verorten.

Dies geschieht mit beeindruckender Ausführlichkeit und doch ohne kleingeistige Detailverliebtheit – in insgesamt neun großen Kapiteln, die der Lebens- und Werkgeschichte Saul Aschers folgen, ohne lediglich Texte und Kontexte zu referieren. Die Studie beginnt sehr leserfreundlich mit einer Zusammenschau wichtiger systematischer „Leitmotive“, die in der Sicht des Verfassers das Werk Aschers und damit auch seine wissenschaftliche Erörterung strukturieren können. Weniger als „theoretischen“ denn als „praktischen“ Philosophen beschreibt Hiscott Saul Ascher, der einer modernen politischen Philosophie den Weg gewiesen und – ein weiteres Leitmotiv – die „conditio judaica“ mit einem Denken als „citoyen du monde“ zu versöhnen versucht habe. Den großen Auseinandersetzungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts über die historische Legitimität von Revolutionen habe er mit seinem Plädoyer für Republik und Rechtsstaat hellsichtig vorgearbeitet, ohne doch – wie in Teilen der Forschung (von Walter Grab, Jörn Garber u.a.) gern behauptet –  ein „jüdischer Jakobiner“ geworden zu sein.

Vor allem wurde Ascher mit seiner Schrift Eisenmenger der Zweite (1794) zum frühen Diagnostiker einer für die Sattelzeit zwischen 1789 und 1815 so folgenreichen Tendenzwende vom „christlichen Antijudaismus zum völkischen Antisemitismus“. Den philosophisch-politischen Wegbereiter für diese Tendenzwende, die den Juden Staatsbürgerschaft und bürgerliche Rechte mit Verweis auf ihre Ethnizität, nicht etwa auf ihre Religion, verweigert, nennt der Kant-Verehrer Saul Ascher einen zweiten„Eisenmenger“. Gemeint ist kein anderer als Johann Gottlieb Fichte, den Ascher scharfsinnig und scharfzüngig als Nachfahren jenes aggressiv judenfeindlichen Heidelberger Professors für Orientalische Sprachen Johann Andreas Eisenmenger entlarvt, der 1711 sein von Antisemiten gern genutztes Werk Entdecktes Judenthum publiziert hatte.

Aschers Urteil über Fichtes revolutionskritische und zugleich judenfeindliche Schrift aus dem Jahre 1793 (Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution) war denn auch von bestechender Präzision; mit ihr – so Ascher – werde eine „neue Wissenschaft des Judenhasses“ begründet. Kaum zwanzig Jahre später sollte sich Aschers hellsichtiges Urteil bestätigen: als seine eigene Schrift beim Wartburg-Fest des Jahres 1817 von einer selbsternannten christlich-deutsch-nationalen Elite den Flammen übergeben wurde – ein Fanal, das nicht nur auf die von Studenten organisierten Bücherverbrennungen vom Mai 1933 vorausweist, sondern das zum politisch-semantischen Grundbestand des seinerzeit dreihundertjährigen Luther-Gedenkens gehört. Hiscotts Studie, seit 2003 am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam entstanden, wurde im April des Jahres 2017 posthum publiziert, also am Ende einer medienwirksam zelebrierten Luther-Dekade, in deren Verlauf Luthers Judenhass und seine Folgen in immer neuen Anläufen erörtert und gern auch relativierend historisch „eingeordnet“ wurden. Wissenschaftsgeschichtlich und wissenschaftspolitisch muss die Veröffentlichung eines großen Werkes über Saul Ascher in diesem Zeitkontext also als ein wegweisendes Korrektiv, als notwendiges, nachgerade überfälliges Signal gewürdigt werden.

Zwar nicht im buchstäblichen Sinne als Leitmotiv, wohl aber als Merkmal für einen neuen Typus des intellektuellen Autors und Maskils, also eines jüdischen Aufklärers, gilt dem Verfasser die große Bandbreite, die Vielgestaltigkeit des philosophisch-publizistischen Werkes von Ascher. Dies betrifft seine Themen, die von religionsphilosophischen über Fragen der praktischen Philosophie bis hin zu Themen aus der politischen Ökonomie – 1818 übersetzte und kommentierte Ascher Mandevilles Fabel von den Bienen –  sowie der Gesellschaftskritik reichen. Es betrifft aber auch die Gattungen und Publikationsarten, die Ascher wählt: Traktate und Pamphlete, Essays, Dialoge, Satiren und Gedichte finden sich in seinem Werk. Schon mit dieser Heterogenität steht Ascher in der Sicht Hiscotts für einen philosophischen Schriftsteller unter neuen Bedingungen: für ein gelehrtes, philosophisches Schreiben, das sich wesentlich als Kritik – häufig, aber nicht ausschließlich als Vorurteilskritik –  äußert und das sich damit an eine neue, bürgerliche Öffentlichkeit richtet.

Als Angehöriger einer inzwischen dritten Generation aufgeklärter Juden – nach Aron Gumpertz, Marcus Elieser Bloch und vor allem Moses Mendelssohn, nach Marcus Herz, David Friedländer und Lazarus Bendavid – repräsentiert Saul Ascher, der 22-jährig mit einer ersten Publikation hervortrat (Bemerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden, veranlaßt bei der Frage: Soll der Jude Soldat werden, 1788) die „Berliner Haskala als eine Bewegung junger Männer“. Anschaulich und zugleich systematisch schildert Hiscott die – im Vergleich zur europäischen und deutschen Entwicklung – verspätete Entstehung und Wirkung  einer „Berliner Aufklärungsbewegung“, die bei philosophischen und medizinischen Problemen, bei Fragen des guten Geschmacks und der „belles lettres“ ebenso lebhaft engagiert war wie bei den Debatten um die „Bürgerliche Verbesserung der Juden“. Welche Bedeutung Verlagen und Periodika, darunter vor allem die Berlinische Monatsschrift, zukam; mit welch kritisch-weltbürgerlichem Impetus der aus begüterten Verhältnissen stammende Saul Ascher auf diesen philosophischen und gesellschaftspolitischen „Kampfplätzen“ agierte, dass er dabei gleichermaßen als Maskil an jüdischen Fragen und als Jude an Fragen der bürgerlichen Gesellschaft interessiert war, entwickelt der Verfasser in einer spannend zu lesenden Abfolge von werkgeschichtlich konzipierten und diskursgeschichtlich stets präzis kontextualisierten Analysen.

Das beginnt mit zwei großen Kapiteln über Aschers Jugend „im Zenit der Berliner Aufklärung“ sowie über einen „junge(n) Maskil im Kontext der jüdischen Aufklärung“, führt sodann zu einem ‚close reading‘ von Aschers religionspolitischem und religionsphilosophischem Hauptwerk Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums von 1792. Es folgen umfangreiche textanalytische Darstellungen von Aschers kritischen Invektiven gegen die Schwärmerei (Kapitel 6), kursorische Lektüren seiner belletristischen, von Ascher selbst als „Eintagsfliegen“ (Die Ephemeren, 1797) bezeichneten Texte (Kapitel 8) sowie im 9. Kapitel eine ausführliche Auseinandersetzung mit Aschers Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen (1802).

Hintergrund der von David Friedländer und Lazarus Bendavid scharf kritisierten Schrift Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums ist eine von Ascher sensibel diagnostizierte und zugleich programmatisch beantwortete doppelte Krise. Zum einen führte die Akkulturation junger Juden der Generation Saul Aschers an die deutsche Sprache, Kultur und Bildung zwar zur Anerkennung in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, zugleich aber hatte sie eine wachsende Pluralisierung, ja Spaltung, also einen Autoritätsverlust bei den jüdischen Traditionalisten zur Folge. In dieser Situation – so Hiscotts These – plädiert Ascher mit seinem Leviathan für einen innerjüdischen Gesellschaftsvertrag auf der Grundlage eines reformierten Katalogs religiöser Glaubenslehren. Er will mithin im Sinne Kants, dessen Religionsschrift Ascher damit gleichsam antizipiert, in den Geboten der jüdischen Religion „regulative Ideen“ anerkennen, die es ermöglichen, Offenbarung und Vernunft, Orthodoxie und Haskala zu versöhnen und der wachsenden Gefahr eines Zerfalls der Judenheit entgegen zu wirken. Sehr überzeugend und zudem minutiös belegt, situiert Hiscott mit einer solchen Lesart des Leviathan Saul Ascher im Zentrum innerjüdischer Debatten einerseits und allgemeiner religionsphilosophischer Reflexionen andererseits. Damit erscheint Saul Ascher weder als reiner „Außenseiter“ im innerjüdischen, noch repräsentiert er marginale Positionen im aufklärerischen Diskurs über den Deismus und ein fortschrittsoptimistisches Geschichtsdenken.

Das aber bedeutet, dass Hiscotts Studie dominante Merkmale der Ascher-Rezeption wenn nicht zu korrigieren, so doch überzeugend zu erweitern vermag. Saul Ascher ist eben nicht lediglich der Verfasser jener wirkungsmächtigen Schrift aus dem Jahre 1815, Die Germanomanie, die zwei Jahre später der Bücherverbrennung beim Wartburgfest zum Opfer fallen sollte. Als pointiert-prominenter Kritiker einer im Zuge der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses erstarkenden nationalistischen Vorstellung von der ethnischen Heterogenität der Menschen, also der radikalen Rücknahme aufklärerisch-universalistischer Prinzipien zugunsten völkisch-partikularistischer Identitätskonstrukte, wurde Ascher im Laufe des 19. Jahrhunderts zur negativen Ikone des völkischen Antisemitismus, zur Hassfigur für Publizisten wie Wolfgang Menzel oder den Historiker Heinrich von Treitschke.

Andererseits haben sowohl Die Germanomanie als auch Aschers Reaktion auf die Ereignisse beim Treffen der Burschenschaften auf der Wartburg, Die Wartburgs-Feier (1818), deutsch-jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts wie Isaac Markus Jost und Heinrich Graetz maßgeblich beeinflusst. Saul Ascher war einerseits der erste im Fach Philosophie promovierte Jude in der Geschichte Deutschlands und Europas und andererseits der erste „Vertreter der wissenschaftlichen Abwehr des Antisemitismus“ in Deutschland. Damit steht er lebens- und werkgeschichtlich im Zentrum von politisch-ideengeschichtlichen Prozessen zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongress, in deren Verlauf jüdische Aufklärung, religiöse Toleranz und weltbürgerliche Humanität von einer romantisch-idealistischen Systemphilosophie abgelöst wurden, die der Partikularität des Deutsch-Christlich-Nationalen huldigte und dabei die Entstehung des modernen völkischen Antisemitismus beförderte. Ascher hat solche Entwicklungen nicht nur früh gesehen, er hat sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen und als vernunftbegeisterter Kantianer gegen alle Enttäuschungen bis ans Ende seines Lebens an den Prinzipien aufklärerischen, vorurteilskritischen Denkens festgehalten.

In immer neuen Anläufen, von Kapitel zu Kapitel rundet sich durch Hiscotts Darstellung das Bild Saul Aschers, von dem es freilich kein wirkliches Porträt gibt, sondern lediglich eine lebhafte und dabei nicht durchweg positive Schilderung in der Harzreise Heinrich Heines. Ascher war nicht nur der visionäre Diagnostiker des modernen Antisemitismus, der auf die Verbrennung seiner Schrift beim Wartburgfest 1817 mit unverminderter analytischer Spottlust reagierte, er war in der Sicht Hiscotts nicht nur der Außenseiter der preußischen Judenheit und auch nicht nur der Vorkämpfer des Reformjudentums; sondern er war ebenso ein jüdischer Jakobiner wie ein kluger Kritiker falscher revolutionärer Emphase. Er war ein Aufklärer im elementaren Sinne und plädierte gerade nicht für religiöse Selbstaufgabe, sondern für ein Verständnis von Religion, das die Historizität religiöser Gesetze und Rituale anerkennt, um Religion als regulative Idee zu befördern.

Trotz seiner knapp 800 Seiten ist diese große Monographie über Saul Ascher in Teilen Fragment geblieben; ein eigentlich geplantes Kapitel über Die Germanomanie fehlt. Stattdessen haben sich die Herausgeber – sehr plausibler Weise – zum Wiederabdruck des von Hiscott für die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (2012) verfassten Artikels entschieden. Und doch merkt man dem nun vorliegenden Werk seinen fragmentarischen Charakter nicht an. Wer an jüdisch-deutscher Ideengeschichte interessiert ist, wird an ihm nicht vorbeigehen können und sich umfassend und inspirierend belehrt finden. Den beiden Herausgebern, Christoph Schulte und Marie Ch. Berendt, gebührt Dank und Respekt für eine ebenso ungewöhnliche wie beeindruckende Publikation, für eine editorische Meisterleistung.

Titelbild

William Hiscott: Saul Ascher. Berliner Aufklärer. Eine philosophiehistorische Darstellung.
Herausgegeben von Christoph Schulte und Marie Ch. Behrendt.
(Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800. Studien und Dokumente, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, betreut von Conrad Wiedemann. Band 23).
Wehrhahn Verlag, Hannover 2017.
797 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783865255525

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