In einer Umwelt ohne andere Subjekte

Kafkas Bau-Tier

Von Michael NiehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Niehaus

Man muss sich möglichst lange auf der Ebene des Tiers halten: das Tier in Franz Kafkas Bau so lange wie möglich nicht für etwas anderes nehmen, statt es zu interpretieren. Aber auf der Ebene welchen Tieres? Bekanntlich wird nicht gesagt, zu welcher Art das Tier gehört, dessen rastlose Stimme wir in diesem Fragment zu hören vermeinen. Wie man leicht feststellen kann, vereinigt es Eigenschaften des Maulwurfs mit denen des Dachses, wie sie in Brehms Tierleben (worin Kafka gerne las) beschrieben sind. Das Tier stellt sich nicht selbst, sondern ausschließlich seinen Bau vor – „Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen“ (N II, 576)[1], lautet bekanntlich der erste Satz. Die Welt dieses Tiers ist sein Bau – und wo gäbe es in dieser Welt einen Spiegel, mittels dessen es sich ein Bild von sich machen könnte?

Einen Spiegel bräuchte es hierfür nicht, wenn das Tier Artgenossen hätte, wenn es unter Seinesgleichen wäre. Davon kann aber keine Rede sein. Wie der Dachs und der Maulwurf in Brehms Tierleben ist das Tier in Kafkas Bau ein Einzelgänger. Es scheint weit und breit das einzige Tier seiner Art zu sein. Nur an einer einzigen, sehr bezeichnenden Stelle ist von Artgenossen die Rede. Es geht dort um die Situation, in der das Tier Angst hat, in seinen Bau zurückzukehren, weil es fürchtet, dabei beobachtet zu werden. Womöglich wäre dieser vorgestellte Beobachter – und dies wäre „das schlimmste“ – sogar „irgendjemand von meiner Art, ein Kenner und Schätzer von Bauten, irgendein Waldbruder, ein Liebhaber des Friedens, aber ein wüster Lump, der wohnen will ohne zu bauen.“ (N II, 596)

Das Auftauchen eines solchen Artgenossen – eines imaginären anderen – an dem von ihm beobachteten Eingang zum Bau wird vom Tier förmlich herbeigesehnt, „damit ich endlich in einem Rasen hinter ihm her, frei von allen Bedenken ihn anspringen könnte, ihn zerbeißen, zerfleischen, zerreißen und austrinken und seinen Kadaver gleich zu meiner andern Beute stopfen könnte“ (N II, 596). Die Stelle markiert einen der Punkte, an dem die Anverwandlung tierischen Verhaltens durch den vegetarischen Kafka phantasmatische Züge annimmt. Vor allem aber zeigt sie, dass im Hinblick auf das Problem, dem sich dieses Schreib-Vorhaben Kafkas widmet, für die Artgenossen kein Platz ist.

Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil zwei zeitlich benachbarte Texte Kafkas, in denen ein Tier-Ich spricht, in die entgegengesetzte Richtung weisen: In Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse und in Forschungen eines Hundes steht die Artgenossenschaft jeweils im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das namenlose Tier im Bau hingegen ist ganz und gar und von Anfang bis Ende auf den von ihm eingerichteten Bau bezogen. Deswegen soll es im Folgenden auch – wie bei vielen anderen Kommentatoren und Interpreten – das Bau-Tier heißen.

Aus dieser Ausgangslage folgt unter anderem, dass dieses Tier keine – oder nur eine sehr nebelhafte – Biografie haben kann. Denn das Bau-Tier ist ja nicht in den Bau hineingeboren worden, sondern hat ihn eingerichtet; es ist also nicht immer Bau-Tier gewesen, sondern hat sich selbst als Bau-Tier gewissermaßen erschaffen. Auf diese Vorgeschichte kommt das Bau-Tier jedoch bloß ganz vage zu sprechen, wenn etwa davon die Rede ist, dass das „alte trostlose Leben“ vor der Errichtung des Baus „eine einzige ununterscheidbare Fülle von Gefahren war“ (N II, 584f.). Ganz explizit wird die Verschattung der Vorgeschichte an einer späteren Stelle, wo das inzwischen in den Bau zurückgekehrte Tier das Durchstreifen der Gänge erstaunlicher Weise als ein „Plaudern mit Freunden“ bezeichnet, „so wie ich es tat in alten Zeiten oder – ich bin noch gar nicht so alt, aber für vieles trübt sich die Erinnerung schon völlig – wie ich es tat oder wie ich hörte, daß es zu geschehen pflegt“ (N II, 604).

Diesen Passus darf man symptomatologisch lesen. Zum einen soll das Bau-Tier als reines Bau-Tier von seiner Vorgeschichte gleichsam abgeschnitten werden. Dabei entsteht aber ein kleiner Erklärungsnotstand: Wie kann das Bau-Tier wissen, was „Plaudern mit Freunden“ ist? Und der Lösungsversuch, dass man dieses Wissen aus zweiter Hand hat, verschiebt dieses Problem nur – von welcher freundlichen Seele ist dem Bau-Tier das seinerzeit mitgeteilt worden? Im gesamten Text gibt es weder aktuelle noch erinnerte konkrete Kommunikationen oder Interaktionen mit einem anderen Subjekt, einem anderen Tier. Artgenossen erscheinen nicht auf der Bildfläche, und andere Tierarten kommen nur als imaginierte Fressfeinde und als reale Beutetiere vor.

Es gibt also einen Ausschluss der Biographie des Bau-Tiers und es gibt einen Ausschluss anderer Tier-Subjekte. Beides ist die Voraussetzung dafür, dass der Bau zum ausschließlichen und exklusiven Objekt wird. Es ist interessant, dass diese beiden Ausschlüsse zu Beginn des Schreibprozesses noch nicht eindeutig vollzogen zu sein scheinen. So ist gleich im ersten Abschnitt davon die Rede, dass es Feinde im Innern der Erde gebe, die das Bau-Tier noch nie gesehen hat, „aber die Sagen erzählen von ihnen und ich glaube fest an sie“ (N II, 578). Mit dem Terminus Sage ist jedoch eine Diskursform aufgerufen, die eine – wenn auch vage – soziale Kommunikation impliziert. Am deutlichsten werden die sich erst allmählich herauskristallisierenden Ausschlüsse an zwei bemerkenswerten Stellen aus der Anfangsphase seiner Niederschrift, die Kafka sogleich wieder gestrichen hat. An ihnen lässt sich sehr gut ablesen, in welcher Weise sich Kafka erst im Laufe des Schreibprozesses auf die Logik des Tiers als Bau-Tier verpflichtet.

Der ersten gestrichenen Stelle zufolge fallen dem Bau-Tier die „Tage der Kindheit“ ein, in denen es bereits von einem – wenn auch weniger großartigen – Bau geträumt habe. Und es fügt hinzu, etwas „Baumeistermässiges“ müsse ihm „im Blut“ gelegen haben, da es „schon als Kind […] Zick-zack- und Labyrinthpläne in den Sand“ gezeichnet und später immer ohne Erfolg nach „einem passenden Ort für den Bau“ gesucht habe (N II A, 430). Diese Reminiszenz evoziert zwei Vorstellungsbereiche. Erstens verbindet sich damit die Vorstellung eines geschützten Kindheitsraumes, in dem das Kind, unbelastet von den Sorgen des Überlebens, spielerisch mit Möglichkeitsräumen umgehen kann; implizit wird damit eine familiale Matrix aufgerufen: das von seinen Eltern einstweilen vor dem Ernst des Lebens bewahrte und durch die Zuschreibung besonderer Eigenschaften individualisierte Kind. Zweitens verweist das Zeichnen von Labyrinthplänen auf eine Kultur- bzw. eine Körpertechnik, die den Pfoten des Bau-Tiers eine gänzlich andere, deutlich feinere Motorik zuordnet als sie für das grobe Graben von Gängen erforderlich ist. Beide Aspekte zusammen ziehen eine Anthropomorphisierung des Tieres auf einer Ebene nach sich, die dem Schreibvorhaben Kafkas letztlich widerspricht und deshalb wieder gestrichen wurde. Dass diese Passage allerdings überhaupt geschrieben wurde, zeigt, dass Kafka die innere Logik seines Vorhabens – die Reduktion des Tiers auf seinen Stand als tierisches Bau-Tier – zu diesem Zeitpunkt noch nicht völlig klar war: Kafka schreibt, ohne einen Überblick zu haben.

Die gestrichene Kindheitsreminiszenz geht noch weiter. „Ohne Schutz“, so heißt es im Manuskript, „bestenfalls in den Höhlen oder unter trockenen Blättern […] verkrochen ruhte ich“. Hinter „trockenen Blättern“ hat Kafka dann aber nachträglich noch „oder im Rudel meiner Genossen“ eingefügt. Diese Einfügung führt also einen Aspekt ein, der das vollkommene Einzelgängertum des Bau-Tiers relativiert – ein Thema, das mit der bemerkenswerten Erklärung weitergeführt wird, es habe sich damals „wohl im Schlaf sehnsüchtig an meinen Nachbarn“ gedrückt und diesen für „die Wand der Gänge meines Baues“ gehalten (N II A, 430). Den Körper eines Artgenossen im Schlaf assoziativ mit der Wand eines Ganges im Bau gleichzusetzen, weil in beiden Fällen ein Mindestmaß an Geborgenheit und Beschränkung vermittelt wird, scheint (zumal der Bau mit seinen Gängen zu diesem Zeitpunkt der Vorgeschichte ja noch gar nicht existiert) recht gewaltsam. Allerdings stellt es in gewisser Weise eine Parallele zu der oben zitierten Gleichsetzung des ‚Streifens durch die Gänge‘ des Baus mit dem „Plaudern mit Freunden“ dar. Mit der Tilgung dieser Reminiszenz ist – unter anderem – die Entscheidung verbunden, den Bau gewissermaßen an die Stelle der Artgenossen zu setzen. Das spezifisch Tiermäßige des Bau-Tiers besteht nicht darin, dass es das Exemplar einer Art ist, sondern es besteht in seinem Verhältnis zum Bau, das wiederum ein Verhalten determiniert.

Die zweite gestrichene Stelle bestätigt diese Ausschlussoperationen. Sie findet sich im Zusammenhang der Beschreibung des (periodisch wiederkehrenden) Ausflugs, den das Bau-Tier ins Freie unternimmt. Das Tier beobachtet hier aus einem Versteck heraus die Situation vor dem Eingang zum Bau, um abschätzen zu können, wie sicher der Bau vor möglichen Eindringlingen ist. Hier hatte Kafka, der ansonsten mit der Niederschrift sehr gut vorankam, Probleme, die zu verschiedenen Versionen und zahlreichen Streichungen führten. So heißt es beispielsweise: „Das gewöhnliche Volk, aber auch ganz ungeheuerliche Wesen mit Lärm und Musik und Rauch und Feuerzeichen habe ich kommen und gehn gesehn“ (N II A, 436). Die Rätselhaftigkeit dieser Stelle hängt damit zusammen, dass sie – wie man sagen könnte – unvermittelt aus der ‚Tierlogik‘ ausschert oder sie anders interpretiert: Man kann nach dem Vorangegangenen nicht verstehen, was das für Wesen sein sollen. Das eröffnet zwei Lesarten: Entweder handelt es sich um Menschen, die aber nicht als solche erkannt werden, da das Bau-Tier nur die Tierwelt kennt (dieses Verfahren wendet Kafka bekanntlich in den Forschungen eines Hundes an), oder aber das, was hier beschrieben wird, wäre nur eine pictura, zu der wir die subscriptio erst finden müssten. Wir würden also zu einer allegorischen Lektüre und damit zum Verlassen der Ebene des Tiers aufgefordert.

Nicht weniger rätselhaft ist die ebenfalls gestrichene Fortsetzung dieser Passage. Dort ist davon die Rede, dass das Bau-Tier auch „jene schrecklichen Wesen“ beobachtet habe, die „äusserlich mir gleichen, aber meine eigentlichen Totfeinde sind, mit denen keine Verständigung möglich“ ist, und die aus ungeklärten Gründen, „über die ich in meiner Jugend unaufhörlich nachdachte […], nichts wollen als mich vernichten und es offen sagen“. (N II A, 436) Was sollen das für Wesen sein, die – obwohl Todfeinde – von derselben Art zu sein scheinen, und mit denen anscheinend auch kommuniziert werden kann? Offenbar wird hier im Schreibprozess eine Assoziationskette freigesetzt, die mit der tierischen Umwelt nicht vereinbar ist und insofern nach einer allegorischen Lesart verlangt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch unmittelbare Selbstwidersprüche im weiteren Verkauf dieser gestrichenen Passage. Denn im Anschluss wird erklärt, dass das Bau-Tier diese Todfeinde „vor meinem Haus niemals gesehn“ habe. Vielmehr müsse er fliehen, wenn er sie „nur aus fernster Ferne wittere“, weil sie „immer in der Überzahl“ seien und „alle Hilfsmittel der Hölle“ zur Verfügung hätten. Wenn das so ist, dann versteht man kaum, dass diese Todfeinde – wie zuvor erklärt – dem Bau-Tier „offen sagen“ können, dass sie es vernichten wollen. Andererseits wird – wiederum im Widerspruch dazu – gleich darauf behauptet: „Einen oder einige von ihnen umbringen ist sinnlos, trotzdem man es in der Not manchmal tut.“ (N II A, 436) Und plötzlich sind diese „schrecklichen Wesen“, die dem Bau-Tier ja gleichen sollen, sogar ein „großes Gewimmel“ geworden, bei dem es unmöglich ist „an den Kern des Kernes heranzukommen“ (N II A. 436).

Dieses ganze Knäuel ist, wie gesagt, gestrichen worden. Statt dessen heißt es einfach: „Niemanden habe ich in der ganzen Zeit geradezu am Bau forschen sehn […].“ (N II, 592) Kafka ruft sich im Schreibprozess gewissermaßen selbst zur Raison, auf der Ebene des Tiers zu bleiben. Er verpflichtet sich auf eine Reduktion. Das Tier, das auf diese Weise übrig bleibt, möchte ich als ein logisches Tier bezeichnen.

Zunächst einmal lässt sich zusammenfassen, dass es nicht auf die Bestimmung der Art des Bau-Tieres ankommt, sondern darauf, die Art des Verhältnisses des Bau-Tiers zu seiner Umwelt zu bestimmen. Denn der vom Tier eingerichtete Bau ist letztlich der Versuch, sich eine eigene Umwelt zu schaffen. Der Begriff der Umwelt ist als Fachterminus zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes noch recht neu. Maßgeblich für seine Einführung in den wissenschaftlichen Diskurs war ein Buch von Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere aus dem Jahre 1909. Im Jahre darauf startet Uexküll eine Reihe von Aufsätzen in der wichtigen Zeitschrift Die Neue Rundschau, deren Abonnent und aufmerksamer Leser Kafka bekanntlich war. Uexküll war mit seinen Arbeiten der prominenteste Vertreter eines Paradigmenwechsels von der darwinistischen Biologie zur Verhaltensforschung. Er forderte eine Wende hin zu der von ihm sogenannten „subjektiven Biologie“, der es als „wahre Wissenschaft vom Leben“ darum gehen müsse, die subjektiven Umwelten der Tiere zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion des Tiers als Subjekt gebe der spekulativen Frage der Tierpsychologie, wie eigentlich die Tiere die Welt ansehen, eine „neue unpsychologische Fassung“, nämlich: „Welche Teile der Welt sind den Tieren zugänglich?“[2] Der sich daraus ergebende Perspektivismus, der sich auf die Wahrnehmungsapparate der Tiere bezieht, ist also nicht hermeneutischer, sondern logischer Natur.

Die in der Forschung verschiedentlich festgestellte Nähe von Kafkas Tiergeschichten zur Umweltlehre von Uexkülls (die übrigens ebenso auf Martin Heideggers in Sein und Zeit entwickelte Konzeption des In-der-Welt-Seins vorausweist wie auf den späteren radikalen Konstruktivismus) soll hier nicht der Mutmaßung über Kausalbeziehungen dienen, sondern eine Verfahrensweise transparent machen: Der Ansatz der subjektiven Biologie und Kafkas Beschreibung des Bau-Tiers kommen darin überein, dass sie vom einzelnen Tiersubjekt ausgehen und dessen Verhalten auf einer logischen Ebene zu rekonstruieren beziehungsweise konstruieren versuchen. Die Umwelt wird dabei als ein geschlossener Raum verstanden, da sie durch die nicht änderbaren Sinnesorgane des Tiers gegeben ist. Der subjektiven Biologie geht es in ihrer Rekonstruktion weder um eine Entwicklungsgeschichte der Arten noch um eine einzelne Lebensgeschichte. Wenn das Verhalten der Tiere in dieser Weise über ihr Umweltverhältnis beschrieben wird – also über das, was dem Tier als Exemplar einer Art zugänglich ist – so bedeutet das eine Art methodischen Solipsismus. Das Tier als Subjekt beschreiben, wie es in der subjektiven Biologie und bei Kafka (nach Maßgabe der von ihm im Laufe des Schreibprozesses vorgenommenen Reduktion) der Fall ist, heißt, es zwar als Exemplar seiner Art, zugleich aber als einziges (und darum auch als ganzes) Subjekt beschreiben. Denn andere Subjekte kommen in seiner Umwelt nicht vor.

Entsprechend wird das Bau-Tier in Kafkas Text allein auf sein Umweltverhalten hin beobachtet. Von seiner Lebensgeschichte wird abstrahiert; es steht in keiner Generationenfolge; es gibt keine Prokreation, keinen Gattungsprozess – noch nicht einmal (das sollte nicht unterschlagen werden) eine geschlechtliche Differenzierung. Vielmehr ist alles auf die Stillstellung der Zeit, auf die Erhaltung eines status quo ausgerichtet. Nach der Beschreibungslogik der subjektiven Biologie haben sowohl Gegenstände wie andere Subjekte in der Umwelt des Tieres nur als Bündel von Merkmalen Bedeutung. Auch in Kafkas Text wird ausschließlich über das gesprochen, was für die Bedeutungsverwertung in Frage kommt. Nicht zuletzt daraus resultiert der verstörend klaustrophobische Eindruck, den der Text hervorruft. Es gibt keine Wahrnehmungsqualitäten wie Farben und Töne in der Natur, keine konkreten Gegenstände außer der zu verzehrenden Beute, keine Materialitäten außer der Erde als dem Medium für den Bau, es gibt keinen Himmel, keinen Horizont, kein Wetter, keine Jahreszeiten. Alles, was das Bau-Tier hat, ist eben der Bau: Nichts anderes hat Bedeutung. Der Bau vergegenständlicht sein Selbstverhältnis und definiert seinen Verhaltensspielraum.

Das Bauverhalten der Tiere hat die Menschen schon immer beeindruckt. Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel stellt es sich als ein bestimmter Trieb dar, den er den „Bildungstrieb“ oder den „Kunsttrieb“ des Tieres nennt. Das „instinktartige Bauen von Nestern, Höhlen, Lagern“ geschehe, „damit die allgemeine Totalität der Umgebung des Tiers, wenn auch nur der Form nach, die seinige sei“.[3] Das Tier macht sich also, bis zu einem gewissen Grade, seine Umwelt. Um zu verstehen, was das Bau-Tier als logisches Tier ist (oder vielmehr: zu sein vermag), muss man fragen, inwiefern es durch seinen Bau einen Platz in der Welt finden kann. In dieser Hinsicht ist das Bauverhalten – aus verhaltensbiologischer Sicht – kategorial vom Territorialverhalten zu unterscheiden, das durch Markierung definiert ist, sich auf einen bestimmten Funktionskreis beziehungsweise auf die Artgenossen bezieht. Das Bauverhalten hingegen bezieht sich auf einen Gegenstand, den Bau, als Resultat einer positiven Arbeit, der ganz verschiedenen Funktionskreisen angehören kann (er kann im Dienst von Ruhe und Schlaf stehen, aber auch zur Jungenaufzucht, zur Nahrungsbeschaffung, zur ‚Staatenbildung‘ und so weiter dienen). Wenn sich verschiedene dieser Funktionen vereinigen, spricht man von multifunktionellen Wohnbauten, die mit spezifischen Raumansprüchen verbunden sind.[4]

Als ein solcher multifunktioneller Wohnbau erscheint zunächst der Bau in Kafkas Text. Bei genauerem Hinsehen allerdings verändert sich dessen Status. Die ausgedehnten Dachsbauten sind ein typisches Beispiel für einen solchen multifunktionellen Wohnbau, der – wie es auch beim Bau-Tier im ersten Teil des Textes der Fall ist – insbesondere zum Zwecke der Jagd immer wieder verlassen wird. Anders verhält es sich beim Maulwurf, der – ein Sonderfall – im Grunde sein ganzes Leben in seinen unterirdischen Gängen verbringt, weshalb sein Wohnbau „eigentlich den Charakter eines unterirdischen Territoriums“ hat.[5] Genau in dieser Lage befindet sich das Bau-Tier im zweiten Teil, nachdem es das rätselhafte, nicht lokalisierbare Geräusch zu hören begonnen hat. Denn nun kann es den Bau nicht mehr verlassen. Mit dem Auftauchen des Geräusches wird der Bau umso mehr zu einem Territorium, als das Tier nicht mehr in ihm wohnen kann. Wenn man so will – und wenn an einer solchen Bestimmung etwas läge –, so wäre Kafkas Tier also in der ersten Hälfte des Textes ein Dachs und in der zweiten ein Maulwurf.

Das Tier definiert sich von Anfang an als Hausbesitzer, also darüber, dass es etwas hat. Es ist an seinen Bau strukturell gekoppelt. Wenn das ganze Denken des Bau-Tiers um die ‚Sicherheitsperspektive‘ kreist, so ist damit nicht einfach seine Selbsterhaltung gemeint, sondern die Erhaltung dieser strukturellen Kopplung, die an die Stelle des Selbstverhältnisses tritt. Damit übersteigt der Bau freilich jede Funktion, die ihm zugewiesen werden könnte. „Aber der Bau ist eben nicht nur ein Rettungsloch!“ (N II, 600), ruft das Tier einmal emphatisch aus, und erklärt, dass diese „Burg […] auf keine Weise jemandem anderen angehören kann“ und dass „ich hier letzten Endes ruhig von meinem Feind auch die tödliche Verwundung annehmen kann, denn mein Blut versickert hier in meinem Boden und geht nicht verloren“ (N II, 601). Genau dieses tierhafte ‚Blut-und-Boden-Phantasma‘ erweist sich dann im zweiten Teil allerdings als Verkennung.

Denn das Auftreten des Geräusches macht offenbar, dass es den Besitz des Bodens nicht geben kann, weil sich angesichts eines Feindes, den man nicht zu Gesicht bekommt, da er sich durch den Boden heranzugraben scheint, eine – wie es heißt – „völlige Umkehrung der Verhältnisse im Bau“ (N II, 621) vollzogen hat. Man kann den Boden, man kann ‚seine‘ Umwelt nur zum Schein haben, in Wahrheit ist der Boden das Medium des Anderen. „Hier gilt nicht, daß man in seinem Haus ist; vielmehr ist man in ihrem Haus.“ (N II, 578) Wenn alle Sicherheit imaginär ist, kann man nur noch Gewissheit haben wollen. Darum muss das Bau-Tier dem Geräusch im zweiten Teil ‚auf den Grund gehen‘.

Wenn das Tier im Bau in der beschriebenen Weise ganz Tier ist, so scheinen erstens seine elaborierten Gedankengänge im Widerspruch dazu zu stehen – und zweitens der Umstand, dass dieser Text in der ersten Person Singular steht, dass es also doch offenbar das Tier ist, das hier spricht. Derlei gehört sicherlich nicht zum Verhaltensrepertoire von Tieren. In einem letzten Schritt soll daher kurz umrissen werden, weshalb dieser Widerspruch scheinbar ist.

Zweifellos kommt innerhalb der erzählten Welt des Bau kein expliziter Sprechakt vor. Der Text ist insofern genau das Gegenteil einer Fabel: In der Fabel sprechen die Tiere in einer Erzählung in der dritten Person, hier hingegen kommen keine Sprechakte von Tieren vor, aber der Text wird von einem Ich gesprochen, das mit jedem Auftauchen des Signifikanten „ich“ die Identität zwischen dem Subjekt des Aussagens und dem Subjekt des Ausgesagten statuiert. Man hat oft bemerkt, dass es – gerade weil sich dieses Sprechen weitestgehend des Präsens bedient – keine konkrete Verbindung zwischen dem Subjekt des Aussagens und dem Subjekt des Ausgesagten gibt. Man kann das Sprechen des Bau-Tiers nicht widerspruchsfrei innerhalb der erzählten Welt lokalisieren. Daraus folgt: Das Tier spricht nicht. Es gibt hier, wie man sagen muss, keinen Sprecher, sondern eine Sprechfunktion. Man kann das auch so formulieren, dass sich das Ich, das hier zu sprechen scheint, nicht sprechend auf sich beziehen (und an einen anderen richten) kann. Das Subjekt im Bau zerfällt in ein Subjekt des Aussagens und ein Subjekt des Ausgesagten. Es spricht nicht selbst, sondern es hat gewissermaßen – im schreibenden Kafka – einen Fürsprecher.[6]

Tiere benötigen Fürsprecher. Und umgekehrt: Ein Subjekt des Ausgesagten, das nicht auch Subjekt des Aussagens ist, ist tierhaft. Es ist das Subjekt der subjektiven Biologie. Das Tier als Subjekt denken, heißt, es als ein Subjekt des Ausgesagten denken, das – in jedem Sinne des Wortes – Fürsprecher benötigt. Die „animalische Subjektivität“ existiert, so Hegel, als „einfache subjektive Einheit“, als „einfache Seele“[7], die nur zum Selbstgefühl, nicht aber zum Selbstbewusstsein kommt.

In Termen der Psychoanalyse Jacques Lacans gesprochen, fehlt dem Subjekt des Ausgesagten als einer ‚einfachen subjektiven Einheit‘ das Register des Symbolischen. Das Auseinanderfallen des Subjekts des Aussagens und des Subjekts des Ausgesagten im Bau entspricht dem „Verlust der Subjektspaltung“, durch welchen das psychotische Subjekt definiert ist.[8] Entsprechend befindet sich das Bau-Tier als logisches Tier in einer paranoischen Position, wie sich ja an seinen Verhaltensweisen unschwer ablesen lässt (umgekehrt ist bekannt, dass sich das psychotische Subjekt häufig mit einem Tier identifiziert). Die paranoische Position realisiert sich im Versuch, sich möglichst lange – und möglichst folgerichtig – auf der Ebene des Tiers zu halten. Der erkenntnistheoretische Ansatz der subjektiven Biologie versetzt das Tier in eine Position, die – von seinem Fürsprecher aus gesehen – virtuell psychotisch ist, insofern es keinen Platz (in einer symbolischen Ordnung) haben kann.

Hierin liegt zugleich die Antwort auf den anderen scheinbaren Widerspruch: Auch wenn man zugibt, dass das Bau-Tier nicht spricht, so bleiben doch immerhin – möchte man meinen – seine sich immer weiter verästelnden Gedankengänge. Tatsächlich ist das Tier ja sozusagen ein animal rationale. Es räsonniert ohne Unterlass. Aber seine Animalität und seine Rationalität stehen auf eine merkwürdige Weise windschief zueinander. Die Berechnungen, die das Tier anstellt, erscheinen völlig abgekoppelt von seinem Verhalten, das ganz und gar animalisch ist: Zwar verliert sich das Tier in Handlungsalternativen, verhält sich dann aber instinkthaft. Sein Verhalten sieht aus wie vernunftgesteuertes Handeln, ohne deshalb eines zu sein. Das kann man sogar für das ‚Bauverhalten‘ selbst geltend machen. Der „Kunsttrieb“ des Tieres ist – um noch einmal mit Hegel zu sprechen – „dem Verstande, als seiner selbst Bewussten, analog“.[9] Umso mehr gilt dies für das Verhalten des Tiers, nachdem der Bau eingerichtet ist. In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass die Sprechfunktion das Verhalten des Bau-Tiers rationalisiert. Paranoia ist letztlich nur rasend gewordene Vernunft.[10]

Das sieht man daran, dass das Tier mit seinen Vernunftgründen zu keinem Ergebnis kommt. So kann zum Beispiel der Entschluss, nach dem Ausflug ins Freie nun doch wieder in den Bau zurückzukehren, erst dann in die Tat umgesetzt werden, wenn das Bau-Tier „schon denkunfähig vor Müdigkeit“ (N II, 602) ist. Vor allem aber erweist sich die Nutzlosigkeit aller Gedankengänge im ersten Teil in der Erzähllogik selbst. Denn weil ein Tier etwas ist, das sich verhält, Verhalten aber etwas ist, das sich wiederholt, ist dieser ganze erste Teil iterativ erzählt: Es wird einmal erzählt, was sich immer wieder ereignet hat – und wieder ereignen würde, wenn das den zweiten Teil einläutende Geräusch nicht dazwischenträte: Jedes Mal, wenn das Tier den Bau verlässt, denkt es dieselben Gedanken, jedes Mal muss es „schon denkunfähig vor Müdigkeit“ sein, um wieder in den Bau zurückkehren zu können. Daraus folgt, dass diese Gedanken selbst zum Verhalten gehören. Darin liegt die Abgründigkeit, derer wir nur gewahr werden, wenn wir uns möglichst lange auf der Ebene des Tieres halten. Dann hält uns das Tier, das keinen Spiegel hat, einen Spiegel vor, in dem sich unsere eigenen Gedanken als etwas abzeichnen, als was wir sie nicht denken können: als Verhalten.

Anmerkungen:

[1] Die Sigle bezieht sich auf Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 2002. Der dazugehörige Apparatband trägt in der Sigle die Ergänzung A.

[2] Jakob von Uexküll: Die Umwelt. In: Die Neue Rundschau Bd. 21 (1910), S. 638-648, hier: S. 638.

[3] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1970. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Bd. II, S. 495. – In moderner Terminologie ist das Bauverhalten Teil der sogenannten „Nischenkonstruktion“ (vgl. zusammenfassend Markus Wild: Tierphilosophie zur Einführung. Hamburg 2013, S. 179ff).

[4] Vgl. etwa Günter Tembrock: Spezielle Verhaltensbiologie der Tiere. Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 103ff.

[5] Ebd., S. 103.

[6] Vgl. zur Logik des Fürsprechens bei Kafka: Rüdiger Campe: Kafkas Fürsprache. In: Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld 2007, S. 189-212.

[7] Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. II, S. 430.

[8] Vgl. Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1990, S. 118.

[9] Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. II, S. 494.

[10] Vgl. Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft. Berlin 2010, insbes. S. 193ff.