Narratologische Raumfahrt
Caroline Frank über „Raum und Erzählen“ bei Uwe Tellkamp
Von Andreas Solbach
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach der goldenen Epoche der klassischen Narratologie, die sich international mit den Namen von Genette, Todorov, Chapman, Cohn und anderen verbindet, setzt seit den 90er Jahren eine Bewegung zur Ergänzung und Ausdifferenzierung der dort praktizierten, weitgehend strukturalistischen Praktiken ein. Diese Ausdifferenzierung betrifft nicht nur veränderte Grundlagenkonzepte (etwa Monika Fluderniks Natural Narratology) und Ausdifferenzierungen bzw. Neubestimmungen bekannter Analysekategorien (wie etwa die breitgefächerte Diskussion um den unzuverlässigen Erzähler), sie wendet sich vor allem in den letzten zehn Jahren auch immer stärker einer Reevaluierung der grundlegenden analytischen Verfahren der strukturalistischen Gründerväter und –mütter zu (beispielsweise unter dem Stichwort „unnatural narratologies“).
Da mutet es nahezu anachronistisch an, dass sich in den letzten Jahren einige Untersuchungen finden, die sich einem der klassischen Themenbereiche der Erzähltheorie widmen: Der Raumanalyse. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat die germanistische Literaturwissenschaft immer wieder autor- und werkbezogene raumanalytische Untersuchungen vorgelegt, die in der Mehrzahl der Fälle als Ergänzung zu erzähltheoretischen Zeitanalysen angelegt sind. Diese älteren Untersuchungen pflegen nur einen oberflächlichen Kontakt miteinander, denn bis in die späten Siebzigerjahre hinkt die Entwicklung einer deutschen narratologischen Forschung hinter der internationalen Entwicklung hinterher; erst mit Jochen Vogts Aspekte erzählender Prosa (1972 zuerst als schmales Bändchen erschienen) gewinnt die germanistische Diskussion eine Dimension, die über die Grundausstattung von Franz Stanzels Typische Formen des Romans (1964) hinausreicht. Doch obgleich Caroline Frank die ältere germanistische literaturwissenschaftliche Forschung zu Raumfragen bekannt ist, knüpft sie hier nicht an. Sie folgt, zumindest nach außen und in den einleitenden Passagen ihrer Darstellung, eher den Vorgaben der zahllosen Beiträge zur Raumanalytik, die sich im Gefolge der „spatial turn“-Debatte seit den Achtzigerjahren international Geltung verschafft haben. Ihre Darstellung widmet der Zusammenfassung der Forschung insgesamt über vierzig Seiten, wobei die Autorin sichtbar bemüht ist, Konflikten mit den Vertretern einer nicht-literaturwissenschaftlichen Raumtheorie aus dem Wege zu gehen, obgleich sie an vielen Stellen ihrer glänzend informierten und klug auswählenden Literaturübersicht deutlich macht, dass die Grunddogmen der modernen Raumforschung für die literaturwissenschaftliche und narratologische Analyse oft nur wenig hilfreich, nicht zutreffend oder hinderlich sind. Letztlich sind diese einführenden Abgrenzungen und Diskussionen aber nur von peripherem Interesse, denn die Autorin versucht, ausgehend von einem erweiterten strukturalistischen Modell, eine umfassende und anwendungsorientierte Narratologie des Raumes.
Dabei bezieht sie sich einerseits auf den schon lange nicht mehr unumstrittenen Meisterdenker Genette, dessen Theoriebildung an vielen Stellen von ihr mit großer Sachkenntnis und scharfem Unterscheidungsvermögen auf mögliche Probleme kritisch abgeklopft wird, und andererseits auf grundlegende Überlegungen des Gießener Anglisten Ansgar Nünning. Im zweiten Kapitel ihrer Arbeit entwirft sie ein Analysemodell, das drei Ebenen der Raumanalyse ausdifferenziert, worunter sie zum einen die Auswahl und Kombination von Teilräumen versteht, zum zweiten die narrative Darstellung des erzählten Raumes und zum dritten die Semantiken des erzählten Raums. Der erste Bereich orientiert sich im Wesentlichen an einem modifizierten Modell von Intertextualität, während der zweite Bereich sich konzentriert mit raumbezogenen Fokalisierungen und der Stellung der Erzählinstanz zur Diegese befasst, während der dritte Bereich sich mit den klassischen Fragen des Verhältnisses von Raum einerseits, Figurenhandlung, Zeit und Diskurs andererseits befasst.
Zur Erläuterung und Illustration einzelner Probleme dient ihr ein gutes Dutzend Beispieltexte aus der deutschen Literatur. Es wäre aber ein Missverständnis anzunehmen, dass diese Texte einer konsistenten Raumanalyse unterworfen werden, einzelne sehr knappe Partien dienen nur dazu, narratologische Feinanalysen zu veranschaulichen. In diesem für das Thema des Buches wohl wichtigsten Teil finden sich theoretische und heuristische Annahmen, denen man nicht notwendigerweise zustimmen muss. Dazu zählt etwa die Grundannahme einer intertextuellen Grundkonstruktion für die Ebenen der Raumanalyse; aber auch bei vielen Annahmen innerhalb dieses Abschnitts des Buches lassen sich Variationen und Modulationen vorstellen. Allerdings sollte betont werden, dass dieser fast zweihundertseitige Teil in sich stimmig und durchaus überzeugend verfährt und vor allem durch eine außerordentlich intensive intellektuelle Durchdringung der narratologischen Problematik fasziniert. Die Autorin beherrscht ihr Thema und die theoretischen und analytischen Verästelungen in einem bestechenden und überzeugenden Maße, sodass selbst bei abweichender Meinung die analytische Leistung von beeindruckender Komplexität zeugt.
Der zweite große Teil des Textes wählt sich einen zentralen Text, Uwe Tellkamps Der Turm, als Beispiel für die von der Autorin vorgeschlagene analytische Methode aus. Dies geschieht mit Finesse und analytischem Geschick, aber dennoch drängen sind hier einige Bedenken auf. Obgleich Uwe Tellkamps Roman zu den eindrucksvollsten Texten der Gegenwartsliteratur zählt, ist es zweifelhaft, ob er als Referenztext sinnvoll ausgewählt ist. Dagegen spricht vor allem, dass viele Leserinnen und Leser, die den Roman nicht kennen, zögern werden, sich der genauen Lektüre dieses außerordentlich umfangreichen und komplexen Textes zu unterziehen, womit das eigentliche Ziel dieses Kapitels in Gefahr gerät. Überhaupt darf man zweifeln, ob das übergreifende Ziel der Darstellung, ein praxistaugliches Analysemodell für raumanalytische Verfahren zu entwerfen, in vollem Umfange erreicht wird: Die Überblicksgrafiken, die die Erkenntnisse des analytischen Kapitels zusammenfassen sollen, sind ohne die vorherigen Ausführungen nicht wirklich verständlich bzw. umsetzbar, und eine Schritt-für-Schritt-Rezeptur im Sinne einer „Raumanalyse für Dummies“ steht angesichts der Komplexität des Themas ohnehin nicht zur Diskussion. Ein weiteres kritisches Bedenken ist der Verfasserin allerdings nicht anzulasten: Es ist leider unbestreitbar, dass die internationale Forschung deutschsprachige Beiträge (vor allem mit ausschließlich deutschsprachigen Beispielen) auch zu wichtigen internationalen Debatten praktisch nicht zur Kenntnis nimmt. Die deutschsprachige Forschung hat ihrerseits den Anschluss an die internationale narratologische Forschung über Jahre hinweg verpasst, weil mit wenigen Ausnahmen niemand die grundlegenden Arbeiten von Genette im Original gelesen hat. Erst Jochen Vogts Präsentation der Genette’schen Kategorien und die dann zögerlich einsetzende Lektüre der englischen Übersetzung von Genette haben dieses Manko behoben. Vor diesem Hintergrund ist nur zu erwarten, dass die ausgezeichnete Arbeit von Caroline Frank nur begrenzte internationale (vor allem in den Vereinigten Staaten) Aufmerksamkeit erlangen wird. Die Wahl von Tellkamps Roman wird eine solche Rezeption sicherlich nicht fördern. Das ist umso mehr zu bedauern, weil die Autorin mit ihrem Modell einen umfassenden und überzeugenden Versuch vorlegt, narratologische Raumanalyse systematisch zu betreiben, und damit neben der Arbeit von Katrin Dennerlein (Narratologie des Raumes, 2009) steht. Die Arbeit wird abgeschlossen von Überlegungen zu einer historischen Raumnarratologie, die sie allerdings auf homodiegetisch erzählte Texte einschränkt, sowie zu einer intermedialen und gattungsübergreifenden Raumnarratologie, die sich allerdings auf oberflächenbasierte Gattungen konzentriert.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass mit Caroline Franks Raum und Erzählen ein weiterer – und in literaturanalytischer Hinsicht überzeugenderer – Versuch einer narratologischen Raumanalyse vorliegt, der durch hohe Komplexität, souveräne kritische Übersicht und dichte Darstellung zu überzeugen weiß. Das Ziel, eine praxisorientierte Methodik zu entwickeln, ist sicherlich nur teilweise erreicht; bis dieses Versprechen realistischerweise eingelöst werden kann brauchen wir noch alternative Entwürfe und eine darauf basierende Diskussion, die die möglichen Modelle kritisch gegeneinander abwägt und idealerweise zu einer angemessenen Komplexitätsreduktion führt, die Raumanalysen in der Zukunft als einfacher zu bewältigen erscheinen lässt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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