Anatomie der Wölfe

Jérôme Meizoz seziert in „Hoch oben im Tal der Wölfe“ den Hass, der hinter der Alpenfolklore lauert

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ist das die Welt, in der du leben willst?“, fragt sich der Erzähler ganz am Ende seines vier Jahrzehnte, diverse autobiografische und zeitgeschichtliche Ereignisse umfassenden Berichts. Doch er scheint auf seine Frage keine Antwort zu wissen. Für den Westschweizer Autor Jérôme Meizoz, der sich mit zahlreichen Romanen und Erzählungen, aber auch mit literaturkritischen und literaturhistorischen Werken zur französischsprachigen Literatur in der Schweiz und in Frankreich einen Namen als kritischer und engagierter Autor gemacht hat, ist diese Frage kein Spiel. Im Gegenteil: Der sich hier artikulierende existenzielle Ernst bestimmt den Grundton des ganzen Buches. Es ist diese ebenso klare wie unprätentiöse, stets um die Genauigkeit und Aufrichtigkeit der eigenen Rede bemühte Haltung, die den Roman so schlüssig, ja über die gute, alte literarische „Wahrhaftigkeit“ hinaus glaubwürdig macht. Leichtfertiges, spielerisches Jonglieren mit historischen Versatzstücken ist Meizoz’ Sache nicht. Seinem „wahren Roman“, wie der Untertitel in der deutschen Übersetzung lautet, geht es um die historischen Tatsachen, nicht um literarische Hypothesen. Immer wieder stellt der Erzähler die Machtfrage, und er stellt sie, ohne Scheu vor dem Pathos des Endgültigen, mit voller Wucht: „Die Wahrheit ist eine Frage der Macht, das ist alles.“

Der Roman Hoch oben im Tal der Wölfe ist der Rekonstruktionsversuch eines politischen Skandals, der 1991 den Kanton Wallis und die gesamte Schweiz erschütterte. Es geht um den bis heute unaufgeklärten Überfall mit schwerer Körperverletzung auf den damaligen Sekretär der Umweltorganisation WWF. Hintergrund des Verbrechens sind die Konflikte zwischen den reaktionären und korrupten Machthabern des Kantons auf der einen und den in den 1980er Jahren zunehmend politisierten Umweltschützern auf der Gegenseite. Als Greenpeace-Aktivisten sich 1986 an Bäume ketten, um die gigantischen Waldrodungen zu verhindern, die für den Bau der WM-Skipisten in Crans Montana nötig werden, fordert ein Flugblatt: „Hängt die Umweltschützer auf, solange es noch Bäume hat!“ Wenige Jahre später geht es um einen unter Naturschutz stehenden Föhrenwald, der einer Autobahn weichen soll. Auch hier kommt es zu Protesten und zu Bedrohungen. In diesem Klima von Angst und Gewalt, bei dem auch bekannte Walliser Künstler und Schriftsteller, die sich – wie beispielsweise Maurice Chappaz – für den Schutz der Natur einsetzen, verleumdet und bedroht werden, spielt die Handlung von Meizoz’ kleinem, aber feinem, auf verschiedenen Ebenen „wahren“ Roman.

Es geht dabei nicht nur um einen politischen Skandal und die mafiösen Zustände im Wallis der 1970er und 80er Jahre, es geht auch ganz grundsätzlich um das Verhältnis von Natur, Literatur und Politik, um die Grenzen und Möglichkeiten der Autofiktion und um die unheilvollen Verstrickungen in die Geschichte der Väter, deren historische Ausdünstungen sich in den dunklen Tälern des Wallis offenbar besonders lange halten. Und es geht, vor allem in den leiseren, nachdenklich-melancholischen Passagen des Romans, um das Ende der Utopie, um die Einsicht einer ganzen Generation, dass der Traum von der Reinheit der Berge, in die man sich „mit dem Rucksack und einer kleinen Schar von Freunden“ begeben kann, um eine bessere Welt zu suchen, endgültig ausgeträumt ist.

Die Berge des Wahnsinns, die dumpfe, bösartige Stille der Dörfer mit ihrer falschen Idylle, ihren undurchsichtigen, kalten und archaischen Regeln, ihren kollektiv vertuschten Verbrechen, das alles kennen wir aus der Literaturgeschichte: Es sind feste Bestandteile der modernen Alpenliteratur, Topoi des Anti-Heimatromans, die – von Jeremias Gotthelf und Charles Ferdinand Ramuz über Ludwig Hohl, Hans Lebert und Corinna Bille bis zu Franz Xaver Kroetz und Thomas Bernhard – die Entwicklung der Moderne begleiten wie ein dunkler Schatten. Wenn die Tradition zur verlogenen Folklore von Geschäftemachern verkommt und damit den Preis offenbart, den entlegene Regionen für ihre Anpassung an den Zeitgeist entrichten, ist es die Sache der Literatur, die Gegenrechnung aufzumachen. Hier aber, in diesem halbdokumentarischen Roman, entsteht das Unheimliche der Erzählung weniger aus der Atmosphäre als aus den Tatsachen selbst. Auch Meizoz weiß natürlich, wie es sich anhört, wenn „die Truhen knarren und die Toten plaudern“, doch er ergeht sich nicht in den bekannten Motiven und Klischees, wenn er die dunkle Wut des „Hohen Tals“ kritisch beleuchtet. Meizoz ist nicht naiv, er kennt den Unterschied von Fakten und Fiktion sehr genau. Die Akten der Justiz und damit die genauen Umstände des Verbrechens sind nicht öffentlich zugänglich: „Wie ein dicker realistischer Roman ruht der Fall im Gerichtsgebäude. Für immer unter Verschluss.“ Das ist die faktische Ausgangslage, die Mauer, an die die Frage nach der Welt, in der wir leben wollen, stößt. Hier kommt auch der Autor, der mit dem Opfer zur Schule ging und befreundet war, nicht weiter. Doch statt wie Justiz und Öffentlichkeit den Fall ad acta zu legen, aktualisiert er ihn durch seine Literatur: „Niemals wirst du Zugang zu den Quellen haben. Behilf dich mit Literatur“.

Literatur aber ist für Jérôme Meizoz nicht gleichbedeutend mit Fantasie, die Möglichkeiten, die er schreibend und erzählend durchdenkt, bleiben diskret. Der Erzähler hält sich mit Hypothesen zurück. Wie es gewesen sein könnte, entzieht sich der Vorstellungskraft beziehungsweise ist nicht wirklich relevant. Fast ist man versucht, von einer gewissen erzählerischen Scham oder Bescheidenheit zu sprechen. Wir werden beim Lesen in keinen Dschungel der Spekulation geführt, die Tiefen der Möglichkeitswelt bleiben verborgen. Außer einigen vagen Andeutungen, die das Attentat für den Anschlag eines rechtsextremen, von Italien aus unterstützen Schlägertrupps halten, eröffnet der Roman keine neuen kriminalistischen Fährten. Wer es gerne ein bisschen reißerischer hätte, mag an dieser Stelle enttäuscht sein. Das Buch ist kein Kriminalroman, und es tut alles, um mit diesem Genre nicht verwechselt zu werden. Die Krimi-Variante wird gleich zu Beginn als zu simpel verabschiedet: „Bist du wirklich der Meinung, dass es wie ein Krimi beginnen soll? Und wenn du dir einen etwas beschaulicheren Anfang ausdenken würdest, einen Kontrast zur Brutalität der Fakten?“ fragt sich der Erzähler. Diese skeptische Selbstbefragung durchzieht den gesamten Roman: Die Meta-Ebene des Making-of ist stets präsent, doch ohne der Erzählung ihre Kraft zu nehmen. Ganz im Gegenteil: Man wird regelrecht mitgerissen vom Strudel der Ereignisse, vom Schrecken der allgegenwärtigen Gewalt, von der Jagd auf den Wolf, den Szenen in der Klosterschule, in denen es einzig darum geht, dem Gespinst aus Lügen und moralischen Erpressungen zu entkommen, den Momenten der Freiheit auf den Feldern und im Wald, den Erzählungen des rebellischen Großvaters, der sich gegen die Machenschaften eines faschistischen Klerus wehrt, und man wird mitgerissen von den Verlockungen der Metropolen, der urbanen Kultur, die den Erzähler schließlich aus dem „Tal der Wölfe“ befreit.

Rache ist gewiss nicht das schlechteste Motiv für einen Roman. Doch vielleicht hätte ein bisschen mehr Bosheit und Rachsucht der Erzählung nicht geschadet. Manches erscheint bei aller Empörung fast schon zu abgeklärt und besonnen. Doch auch diesen Einwand hat Jérôme Meizoz bedacht und seinem Erzähler einen „Lautréamont der Berggipfel“ als Kontrastfigur zur Seite gestellt, einen dichtenden Fantasten, der „Unfälle und Verbrechen“ für die Lokalzeitung erfindet und auf die historische Genauigkeit seiner Fake-News pfeift. Wie schon gesagt: dieser Roman ist kein Krimi. Es gibt keine einfachen Erklärungen für den Hass der menschlichen Wölfe, wie auch der Erzähler in seinen Selbstgesprächen immer wieder betont. Man kann Gewalt nicht mit Gegengewalt stoppen, auch nicht mit der Gewalt der literarischen Erfindung. Das utopische Refugium ist endgültig zerstört: „am Ende der Kindheit hat sich ein gewisser Herr Gott aus dem Staub gemacht.“ Die Welt, die er uns hinterlassen hat, ist die einzige, die wir noch haben.

Titelbild

Jérôme Meizoz: Hoch oben im Tal der Wölfe. Ein wahrer Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Andreas Grosz.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2017.
128 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783905689785

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