Sinn und Idee der Revolution

Ansprache im Politischen Rat geistiger Arbeiter, München

Von Heinrich MannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Mann

Wie die neue Zeit selbst, mit ihren neuen Einrichtungen und Männern, ist auch diese unsere Vereinigung ein Erzeugnis der Not. Ein siegreicher Ausgang des Krieges würde eine deutsche Revolution nie gebracht haben, und noch ein rechtzeitiger Friedensschluß hätte sie verhindert. Alle sind wir heute Söhne der Niederlage. Ist es nicht aber der Natur gemäß, daß ein unterlie­gendes Land von seinen Kindern mehr geliebt wird als ein triumphierendes? Der Triumph ent­hüllt viel Unschönes. Zu lange haben wir es an Deutschland enthüllt gesehen. Wir bekennen uns viel lieber heute zu ihm. Darum sagen wir vor allem, daß wir es von Herzen lieben und daß wir nach unserer Einsicht und unseren Kräften ihm dienen wollen.

Fern bleibt uns der Wunsch, unseren siegreichen Feinden möge ihr Sieg zum Verhängnis wer­den, wie uns selbst jetzt endlich unsere alten Siege. Wir wünschen vielmehr, daß der sittliche Ernst, den ein vor fünfzig Jahren besiegtes Land dank seiner Niederlage erworben hat, sogar die größte Gefahr, seinen heutigen Sieg, überdauern möge. Nun aber wollen auch wir selbst den sittlichen Ernst erwerben. Fühlt nicht zu dieser Stunde mancher, der nie geglaubt hätte, dies fühlen zu müssen, wie sehr wir in dem lange anhaltenden Glanz unserer früheren Siege uns selbst verloren hatten, und daß wir erst jetzt auf dieser Wanderung durch Staub und erste Däm­merung, die Hoffnung haben, uns wieder zu begegnen?

»Seid nicht allzu gerecht!« rief schon Klopstock seinen Deutschen zu; und solch ein Gedanke war, sittlich gesprochen, der Anfang vom Ende. Wir können nicht gerecht genug sein. Jede Ab­kehr von der unbedingten Gerechtigkeit zeitigt schon in der äußeren Welt die ungeheuerlich­sten Folgen; die Vergewaltigung kleiner Provinzen bewirkt noch nach Jahrzehnten den Zusam­menbruch großer Reiche. Viel furchtbarer aber sind die Erschütterungen unserer inneren Welt, sobald wir die Ungerechtigkeit einmal in sie zugelassen haben. Die Fälschung unseres gesamten Volkscharakters, Prahlerei, Herausforderung, Lüge und Selbstbetrug als tägliches Brot, Raff­gier als einziger Antrieb zu leben: dies war das Kaiserreich, das wir nun glücklich hinter uns ha­ben. Und dies konnte es nur sein, weil unter ihm, nach innen wie nach außen, Macht vor Recht ging.

Macht anstatt Recht bedeutet nach außen den Krieg, und bedeutet ihn auch im Innern. Ge­rechtigkeit verlangt schon längst eine weitgehende Verwirklichung des Sozialismus. Jetzt soll sie ihn verwirklichen. Wir sind dabei – sind nicht nur mit unserer Vernunft, auch mit unseren Herzen dabei. Wir wünschen das materielle Glück unserer Volksgenossen so ehrlich, wie man sein eigenes wünscht. Sie mögen es anerkennen, wenn wir zudem noch ihres seelischen Wohles gedenken. Das seelische Wohl ist wichtiger; denn das Schicksal der Menschen wird mehr von ihrer Art zu fühlen und zu denken bestimmt, als durch Wirtschaftsregeln. Denkt gerecht, Bür­gerliche! Solltet ihr in irgend einer gesetzgebenden Versammlung je die Mehrheit haben, ergebt euch dennoch niemals dem verhängnisvollen Irrtum, ihr könntet die begründeten Ansprüche der Sozialisten, indem ihr sie niederstimmt, aus der Welt räumen. Denkt aber auch ihr gerecht, Sozialisten! Wolltet ihr die Sozialisierung nur eurer zufälligen Macht verdanken, anstatt der Einsicht und dem Gewissen der Meisten, ihr würdet nichts gewonnen haben. Diktatur, selbst der am weitesten Vorgeschrittenen bleibt Diktatur und endet in Katastrophen. Der Mißbrauch der Macht zeigt überall das gleiche Todesgesicht.

Man gebe doch nicht vor, die Vergesellschaftung noch der letzten menschlichen Tätigkeit sei das radikalste, das sich tun läßt. Einen Radikalismus gibt es, der alle wirtschaftlichen Umwäl­zungen hinter sich läßt. Es ist der Radikalismus des Geistes. Wer den Menschen gerecht will, darf sich nicht fürchten. Der unbedingt Gerechtigkeitliebende wagt sehr viel. Wir sehen einen Mann, der weiter geht in geistiger Kühnheit als der bedenkenloseste der russischen Diktatoren: es ist jener Wilson[1], der allem Drängen der Sieger zum Trotz und unbeirrt von den Versu­chungen einer unerhörten, zum Wahnsinn herausfordernden Machtfülle auf dem beharrt, was sein Urteil gerecht nennt.

In diesem Rat, der nur zum Guten raten will, kann niemals, selbst wenn sie ausschweifte, ge­richtet werden über eine deutsche Revolution, deren schlimmste Ausschweifungen noch immer die Verbrechen des alten Regiments nicht aufwiegen würden. Nur zu viele Entschuldigungen haben die revolutionären Fanatiker von heute. Sie werden ihnen geliefert von jenen alldeut­schen Fanatikern, die bis gestern das Wort hatten, und die nur darauf warten, es wieder an sich zu bringen, um womöglich das Land noch einmal zu entvölkern, noch einmal zu entsittlichen, noch einmal an den Bettelstab zu bringen. Wo sollten die zur Macht gelangten Revolutionäre denn Gerechtigkeit erlernt haben? Sie sind unter dem Kaiserreich groß geworden. Sie sagen wohl, sie dächten nicht daran, ihre Macht freiwillig herzugeben. Ein kaiserliches Wort. Wer es spricht, hat noch so gut wie alles zu lernen von den Gesetzen einer wahrhaft befreiten Welt.

Wir sind hier, um dahin mitzuwirken, daß die sittlichen Gesetze der befreiten Welt in die deutsche Politik eingeführt werden und sie bestimmen. Wir wollen, daß unsere Republik, bis jetzt noch ein Zufallsgeschenk der Niederlage, nun auch Republikaner erhalte. Und wir sehen in Republikanern weder Bürgerliche noch Sozialisten. Dies sind hinfällige Unterscheidungen, wo es Höheres gilt. Republikaner nennen wir Menschen, denen die Idee über den Nutzen, der Mensch über die Macht geht. Unter Republikanern kann ein unschuldig Verurteilter Gewis­senskämpfe heraufbeschwören, so ungehemmt, daß sie den Verkehr, den inneren Frieden, so­gar die Sicherheit des Landes bedrohen – und wäre ihre Republik auch nur eine sogenannte Rentnerrepublik. Ein Kaiserreich aber; selbst ein soziales, wird solche Gewissenskämpfe nie kennen.

Unser Deutschland werde so gerecht, frei und wahr, wie einige von uns es sogar in seinen dunkelsten Tagen verlangt und erstrebt haben – bestärkt in ihrem Glauben an die Zukunft des deutschen Geistes durch seine große Vergangenheit. In diesem Lande, komme alles wie es mag, wird endlich doch der Geist herrschen. Er erobert Deutschland und die Welt; der wirkliche Sie­ger des Krieges ist nur er. Wer ihm widerstände, wäre verloren. Wer ihn aufnimmt, ist allen gleichberechtigt und verbrüdert. Unsere Versöhnung mit der Welt wird im Namen der uns end­lich wieder mit ihr gemeinsamen, ewigen Gedanken geschehen. Wir geistigen Arbeiter wollen es uns verdienen, unter den Ersten zu sein, die Deutschland mit der Welt versöhnen.

Editorische Hinweise von Thomas Anz

Das Dokument und ein Teil der Editorischen Hinweise sind entnommen aus: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Mit Einleitung und Kommentaren herausgegeben von Thomas Anz und Michael Stark. Stuttgart: Metzler Verlag 1982 (Nachdruck 1990). Online auch als Sonderausgabe von literaturkritik.de erschienen und für Online-Abonnenten zugänglich seit dem 11.2.2016. Vorlage für die Veröffentlichung war dort: Heinrich Mann: Sinn und Idee der Revolution. Ansprache im Politischen Rat geistiger Arbeiter, München. In: Der Osten 1 NF. (1919), H. 9/11 (Januar/März), Sonderheft Politik des Geistes, S. 122-124.

Das Sonderheft der von Armin T. Wegner herausgegebenen Zeitschrift für das östliche Europa (Untertitel) Der Osten befasst sich mit dem Aktivismus und den Räten geistiger Arbeiter. U. a. ist hier noch einmal das Programm des Berliner Rats geistiger Arbeiter nachgedruckt, das am 21. Novem­ber in Die Weltbühne 14 (1918), Nr. 47, S. 473-475 erschienen war, und weiterhin ein Brief  Wegners an  Kurt Hiller (S. 113-118) sowie Wegners „Ansprache im politischen Rat geistiger Arbeiter, Berlin“ unter dem Ti­tel Die Mobilisierung der Menschheit (S. 124-128).

Die Rede erschien zuerst am 1. Dezember 1918 im Berliner Tageblatt (Morgenausgabe) sowie am selben Tag in Münchner Neueste Nachrichten, dann auch in H. Mann: Macht und Mensch. München: K.Wolff [1919]. S. 161-165.

Spätere Nachdrucke stehen in der Studienausgabe von Heinrich Manns Werken, Band: Macht und Mensch (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1989, S. 158 – 161), und in Heinrich Mann: Essays und Publizistik [HMEP]. Kritische Gesamtausgabe. Band 3 (November 1918 bis 1925), Teil 1: Texte. Hg. von Bernhard Veitenheimer mit Vorarbeiten von Barbara Vogt. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2015, S. 18 – 20 (Nachdruck der Fassung in den Münchner Neuesten Nachrichten). Der Kommentar des Herausgebers (in HMEP, Band 3.2, S. 445) gibt dazu an: „Den Text trug Heinrich Mann am 22. November 1918 auf einer Mitgliederversammlung des Politischen Rats geistiger Arbeiter vor.“

Wir danken dem S. Fischer Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de.

Anmerkung

[1] Der Friedensnobelpreisträger (1919) Woodrow Wilson gab den Friedensbemühungen vor allem mit der Verkündung der Vierzehn Punkte am 8.1.1918 entscheidende Impulse. Von den zeitgenössischen Sammlungen seiner Reden und Erklärungen s. etwa: Präsident Wilson. Der Krieg – Der Friede. Zürich 1918; Wilson. Das staatsmännische Werk des Präsidenten in seinen Reden. Berlin 1919.