Menschen / Affen
Erkundung der Grenze zwischen Kultur und Natur
Von Gerhard Neumann
Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Aufsatz Gerhard Neumanns ist die Druckfassung eines Vortrags, den er 2007 beim Deutschen Germanistentag in Marburg gehalten hat. Er entspricht dem Erstdruck in dem Band mit den Plenumsvorträgen, der 2009 unter dem Titel „Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur“ erschienen ist. Wir veröffentlichen ihn hier zum Andenken an den Ende Dezember 2017 gestorbenen Literatur- und Kulturwissenschaftler erneut und danken Gabriele Brandstetter für die Genehmigung dazu. Ein Nachruf auf Gerhard Neumann ist in der Januar-Ausgabe von literaturkritik.de erschienen. T.A.
Kein Thier ist so sehr Affe als der Mensch. – Friedrich Nietzsche[1]
I
Als Motto über den Erörterungen, die im Folgenden vorgestellt werden sollen, könnte ein Satz stehen, den Hugo von Hofmannsthal sich in seinem Buch der Freunde aufgezeichnet hat. „Vergewaltigung der Natur“, schreibt er, „ist ein starkes Ingrediens unserer Kultur seit hundert Jahren.“[3] Inzwischen sind weitere hundert Jahre vergangen und die Sache hat die schlimmstmögliche Wendung genommen. Sigmund Freud, in seinem Essay Das Unbehagen in der Kultur, hat das Problem auf seine Weise scharfsichtig aufgefasst. Kultur, so schreibt er im Jahr 1929, dient einem doppelten Zweck: „dem Schutz der Menschen gegen die Unbilden der Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“[4] Inzwischen hat sich die Fragestellung ein wenig verschoben; und zwar zum einen von der Funktionalisierung der Kultur im Gegensatz zur Natur hin zur Erkundung der schleichenden Grenzen zwischen beiden; zum anderen aber von der Auffassung der Kultur als eines mehr oder minder starren Apparats von Institutionen und Repräsentationen hin zur Vorstellung von einem performativen Prozess der Sinnproduktion.
Der heikelste Punkt in dieser Grenz- und Grauzone zwischen Natur und Kultur ist aber damit – spätestens seit Charles Darwin – die Differenz zwischen Affe und Mensch auf der einen Seite, die Frage nach dem problematischen Akt der Mutation des Tieres in den Menschen auf der anderen Seite. Damit erhält aber zugleich auch die Frage nach dem Wesen des Menschen ein anderes Gesicht. Sie wird zur – freilich im Grunde unbeantwortbaren – Frage nach dem menschlichen Ursprung; nach dem emergenten Ereignis seiner Verwandlung aus einem Natur- in ein Kulturwesen.
Literarische Texte haben dieses Dilemma früher, aufmerksamer und differenzierter wahrgenommen als die Kulturwissenschaften. Mein Thema soll die Erkundung des Zusammenhangs zwischen beidem sein, dem kulturwissenschaftlichem wie dem literarischen Feld. Es soll also um die Erforschung der Grenze zwischen Tier und Mensch und um deren Bedeutung für die literarische Anthropologie – und damit den Prozess der Kultur – gehen. Natürlich ist diese Grundfrage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier vom Anfang der Menschengeschichte an immer wieder von neuem aufgeworfen worden – und zwar von den verschiedensten Positionen und Konzepten aus. Eines scheint hieran aber, bei allem Dissens, unbestritten: Die Frage, wie Tier und Mensch sich zueinander verhalten, hat in unserer Gesellschaft etwas mit der Gewalt, die in ihr herrscht, und ihrem hierarchischen Ordnungsanspruch zu tun, also mit dem Hochmut des Menschen gegenüber allen anderen natürlichen Wesen. Ein besonders brisanter Punkt in der Geschichte dieser Fragestellung scheint mir die Zeit um 1900 zu sein; eine Debatte, neu entfacht durch die Gedanken Darwins, durch Nietzsche und durch Sigmund Freud; durch deren verschieden geartete Interessen am Lebenswissen. Denn darum, um diese Frage nach dem Lebenswissen, geht es ja ganz offensichtlich in diesem Kontext. Wie lässt sich Leben bestimmen und definieren zwischen Natur und Kultur; im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Politik und Verwaltung, samt ihren strategischen Institutionen?
Ich möchte mich in meinen folgenden Überlegungen auf die genannte Krise um 1900 konzentrieren und dabei zwei für das Thema exemplarische literarische Texte in den Blick nehmen, die die brisante Debatte um das Verhältnis Affe-Mensch – und die Grenze zwischen beiden – aufgreifen. Es sind zwei Texte, die eben diese Krise gewissermaßen ‚einrahmen‘: Gustave Flauberts Erzählung mit dem Titel Quidquid volueris, die er 1837 – mit sechzehn Jahren – schrieb; und Franz Kafkas Text Ein Bericht für eine Akademie, den er 1917 verfasste und im Sammelband Ein Landarzt veröffentlichte.[5] Mein eigentliches kulturhistorisches Interesse gilt dabei der Frage, wie diese Problemkonstellation, die beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert virulent wird, sich aus unserer heutigen Erkenntnislage verstehen lässt.[6]
Mein erster Blick gilt also der aktuellen Wissenslage. Erst nach deren Skizzierung werde ich mich dann den beiden genannten Erzählungen zuwenden.
II
In der aktuellen Diskussion um die Grenze zwischen Natur und Kultur scheinen mir drei voneinander abweichende Positionen besonders bemerkenswert. Da ist auf der einen Seite die Anthropologie und Verhaltensforschung, die sich auf die Archäologie der Entwicklung von Primaten stützt. Da ist auf der anderen Seite die Philosophie mit ihrer Bemühung um die Position des Menschen in der Geschichte der Biopolitik einerseits, des neuen ‚Humanismus‘ und seiner Ethik andererseits. Und da ist, zwischen dem anthropologischen und dem philosophischen Feld angesiedelt, die Position von Wissenschaftshistorikern, die diejenige Geschichte des Wissens zu rekonstruieren versuchen, die durch und über die Figur des Tieres erzeugt wurde – also aus dem Wechselbezug zwischen dem Tier als Wissensobjekt und dem Tier als Wissensinstrument, als Medium des Wissens, heraustritt.
Zunächst also einige Überlegungen zur erstgenannten Position. Sie wird, beispielsweise, vertreten von dem Verhaltensforscher Frans de Waal mit seinem 2006 erschienenen Buch Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind.[7] De Waals Erkenntnisziel ist eine Archäologie der Entwicklungsstadien des Menschen aus der Natur – seiner aggressiven wie seiner empathischen sozialen Grundeinstellung und ihrer Formung im Lauf der Evolution. Da Menschen und Menschenaffen von einem einzigen biologischen Typus herzuleiten seien – so Frans de Waal – und die Menschenaffen sich von dieser langen Entwicklungslinie früher abgespalten haben als die Menschen, lässt sich das Erbpotential, das der Mensch aus seiner Vorgeschichte mitgebracht hat, noch am gegenwärtigen Verhalten der Affen-Primaten ablesen. An die Stelle der Spekulation über Ursprünge tritt so, zeitversetzt, die Beobachtung früherer Zustände in der Entwicklung des ‚bipolaren Menschenaffen‘, wie de Waal den Menschen nennt.[8] Die Reservate heute lebender Menschenaffen erweisen sich gewissermaßen als Konserven eines früheren Zustandes der menschlichen Entwicklung: Sie sind Räume einer biogenetischen Memoria.[9] Und sie sind mithin der Ort, wo unser Fremdes, das zugleich unser Eigenes ist, uns in der Natur gegenübertritt. Das Leben dieser Affen, so de Waal, repräsentiert unser evolutionäres Erbe.
Als Protagonisten dieses archäologischen Szenarios über die Entwicklung der komplexen menschlichen Verhaltensfigur dienen de Waal zwei der vier existierenden Menschenaffen-Spezies[10]: die Schimpansen auf der einen Seite, als die zur Gewalt neigenden Primaten; die erst 1926 entdeckten, aus der Spezies der Schimpansen ausgegrenzten Bonobo auf der anderen Seite, als die zur Friedfertigkeit, zur Empathie und zu sexueller Versöhnungslust geneigten Menschenaffen.[11] Beide Verhaltenscodices seien in der menschlichen Struktur des sozialen Habitus auf brisante Weise verkoppelt. Das Überleben des bipolaren Menschenaffen in der Kultur sei ein riskanter Balanceakt zwischen beiden Verhaltensweisen, der aggressiven und der empathischen.[12] Daraus folgert Frans de Waal, dass die menschliche Sozialorganisation durch zweierlei charakterisiert sei: zunächst durch den Einsatz von Gewalt – dies habe der Mensch mit den Schimpansen gemeinsam, wo männliche Bindungen dominieren; sodann durch das Aushandeln friedfertiger Übereinkünfte – dies ist das Erbpotential der Bonobo, durch weibliche Bindungen bestimmt. Dabei komme noch ein drittes Moment hinzu: Die menschliche Sozialorganisation erfolgt durch Bildung einer Kernfamilie. Dies zeichnet aber den Menschen allein aus. Affen kennen keine Familienstruktur.[13] Das heißt zugleich: Der Mensch erweist sich seiner evolutionären Herkunft nach – also aus natürlicher Anlage – als ein Hybrid, als ein im Sozialverhalten sich offenbarendes Mischwesen. „Unsere Moral“, behauptet de Waal, „ist ein Produkt desselben Ausleseprozesses, der auch unsere Aggressivität und unser Konkurrenzverhalten formte.“[14]
Nun zur zweiten Position in diesem Szenario der Grenzüberschreitung zwischen Affe und Mensch. Ich nenne zunächst den italienischen Philosophen Giorgio Agamben mit seinem Buch Das Offene. Der Mensch und das Tier von 2003. Auch Agamben gelangt, wie Frans de Waal, zur Auffassung des Menschen als eines Hybrids – eines Mischwesens mit dysfunktionalen Verhaltens-Mehrwerten. Aber anders als de Waal arbeitet er nicht mit einer sozialpathetischen Kompromissformel von Aggressivität und Friedfertigkeit, sondern mit der kulturpessimistischen Formel vom Menschen als Artefakt, als etwas künstlich Hergestelltem, als ‚anthropologischer Maschine‘.[15] Diese Maschine aus Animalischem und Humanem sei aber das Produkt biopolitischer Operationen; also der strategischen Verwaltung und Ausbeutung von Leben – Agamben bedient sich hier eines von Michel Foucault geprägten Begrifs.[16]
Es sind mithin, nach Agamben, nicht natürliche oder naturwissenschaftliche Kriterien, die je und je bestimmen, wie und wo die Grenze zwischen Mensch und Tier verläuft, sondern politische und ökonomische. Der Mensch, schreibt Agamben, ist, so gesehen, dasjenige Tier, „das sich selbst als menschlich erkennen muß, um es zu sein.“[17] So vermag der Mensch nichts weiter, als die Differenz zwischen Tier und Mensch gewissermaßen ‚auszustellen‘, und zwar als eine willkürliche, nach massiven gesellschaftlichen Interessen ausgehandelte, je anders verlaufende Grenze. Der Mensch erscheint mithin als ein von sozialen Steuerungssystemen und von ‚natürlichen‘ Trieben zugleich unberechenbar gelenkter Organismus. Man könnte also mit Agamben sagen: Die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Menschen erfolgt nicht aus einer Archäologie der Evolution, wie de Waal sie vorschlägt, sondern diese Antwort auf die Ursprungsfrage ist eben gerade nichts anderes als die gegenwärtige, politisch und ökonomisch konstruierte (sich selbst in ihrer Zwiespältigkeit ausstellende) anthropologische Maschine.[18]
In diesem von Giorgio Agamben beanspruchten Feld der philosophisch orientierten Grenzbestimmung zwischen Natur und Kultur, als der Grenze zwischen Tier und Mensch, möchte ich auch Peter Sloterdijks Thesen ansiedeln.[19] Die Überlegungen in seinem Essay Regeln für den Menschenpark von 1999 gehen aber, im Unterschied zu Agamben, nicht von der Idee der Biopolitik aus, sondern von der Kulturgeschichte des ‚Humanismus‘ seit den griechischen und römischen Anfängen. Diese Geschichte sei so etwas wie eine Anthropodizee[20], so Sloterdijk, also ein Kampf um die Bestimmung des Menschen aus der Spannung zwischen seiner biologischen Offenheit, seiner moralischen Ambivalenz, und den aus beiden resultierenden Mechanismen seiner Selbstregulierung. Es sei diese Anthropodizee die Erzählung, das Narrativ einer großen Selbst-Rechtfertigung. Sie entwickle sich aber in zwei großen Erzählsträngen, einem naturgeschichtlichen und einem sozialgeschichtlichen: also der Erzählung vom Sich-Bilden zu einem weltoffenen, weltfähigen Tier auf der einen Seite; der Erzählung vom Gezähmtwerden zu dem ‚sich zusammennehmenden‘[21] Menschen auf der anderen Seite. Die erste Erzählung berichtet, so verstanden, vom Abenteuer der Hominisation, dem Exodus des Sapiens-Tiers aus der Natur; die zweite Erzählung handle, so Sloterdijk, vom Einzug des Sapiens-Menschen in das Haus des Seins – in die Behausung der Sprache und in die Architektur.[22] Es sind also, im Sinne dieser beiden Kulturnarrative, die Zähmung des Sapiens-Tiers und die Züchtung des Sapiens-Menschen, die einander wie Exodus aus der Natur und Introitus in die Kultur entsprechen.[23] Allererst in solcher Kohabitation von Tier und Mensch – so Sloterdijk – formiere sich ‚Theorie‘: als im doppelten Zeichen von Zähmung und Züchtung stehendes Lebenswissen.
Aufs Ganz gesehen kann, so Sloterdijk, zuletzt gesagt werden, dass sich in der Gegenwartskultur ein „Titanenkampf“ zwischen den zähmenden und den bestialischen Impulsen und ihren jeweiligen Medien abspielt.[24] Und Sloterdijk resümiert: „Was sich als Nachdenken über Politik präsentiert, ist in Wahrheit eine Grundreflexion über Regeln für den Betrieb von Menschenparks“ – in Analogie zu ‚Tierparks‘, zu ‚zoologischen Gärten‘ verstanden.[25]
Und schließlich nun zur dritten Position in der Erörterung der kultur-relevanten Zäsur zwischen Tier und Mensch. Ich meine das Buch der beiden Wissenschaftshistoriker Benjamin Bühler und Stefan Rieger mit dem Titel Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, publiziert 2006.[26] Bühler/Rieger beziehen ihre Position weder im Feld der Verhaltensforschung in Bezug auf Primaten, wie Frans de Waal, noch im Feld der Kulturphilosophie, wie Agamben und Sloterdijk, sondern sie gehen von der Beobachtung in der modernen Wissenskultur aus, dass die Aufmerksamkeit auf die Grenze zwischen Mensch und Tier in zunehmendem Maße nicht mehr im Zeichen des Aufklärungshochmuts des Menschen steht; sondern dieser Mensch sich vielmehr (im Sinne Sigmund Freuds) als ‚Prothesengott‘ und (im Sinne Arnold Gehlens) als ‚Mängelwesen‘ begreift, das durch Kultur- und Medientechniken nachholt, was ihm die Natur versagt hat. Die beiden Autoren proben also eine Inversion der Blickrichtung auf das Menschenwissen und seine Gewinnung durch die Kultur und in der Kultur: Sie diagnostizieren den Übergang vom Forscher-‚Menschen‘ zum Forscher-‚Tier‘. Es ist eine Frage, der die Literatur weit früher nachgegangen ist als die Wissenschaft. Man denke nur an die beiden Forscher-Hunde Scipión und Berganza in Cervantes Gespräch der Hunde im Hospital zu Valladolid aus den Exemplarischen Novellen; man denke an Franz Kafkas Forschungen eines Hundes, in denen der tierische Protagonist die Welt menschlicher Kultur gewissermaßen ‚von unten‘ erkundet.
Wissen über den Menschen wird, so Bühler und Rieger, nicht aus der dem Menschen organisch möglichen Beobachtung und Reflexion gewonnen, sondern umgekehrt aus der Wissensfigur des Tiers; und zwar im Sinne einer Bionik, einer Wissenschaft, die aus der Natur für die Technik lernen will. „Wissenschaftler sehen durch die Augen der Tiere auf den Menschen“, so Bühler und Rieger, und was sie sehen, sind die Defizite dieser Menschen.[27] Die Wissensfigur des Tiers wird, so gesehen, zur Denkfigur, zur Forschungsfigur.[28] Das heißt aber: Die Bühne für das Szenario des Bezugs zwischen Tier und Mensch, ihrer Kultur-Natur, ist nicht mehr der Zoologische Garten und das Varieté, sondern die moderne Ordnung des Wissens selbst, ihre Apparate und Institutionen, in deren Bereich Tierversuche vorgenommen werden. Daraus erwächst eine „kybernetische Anthropologie“[29], in der sich der Mensch als „nicht festgestelltes Tier“[30] erweist. Erst am Tier wird deutlich, „was Komplexität bei Menschen und Maschinen heißt“[31]. Hinter dieser Einsicht steht die These Canguilhems[32], bei Tieren als Versuchsobjekten handle es sich um die „Rückwirkung des Objekts des Wissens auf die Konstitution dieses Wissens“ selbst.[33] Tiere werden unwillentlich zu Agenten und Operatoren neuer Forschungsrichtungen – wie beispielsweise die Bienen in Bezug auf Strategien des Orientierungswissens oder die Drosophila-Fliege zur Erkundung der DNA, der Konstruktion ihrer Analyse. Es käme also darauf an, so Bühler und Rieger, eine dritte große Erzählung der Kulturwerdung der menschlichen Gemeinschaft zu verfassen: eine Geschichte jenes Wissens nämlich, das in der Menschenwelt erst durch und über die Figur des Tiers erzeugt wurde. Nur so werde die Herkunft des Wissens aus dem Leben gekennzeichnet und kulturell verortet.
Meine Skizze der aktuellen Wissens-Situation im Blick auf die labile Grenze zwischen Tier und Mensch – und deren kulturelle Verortung – hat eine Reihe von Leitgedanken, oder besser gesagt: Leitnarrativen, ins Licht gestellt, die für meine weitere Argumentation von Bedeutung sind. Der Verhaltensbiologe Frans de Waal agiert als Archäologe der Evolution. Er ermittelt die Modellierung des Erbguts, das im Menschen, als dem bipolaren Menschenaffen, noch heute wirksam sei – als ein Memorial-Narrativ. Giorgio Agamben geht es um die Geburt des Menschen aus dem Tier durch Strategien der Biopolitik. Nach seiner Auffassung wird die Demarkationslinie zwischen Tier und Mensch durch Machtinteressen manipuliert: Es handelt sich um eine Erzählung kultureller Gewalt. Sloterdijk richtet sein Augenmerk auf die Humanisierung des Menschen durch geschriebene Philosophie. Leitformel ist ihm der Übertritt von Natur in Kultur in einem Doppelprozess kultureller Narration: also der Doppelerzählung von der Zähmung des Sapiens-Tiers und der parallel verlaufenden Züchtung des Sapiens-Menschen. Bühler und Rieger schließlich beobachten die Nutzung des tierischen Organismus durch den Menschen als Mittel der Erkenntnis einer Lebens-Struktur, die ohne die ‚Augen‘ des Tieres nicht möglich gewesen wäre. Das Tier wird so zum Agenten der Erkenntnis menschlichen Lebens. Mit ihm wird die Geschichte vom Forscher-Tier erzählt. Das Tier erweist sich selbst als Wissensfigur im kulturellen Feld.
III
Es ist nun aber ganz offensichtlich so, dass, spätestens seit Darwin, sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier zuspitzt auf die Erkundung des Ursprungs des Menschen; ein Motiv, das im 19. Jahrhundert vielleicht zur wichtigsten Kulturfrage überhaupt avanciert. Daran knüpfen sich aber dann zwei weitere Problempunkte: nämlich die Erkundung der Entstehung und Herausbildung des Subjekts – also der Herstellung von Individualität einerseits; und die Erkennung der Möglichkeit und Funktion des kulturellen Gedächtnisses und der Narration als Arbeit an der Herkunft des Menschen als geschichtsfähigem Wesen andererseits.
Auch hier hat Sigmund Freud die Kernaporie namhaft gemacht. Er schreibt in seinem kulturthematischen Text Totem und Tabu: Da der Ursprung kultureller Entwicklung in einer historisch uneinholbaren Vorzeit liege, welche „niemals Gegenstand der Beobachtung werden kann“[34], sei nur eines möglich, nämlich das Erzählen des Ursprungs, seine nachträgliche Narration. Nur im Rückblick, also gewissermaßen rekursiv, kann das Ursprünglich-Unbegreifliche plausibel gemacht werden. Da es hierfür keine naturwissenschaftlichen Beweise gibt, treten politische, ökonomische und poetische Narrative des Ursprungs an deren Stelle. Diese Narrative, diese ‚großen Erzählungen‘ (Lyotard) sind es allein, die beglaubigende Kraft gewinnen. Freuds eigene berühmte Ursprungserzählung von der Darwinschen Urhorde, der Vatertötung und der daraus entspringenden Ethik der ödipalen Familie ist genau ein solches fiktiv-legitimierendes Narrativ. Der Ursprung des Menschen aus dem Tier hat ‚sich ereignet‘, so argumentiert Freud, und die Primaten ‚bleiben zurück‘. Das menschliche Individuum hat damit – in einer Parallelaktion von Exodus aus der Natur und Einzug in die Kultur – die Bühne der Kultur betreten: und zwar als Familienwesen. Im Laufe seiner Geschichte der Autonomisierung hat das Menschenwesen dann die drei legendären Kränkungen hinzunehmen gehabt, von denen Freud spricht: die Einsicht in die kopernikanische Wende; die Darwinsche Ursprungstheorie; und zuletzt Freuds eigene Psychoanalyse – das Ich sei nicht mehr ‚Herr im eigenen Hause‘.[35]
Dabei erweist sich die biologische Kränkung als die für den vorliegenden Zusammenhang entscheidende. Sie besteht ihrerseits aus einer Reihe kultureller Schocks, denen sich die Menschheit in der Vorstellung von ihrem Menschentum und dessen Legitimität ausgesetzt sieht – Schocks, die aus der Erfahrung des Eigenen, das sich als das Fremde wahrnimmt, resultieren: Der Mensch ist das Kulturwesen, das sich selbst in seinem tierischen Ursprung, als dem zutiefst Fremden, wahrzunehmen genötigt wird. Ein erstes Mal erfolgt dieser Schock im Hochmittelalter[36], wo der Affe als teuflischer Beiwohner und Beobachter des menschlichen Sündenfalls erscheint.[37] Ein zweiter Schock für die Menschenwürde ist dann die Entdeckung des Affen als naturgeschichtlicher Doublette des Menschen – ausgelöst durch das 1699 erschienene Buch von Edward Tyson[38], in dem dieser die menschliche Anatomie eines Pygmäen mit derjenigen eines Menschenaffen vergleicht. Der dritte Schock wird dann, wie schon erwähnt, durch Darwins Thesen ausgelöst, die dieser zwischen 1859 und 1871 entwickelt.[39] Besonders folgenreich für die Kulturgeschichte der drei Schockerlebnisse ist es, dass diese aus der Überlagerung des heilsgeschichtlichen durch das naturwissenschaftliche Paradigma resultieren: eigentlich aus der unauflöslichen Spannung zwischen beiden Wertesystemen hervortreten. Es ist dieser Hintergrund von Kränkung des Ichgefühls und massivem Identitätsschock, vor dem die Krise in der Auseinandersetzung um die Grenze zwischen Affe und Mensch um 1900 gelesen werden muss.
Die lange Geschichte der immer wieder versuchten Grenzziehung zwischen Natur und Kultur – als Ursprungsgeschichte des Menschen aus dem tierischen Körper erzählt – ist mithin die Geschichte eines Identitätsschocks, der sich immer von neuem als Schock angesichts der Fremdheit des Eigenen offenbart. Vielleicht ist diese fundamentale, schockhafte Fremdheitserfahrung überhaupt das Paradigma schlechthin für das Selbstverständnis der Moderne.
Die Humanwissenschaften der Gegenwart haben dieses Schockereignis, wie ich zu zeigen versuchte, ausgebeutet und mit verschiedenen Argumenten angereichert. Da ist das Argument der Konstruktion des Menschen als eines Hybrids; da ist ferner das Argument der strategischen Grenzziehung zwischen Tier und Mensch, gelenkt durch biopolitisches Interesse; da ist des weiteren das Argument der rekursiven Narrative als poetischer Ursprungserzählungen des Menschen-Affen; da ist schließlich das Argument des Tieres, das auf den Menschen blickt und ihm so sein eigenes Fremdes zu erkennen gibt. Vor dem Hintergrund dieser kontroversen Argumentationen möchte ich nun die Aufmerksamkeit auf die beiden Menschen-Affen-Erzählungen von Flaubert und Kafka lenken, Quidquid volueris[40] und Ein Bericht für eine Akademie[41], zwischen deren Erscheinen das Thema vom Ursprung des Menschen aus der Natur aus dem 19. in das 20. Jahrhundert hinüberwechselt. Kafka hat Flaubert sehr hoch geschätzt, ja als seinen ‚Blutsverwandten‘ bezeichnet. Es ist theoretisch möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, dass Kafka Flauberts Quidquid volueris gekannt – und als Vorlage für seinen Bericht für eine Akademie verwendet hat. (Über Kafkas Quellen, und wie er sie benutzte, weiß man nicht sehr viel.[42])
IV
Beide Geschichten konzentrieren sich auf das Rätsel der Entstehung des Menschen aus dem Affen, auf den historisch nie einholbaren änigmatischen Punkt ihrer Berührung in der Evolution.[43] Beide argumentieren mit der Vorstellung eines menschlichen Hybrids, eines Mischwesens aus Natur und Kultur. Beide handeln vor ethnographischem Hintergrund und rechnen mit dem Gewaltpotential menschlicher Gesellschaften: Flauberts Text nimmt Bezug auf die Kolonialgeschichte Brasiliens; Kafkas „Bericht“ auf die afrikanische Goldküste als Ziel einer Hagenbeckschen Tierfang-Expedition. Beide Texte operieren als rekursive Narrative. Beide Erzählungen arbeiten mit dem Argument der wissenschaftlichen Akademie, also mit dem doppelten, natur- wie geisteswissenschaftlichen Interesse an der Mutation des Affen zum Menschen. Beide machen das Tier zum Agenten kulturellen Wissens. Beide Texte dokumentieren ethnologisches Interesse: Der Affenmensch Djalioh, bei Flaubert, ist das Objekt ‚biopolitischer‘ Strategien in Form von kolonialer Gewalt; Kafkas Affe Rotpeter wird selbst zum Ethnologen der europäischen Kultur – er berichtet der menschlichen Akademie über sein äffisches Vorleben. Der Autor Franz Kafka blickt durch Rotpeters Augen auf das Mängelwesen Mensch.
Zunächst also ein Blick auf Flauberts Quidquid volueris.[44] Es ist, von Flaubert aus gesehen, der Verzweiflungsschrei eines Sechzehnjährigen aus familialer Erniedrigung und Isolation[45] – in massiv kulturkritischer Absicht. Natur und Kultur, so Flauberts These, lassen sich nicht versöhnen. Natur, als das Gute, steht – gut rousseauistisch – der Kultur, als dem Bösen, unvermittelbar gegenüber. Da ist auf der einen Seite Paul de Monville, ein Erfolgsmensch und Karrierist, eiskalt; da ist, auf der anderen Seite, die Tier-Mensch-Kreuzung Djalioh, voll Poesie und Empfindung, ein Mischwesen, das Paul aus Brasilien nach Paris gebracht hat und als seinen Sohn aufzieht. Paul de Monville heiratet Adèle; er tut dies als Mitgiftjäger, aus kalter Berechnung. Am Hochzeitsabend erzählt er den männlichen Gästen, wie er Djalioh in Brasilien erworben habe: Um eine ihm nicht gefügige Sklavin zu bestrafen, habe er sie mit einem Orang-Utan in ein Zimmer eingeschlossen – das Tier habe sie misshandelt und vergewaltigt. An der Geburt des Mischwesens Djalioh sei sie gestorben. Er, Paul, habe Djalioh als wissenschaftliche Kuriosität nach Europa gebracht und der Akademie präsentiert. Djalioh kann weder lesen noch schreiben, ist stumm – aber voll Leidenschaft, Poesie und lyrischem Gefühl. Djalioh verliebt sich in Adèle und wird von ihr harsch zurückgewiesen. Während Pauls Abwesenheit auf der Jagd überfällt Djalioh Adèle, tötet ihr neugeborenes Kind, vergewaltigt und massakriert sie. Dann tötet er sich selbst. Paul seinerseits geht ungerührt aus der Affäre hervor: Er hat seinen Besitz vermehrt; er hat für sein kühnes Experiment die Zeugung eines Affenmenschen – das Kreuz der Ehrenlegion erhalten; Djaliohs Skelett landet im naturhistorischen Museum.[46]
Flaubert gibt mit seiner Erzählung eine erbarmungslose Diagnose der zeitgenössischen Kultur. Denn die Frage nach dem Ursprung des Humanen aus der Natur wird von ihm mit einer doppelten Vergewaltigung beantwortet: einer Vergewaltigung der Natur durch die Zivilisation, nämlich durch eine experimentelle Zwangskopulation; einer Vergewaltigung der Zivilisation durch die selbst vergewaltigte Natur – Djalioh, der Adèle und das Kind massakriert. Die Botschaft von Flauberts Geschichte einer gewaltsamen Kreuzung von Affe und Mensch ist paradox: Zynische Grausamkeit, die alles Bestialische weit übersteigt, zeugt reinste, menschliche Empfindung, die – ihrerseits enttäuscht – wieder in Bestialität umschlägt. Die Geschichte des abendländischen Humanismus, so Flaubert, endet in einer Kulturkatastrophe – einer Kultur, die im Zeichen des Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, des Darwinismus und seiner Idee der Evolution angetreten war.
Abschließend möchte ich mich nun Franz Kafkas Bericht für eine Akademie zuwenden. Diese fingierte Rede eines Affen namens Rotpeter über seine Menschwerdung vor der Akademie der Menschen ist auch ihrerseits eine Erzählung über den Ursprung der Kultur: wie Freuds Erzählung über die Urhorde; wie Gustave Flauberts zynische Menschwerdungsphantasie. Der Affe Rotpeter ist in seiner afrikanischen Heimat, der Goldküste, durch zwei Schüsse einer Fangexpedition der Firma Hagenbeck getroffen worden: einmal ins Gesicht, die rote Narbe zeichnet ihn und verschafft ihm seinen Namen; zum anderen in den Unterleib, das Triebzentrum; eine doppelte Wunde also als Initiation in das Menschsein; in die Kultur. Auf dem Expeditionsschiff im Käfig erwachend, beschließt der Affe, Mensch zu werden – und zwar in einer Art emergentem performativen Akt – ein Gedanke, den er, wie er sagt, „mit dem Bauch ausgeheckt haben muß“.[47] Er übt sich im Handschlag geben[48]; im fachgerechten Entkorken einer Branntweinflasche; und im Leeren dieser Flasche ‚als Künstler‘.[49] Er habe, konstatiert er rückblickend, schließlich die Durchschnittsbildung eines Mitteleuropäers erworben[50] und so die Aufnahme in die Menschengemeinschaft erlangt. Rotpeter insistiert aber darauf, dass er kein Urteil eines Menschen über seine Verwandlung will und dass er ‚nur berichtet‘ – also seinen Bericht bei der Akademie einreicht:
Im Ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte. Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.[51]
Dennoch kann man sich fragen, welche Erklärung für die Verwandlung eines Affen in einen Menschen dieser Bericht eigentlich gibt. Es ist der Affe selbst, der darüber reflektiert – und zwar über die Denkform, deren er sich als Ethnologe zur Erkenntnis der Dynamik seiner eigenen Kultur bedient. Er sagt:
Niemand versprach mir, daß, wenn ich so wie sie [die Menschen] werden würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die Versprechungen genau dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat.[52]
Dieser Satz widerruft die beiden im Abendland gültigen Kulturkonzepte des Verstehens: dasjenige der Heilsgeschichte, das nach dem Prinzip von Verheißung und Erfüllung funktioniert, dem sogenannten Figuralprinzip[53], einerseits; dasjenige der Naturwissenschaft, das nach dem Modell von Ursache und Wirkung organisiert ist, also dem wissenschaftlichen Experiment, das Vorhersagen ermöglicht, andererseits. Das ganze Problem der Menschwerdung des Affen liegt, so Kafka, genau in der unüberbrückbaren Differenz dieser beiden Ordnungsgrößen beschlossen: der Argumentation der Heilsgeschichte und ihrer nicht arretierbaren Friktion mit derjenigen der Naturwissenschaft. Was nun der Affe Rotpeter gegen diese beiden konkurrierenden kulturellen Ordnungsmuster ins Feld führt, ist ein performativer Akt: der Entschluss Rotpeters, Mensch zu werden und dieses Ereignis im Reden vor der Akademie zu realisieren[54]: mit dem völlig unerklärlichen, als Holophrase zu begreifenden Sprechakt „Hallo“. „Hallo“ ist die Urformel telekommunikativer Kontaktaufnahme; man behauptet, es sei Edison gewesen, der diese leere Zauberformel der Verständigung erfunden habe.[55] Man könnte also auch sagen: Der Affe, als Ethnologe der Kultur, in die er sich performativ hineinerfindet, legitimiert durch seine Ursprungserzählung das unbegreifliche wie unerklärliche Ereignis seiner eigenen Menschwerdung – und zwar rekursiv; das heißt in einem Grundlosigkeit suggerierenden Akt der Nachträglichkeit. Dieses Moment der performativ wirksamen Nachträglichkeit ist für die Kulturordnungsaporie der Moderne zentral: für ihre spezifische Wissensform, die sich als rekursives Narrativ zu erkennen gibt. Das heißt aber: Narration des Ursprung wird nachträglich zu dessen Beglaubigung. Dies ist Kafkas durch das Prinzip des Erzählens legitimierte Version von der Inkompatibilität von Heilsgeschichte und naturgeschichtlichem Darwinismus.
Der Affe ist für Kafka dasjenige Hybrid, das selbst, performativ, die Grenze zwischen Tier und Mensch setzt und versetzt – in einem Sprechakt, der zur Handlung wird. Dieser performative, nicht theologisch gestützte und nicht rational begründbare Akt der Kulturstiftung aus der Natur, der unergründlich ist, liefert Kafka dann aber das Zentralmotiv all seines Schreibens: nämlich das Motiv der Verwandlung.[56] Immer wieder kreist Kafkas Denken um solche Verwandlung im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur. Man denke an die Verwandlung eines Tiers in einen Menschen: Das ist Rotpeter im Bericht für eine Akademie. Man denke an die Verwandlung eines Menschen in ein Tier: Das ist Gregor Samsa in der Erzählung, die den Titel Die Verwandlung trägt. Man denke an die Besetzung der Leerstelle, die ein sterbender Mensch hinterlässt, durch ein Tier: Das ist die Ersetzung des Hungerkünstlers, der aus dem Käfig gefegt wird, durch einen jungen Panther. Und man denke an die Verwandlung eines Organismus in ein Artefakt: Das ist das Mischwesen Odradek in dem kleinen Text Die Sorge des Hausvaters.
Das Entscheidende und nachhaltig Moderne von Kafkas Auffassung der Verwandlung ist aber, dass sie nicht als organisches oder mythologisches Lebensprinzip, sondern dass sie als Schock erfahren wird: als ursprünglicher, voraussetzungsloser, unbegründeter und unkommentierbarer Lebensschock. Dieser so verstandene Verwandlungs-Schock entspringt dem emergenten Ereignis der unaufhebbaren Fremdheitserfahrung von Individualität. Der Affe, der Mensch wird, ist für Kafka das kulturelle Paradigma schlechthin für den existentiellen Fremdheitsschock des Menschen – einen beispiellosen Schock der kulturellen Desorientierung. Wenn man es noch ein wenig genauer beschreiben wollte, so müsste man sagen: Verwandlungen erweisen sich bei Kafka nicht als Krisen in einem organischen Geschehen, wie es beispielsweise Erik H. Erikson, als ein Zusammenspiel von Identität und Lebenszyklus, rekonstruiert hat[57]; sie zeigen sich nicht als ‚entelechische‘ Keime, die ‚lebend sich entwickeln‘, wie Goethe das Problem der Verwandlung für sich fasste; sie erweisen sich ebenso wenig als Ereignisse der Transsubstantiation oder Transfiguration, wie sie die Theologie als Schlüsselereignisse der Eucharistie begreift; und sie zeigen sich nicht als Traumata im Sinne unabweisbarer Wiedergänger-Figuren, als fortgesetzte und nie arretierbare Verschiebungen und Verdichtungen von Lebensereignissen, wie Sigmund Freud sie konzipiert hatte. Sondern Verwandlungen erweisen sich für Kafka als Erfahrungen eines Selbst, das im Schock als das unheimliche Andere sich erfährt: als ein „ungeheueres Ungeziefer“, wie zum Beispiel in der Novelle Die Verwandlung: Nicht ‚woher komme ich‘, fragt sich Gregor Samsa, auch nicht ‚wohinaus will es‘, sondern – „Was ist mit mir geschehen? […] Es war kein Traum.“[58] Dieser Schock des ‚Was-ist-mit-mir-Geschehen‘ ist der Ursprung des Menschseins, in seiner Nachträglichkeit erkannt: Der Fremdheitsschock ist die einzig mögliche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Kultur aus dem natürlichen Fundament: Einen Agenten ihrer Aufklärung – es sei nun das Tier oder der Mensch oder eine Mischung aus beiden – gibt es nicht.
Dieser Schock erfolgt bei Kafka aber in Gestalt des Aussetzens aller Ordnungsstrategien – also auch ohne ästhetische Aura. Er manifestiert sich in der immer unlösbarer werdenden Aufgabe, die Grenze zwischen Tier und Mensch auszumachen; eine Grenze, die von den anonymen Kräften der Biopolitik, also von institutionellen, ökonomischen und politischen Interessen, so oder anders gezogen worden ist. Denn es gibt, so Kafkas Auffassung, kein Lebenswissen mehr, von dem her diese Unterscheidung zwischen Tier und Mensch, zwischen Natur und Kultur, zwischen Trieb und Vernunft noch getroffen werden kann. Flaubert hat, in seiner bösen Satire, diese Ausweglosigkeit als pure Katastrophe, als Kollaps der Kultur in Szene gesetzt. Kafka hat diese Ausweglosigkeit – durch Strategien der Umkehrung und Ablenkung – zu einem Sich-in-die-Büsche-Schlagen umgestaltet – einem seitlichen Ausweichen vor dem Zusammenbruch. „Ich habe mich in die Büsche geschlagen“[59] – das ist ja, zur Charakterisierung seiner Strategie der Kulturisation, die Formel des Affen Rotpeter, der zwar keine Freiheit, aber eben doch einen Ausweg findet. So als hätte zwar nicht der Mensch, aber doch das Tier eine Chance, sich hinter der Maske des Humanen zu verstecken.
V
Ein Schlusswort sei noch gestattet: Was Natur sein könnte, lässt sich nur von der Grenze her beobachten, die zwischen Natur und Kultur oszilliert: eine Grauzone, eine flatternde Grenze, von Epoche zu Epoche anders gezogen – bezweifelt, behauptet und gelöscht. Die Frage nach dem Ursprung des Menschen, als Kulturwesen, das aus dem Körper des Tiers, das die Natur sein soll, hervorgeht, wird also wohl unbeantwortet bleiben. An die Stelle von Erklärungen und Ableitungen treten Narrative des Lebenswissens: große und kleine Erzählungen vom Ursprung des Menschen aus hypothetischer naturwissenschaftlicher, philosophischer, politischer oder anthropologischer Perspektive. Da könnte man behaupten, dass es die Literatur ist, die gerade und hartnäckig auf der Unmöglichkeit beharrt, den Ursprung zu erklären – und ihn doch fortwährend erzählt: beobachtend, spielerisch reflektierend, polemisch das Gerüst unterlaufend; auf Fiktion als auf das eigentlich Faktische setzend. Literarische Texte sind Detektoren kultureller Sachverhalte, an denen die exakten Wissenschaften verzweifeln. Es gibt offenbar so etwas wie eine Wissenspoetik, die diesen exakten Wissensformen überlegen ist: durch ihre utopische Kraft. Ich wollte zeigen, dass gerade die oft beiseitegeschobene Tiergeschichte – und das mit ihr verbundene Thema der Verwandlung – in diesem Feld eine zentrale, kulturthematische Rolle spielt. In ihr verdichtet sich, wie kaum in einem literarischen Motiv sonst, die Narration vom Ursprung des Menschen, vom Lebenswissen, das im eigentlichen Sinne nie begründet werden kann.
Anmerkungen
[1] Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 55.
[2] Agamben: Das Offene, S. 9.
[3] Hofmannsthal: Buch der Freunde, S. 58.
[4] Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 220.
[5] Vgl. hierzu meinen Aufsatz Ein Bericht für eine Akademie.
[6] Um dieses aktuelle Thema, das die brisanten Fragen von Anthropologie, Darwinismus, Menschenrechten, Tierschutz, Ökologie und Vegetarianismus einschließt, kreist zum Beispiel Coetzees Roman Elisabeth Costello, der die Vortragsreise einer Wissenschaftlerin mit einem Vortrag über Franz Kafkas Bericht für eine Akademie zum Gegenstand hat.
[7] Waal: Der Affe in uns. De Waal hat seine Thesen in einer Reihe von Büchern ausgearbeitet: Wilde Diplomaten, Der gute Affe, Der Affe und der Sushi-Meister.
[8] Vgl. Waal: Der Affe in uns, S. 295.
[9] Vgl. ebd., S. 311.
[10] Tiersein und Menschsein bedeutet: sich in ein Klassifikationssystem finden. Die vier Primaten-Spezies sind: Orang-Utan; Gorilla; Schimpanse; Bonobo. Die Ausdifferenzierung dieses letzteren ist für de Waal entscheidend für die Positionierung des Menschen in der Primatenevolution.
[11] Vgl. Waal: Der Affe in uns, S. 303.
[12] Vgl. ebd., S. 295.
[13] Vgl. ebd., S. 1152.
[14] Ebd., S. 324.
[15] Agamben: Das Offene, S. 37-41.
[16] Agamben entlehnt diesen Begriff den Schriften von Michel Foucault: „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.“ (Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 171)
[17] Agamben: Das Offene, S. 36.
[18] Vgl. ebd. S. 37-41.
[19] Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark.
[20] Vgl. ebd., S. 19. Rechtfertigung des menschlichen Daseins in der Welt angesichts von dessen ambiger, gut-böser Grundstruktur.
[21] Ebd., S. 33.
[22] Vgl. ebd., S. 33.
[23] Vgl. ebd., S. 35.
[24] Vgl. ebd., S. 46.
[25] Ebd. S. 48.
[26] Bühler/Rieger: Vom Übertier.
[27] Ebd., S. 9.
[28] Vgl. ebd., S. 280 ff. Als Beispiele dienen Bühler/Rieger die Drosophila Fliege als ‚Erkenntnisorgan‘ für die DNA Struktur, Zitteraal oder Biene, aber auch der Hund, für die Erkenntnis von Orientierungs- und Behauptungsweisen in der Welt, die dem Menschen nicht zugänglich sind. Der Affe als Wissensagent, wie er für die Verhaltensforschung von de Waal in Anspruch genommen wird, wird von Bühler/Rieger nur in Hinsicht auf die legendären Affenexperimente des Primatenforschers und Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler in der Forschungsstation für Anthropoiden auf Teneriffa, die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1912-1920 unterhalten wurde, berücksichtigt.
[29] So Rieger: Kybernetische Anthropologie.
[30] Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 81.
[31] So Rieger: Kybernetische Anthropologie, S. 471.
[32] Canguilhem: La connaissance de la vie, S. 39.
[33] Bühler/Rieger: Vom Übertier, S. 10.
[34] Freud: Totem und Tabu, S. 171.
[35] Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 3-12.
[36] Vgl. Janson: Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance.
[37] Janson erinnert an eine in der Bibliothek Bodleiana in Oxford aufbewahrte Miniatur, die „Adam, naming the animals“ und den einen Apfel verzehrenden Affen zeigt: als distanzierten wie teilnehmenden Beobachter dieser Kultur stiftenden Szene. (Es ist die Geburt des Affen als Ethnologen der menschlichen Kultur, als Wissensfigur also.)
[38] Tyson : Orang-Outang.
[39] Zur Geschichte der Affenfigur in der Geschichte und Argumentation der Literatur vgl. die im erscheinen begriffene Habilitationsschrift von Julika Griem, Monkey Business, und die Publikationen von Virginia Richter, Missing Links und Blurred copies of himself.
[40] Flaubert: Quidquid volueris.
[41] Kafka: Ein Bericht für eine Akademie, S. 300.
[42] Vgl. Bauer-Wabnegg: Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk.
[43] Vgl. hierzu Neumann/Vinken: Kulturelle Mimikry.
[44] Der Titel ist ursprünglich ein Beispielssatz aus einer lateinischen Grammatik. Vgl. hierzu den Kommentar in Flaubert: Œuvres de jeunesse, S. 1284.
[45] Vgl. hierzu Jean-Paul Sartres Riesenwerk Der Idiot der Familie.
[46] „Ich habe mit zwanzig das Kreuz der Ehrenlegion erhalten“, hatte Paul de Monville sich gerühmt, „und ich habe mit unüblichen Mitteln ein Kind gezeugt“: „J’ai eu la croix à vingt ans, et de plus j’ai fait un enfant par des moyens inusités“ (Flaubert: Quidquid volueris, S. 257).
[47] Kafka: Ein Bericht für eine Akademie, S. 304.
[48] Zum Thema der Hand als Organon des Ursprungs der Kultur und ihrer Zeichenwelt vgl. André Leroi-Gourhans grundlegendes Werk Hand und Wort.
[49] Kafka: Ein Bericht für eine Akademie, S. 310.
[50] Ebd., S. 312.
[51] Ebd., S. 313.
[52] Ebd., S. 307.
[53] Auerbach: Figura; vgl. ferner: Auerbach: Mimesis.
[54] In einer epochemachenden Rede hat Derrida auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Sprechakten für das 20. Jahrhundert und die moderne Kultur aufmerksam gemacht (Derrida: Die unbedingte Universität): „Austins inzwischen klassische Unterscheidung von performativen speech acts und konstativen speech acts […] wird ein großes Ereignis dieses Jahrhunderts – und sie wird zunächst ein akademisches Ereignis gewesen sein.“ (Ebd., S. 22)
[55] Vgl. Kittler: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen.
[56] Vgl. Neumann: Kafkas Verwandlungen.
[57] Erikson: Identität und Lebenszyklus.
[58] Kafka: Die Verwandlung, S. 115.
[59] Kafka: Ein Bericht für eine Akademie, S. 312.
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