Der große Unbekannte

Julia Encke versucht in ihrer faszinierenden Studie ,,Wer ist Michel Houellebecq?“ eine Annäherung an ein Phantom

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch über einen Künstler zu verfassen, das explizit keine Biographie sein will, sondern vielmehr einen allgemein verständlichen Einblick in Leben, Werk und Widersprüche darbieten möchte, ist ein schwieriges, zudem auch ein äußerst selten gewagtes Unterfangen. Nicht zuletzt, weil sich die Autoren der Gefahr der Oberflächlichkeit, der falschen, weil unter Umständen zu einseitigen Fokussierung oder der schmerzhaften Aussparung schuldig machen könnten. Aber wenn ein Autor so sehr im Fokus einer durchaus breiten Öffentlichkeit steht wie Michel Houellebecq – ein Autor also, dessen Name sehr vielen Menschen bekannt sein dürfte, die niemals eine Zeile von ihm gelesen haben – so ist der Versuch, eine solche Annäherung an den Menschen und Künstler zu wagen, mehr als willkommen.

Julia Encke gelingt in ihrem schmalen Buch etwas Erstaunliches: Einerseits konzentriert sie sich auf verschiedene thematische Schwerpunkte im Leben und Schaffen Houellebecqs – seine mysteriöse Biografie, das ebenso seltsame Verhältnis zwischen Mensch, Autor und jeweiliger Hauptfigur (die meist auch den Namen Michel trägt), seine Rolle als Provokateur –, andererseits gelingt es ihr dennoch, seine Romane chronologisch durchzuarbeiten und dabei immer wieder wechselseitige Bezüge zwischen ebendiesen festzustellen. Das hat vor allem zur Folge, dass sich die Lektüre des Bandes sowohl für Houellebecq-Kenner als auch für Laien lohnt, da nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig vom Inhalt der Geschichten preisgegeben wird, als dass man sich entweder gelangweilt oder gespoilert fühlen müsste.

Natürlich, und das ist auf den ersten Blick durchaus ein kleines Manko des Buchs, deutet Julia Encke die umstrittenen und kontroversen Auftritte, Aussagen und auch Texte des Franzosen fast durchweg zu seinen Gunsten. Den vielfach gehörten Ausspruch, Houellebecq sei ein rechter, mitunter gar ein rechtsextremer Autor, wischt sie ein ums andere Mal mit Verweis auf seine kryptischen, oft ironischen öffentlichen Auftritte beiseite. Ob das richtig oder falsch ist, muss den Lesern - Enckes sowie Houellebecqs – überlassen werden. Je mehr man aber in das Buch eintaucht, desto näher kommt einem ein Autor, der doch eigentlich alles dafür tut, seinen Lesern und vor allem einer mitnichten literaturinteressierten Öffentlichkeit zu nahe zu kommen. Seine gerne auch mal optische Inszenierung als Mysterium steht interessanterweise immer auch im Mittelpunkt von Enckes Deutung der Texte. Dies ist eine gute Entscheidung, leben diese doch nicht zuletzt auch von der öffentlichen Inszenierung ihres Autors, bei der seine scheinbare Identifizierung mit den Hauptfiguren eine zentrale Rolle spielt. Das wiederum gipfelt bekannterweise in dem berühmten Mord am Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Roman Karte und Gebiet.

Der Höhepunkt des Buchs ist die Auseinandersetzung mit Houellebecqs letztem, 2015 erschienenem Roman Unterwerfung und der öffentlichen Debatte, welche gerade aufgrund der gespenstischen Synchronizität der Ereignisse – das Buch kam quasi parallel zu dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo in die Läden – der wohl prägendste Moment in der Karriere des Autors gewesen sein dürfte. Encke widerspricht vehement der gängigen (und tatsächlich falschen) Lesart, Unterwerfung sei ein Roman über den Islam, sondern sieht ihn eher als Text über die Rolle des gleichgültigen Individuums in einer Zeit, in der opportunistische Machtinteressen dessen Leben vollends bestimmen. Francois wird zur symbolischen Verkörperung einer französischen Nation, die gefangen ist in einem dauerhaften Zustand politischer Lethargie, der sich im finalen Konflikt der Kulturen entlädt, der nur noch Raum für Radikalismen lässt. Das Erstaunliche hierbei ist, dass das Ende des politischen Systems, in dem Francois aufgewachsen ist, wie er selbst räsoniert, zwei Jahre später tatsächlich Wirklichkeit wurde, wenn auch nicht in der befürchteten Form.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Julia Encke: Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783737100175

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