Irrwisch von undefinierter Gestalt

Ernst Jüngers „Arbeiter“ von 1932 war der erste Avatar

Von Marcus JensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Jensen

Das Phantom blieb

Dass Ernst Jünger (1895–1998) in seine beiden Werkausgaben die nationalistischen Zeitungs-, Zeitschriften- und Anthologiebeiträge aus den Jahren der Weimarer Republik nicht aufnehmen mochte, war verständlich. Zum einen hatte er sich historisch geirrt, zum anderen hatte er zu klein gedacht, und Letzteres wog für ihn schwerer. Die antibürgerliche Hassprediger-Phase des bürgerlich Lebenden lag zwischen dem Ausscheiden aus der Reichswehr 1925 und dem Erscheinen des Buches Das Abenteuerliche Herz 1929. Diese Artikel, die erst nach Jüngers Tod erscheinen durften, prägten seinen Ruf bis in die 1990er-Jahre. Allerdings waren sie schon vorher von der Literaturwissenschaft in mühevoller Archivarbeit zusammengetragen worden, kostbare Kopien-Ordner kursierten wie eine Textsammlung des Samisdat. Aber beide Werkausgaben Jüngers enthielten Die totale Mobilmachung und Der Arbeiter, zwei radikal anmutende Richtungs-Essays, die er immer als Diagnosen verteidigte. Der Arbeiter, dreihundert Seiten lang, wenige Monate vor dem Ende der verachteten bürgerlichen Republik erschienen, blieb in einer rettenden Weise esoterisch, entrückt, pompös, raunend. Der Autor fasste das Buch zwar nie wieder an, aber behielt es immer in seinem Kanon. Es verkaufte sich recht gut, erlebte sogar während des Krieges eine Auflage und bot Jünger noch bis mindestens 1964 genügend Spielraum des Vagen, um eine Fantasie fortleben zu lassen, die nie einen realen Bezug nachweisen musste. Tatsächlich ist diese Schrift eher Fantasy als Prognose, eher Superheldencomic als Vision. Ungreifbar genug, um unangreifbar zu sein.

Im Vorfeld

Die totale Mobilmachung von 1930 bedeutete einen Umschwung in Jüngers politischem Schreiben. Er erweiterte den Rahmen, suchte nun jenseits des Abwehrkampfes gegen die als illegitim, feige und verrottet empfundene Bürgerwelt eine metaparteiliche Perspektive. Was es hochzuhalten galt, hob Jünger jetzt in eine unverletzliche Sphäre, verklärte es zum „geheimen Deutschland“ – auch, um das Heilige vor Vereinnahmung zu schützen, etwa durch die „Phraseologie“ der NSDAP. Die „totale Mobilmachung“ aller militärischen und zivilen Kräfte hatte keine greifbare nationalistische Kampfausrichtung mehr, die Heimat der Herzen war ab 1930 eine Idee. Auch der greifbare Gegner fehlte letztlich, da laut Jünger schlicht jedes darstellbare politische Phänomen den bürgerlichen Verfallsprozess offenbarte: „Alles, was Meinung ist, ist unbedenklich“. Das Maß des leerdrehenden Verschwörungsgeredes war längst beliebig dosierbar. In dem als unausweichlich dargestellten Untergangspanorama enthob Jünger das Höhere Deutschland diskret der Zerstörung, außerdem hatte er sich wenige Jahre vor 1933 von einer nationalistischen Zielsetzung verabschiedet, durchaus klammheimlich. Die Natur selbst sollte den Zusammenbruch bewirken.

Der Erfüller dieser Welt der reinigenden Härte war nun der „Arbeiter“, den Jünger zweieinhalb Jahre später vorstellte wie einen im Verborgenen entstandenen kommenden Supermenschen – den er allerdings nie aus der Werkshalle zu schieben brauchte. Er wurde nur angekündigt, als unbekannte, ja unkennbare „Gestalt“ umrissen und sollte weder in den Kategorien der Rechten oder der Linken vorhanden sein, die Jünger ebenfalls unter „bürgerlich“ einordnete. (Seine spezielle Dolchstoßlegende bestand zu dieser Zeit darin, den Matrosenaufstand von 1918 als bürgerlich gesteuert zu definieren, denn wahre Arbeiter und wahre Soldaten hätten das nie getan.) Er meinte an keiner Stelle mit seinem „Arbeiter“ einen bisher definierten Arbeiter, kokettierte allerdings mit dem, was seine Leserschaft in marxistischer oder nationalsozialistischer Terminologie längst vor sich sah. Den halben Text durchzieht eine mangelhafte Begriffstrennung. Jüngers Platonismus versucht normalerweise, hinter den Dingen eine Urform zu erspüren, aber seine „Gestalt des Arbeiters“ musste zunächst überhaupt gesehen werden, und, schwieriger noch, das bisher nicht gesehene Ding sollte sich, sofern es endlich gesehen wurde, höchstselbst definieren und der zermalmten Bürgerwelt dann mitteilen, was es sei. Das macht dieses Buch zu einer grotesken Fiktionsreflexion.

Das unterschwellige Motto des Jüngerschen Frühwerks, das mit dem Arbeiter endete, war: Was uns nicht abhärtet, bringt uns um. Der Hass auf das Laue, das Deutschland den Weltkrieg angeblich verlieren ließ, ob nun kaiserlich oder demokratisch oder ökonomisch, führte zur Prophezeiung, eine Naturgewalt werde das rotte Alte bald hinwegfegen. Jünger forderte die begeisterte Selbsteinbindung des erwachten Einzelnen in den reinigenden Untergangsprozess. Zu diesem Mahlstrom sollte es eine menschliche Entscheidung geben, ein Sich-Einschwingen. Aber wozu das Ja zu einer Nicht-Abstimmung? Wozu das abnickende Dabeisein? Schließlich sollte es dem Einzelnen im September 1932 nicht einmal taktische Vorteile einbringen, sich zur „Gestalt des Arbeiters“ zu bekennen. Ging es darum, den individuellen Schmerz des Chaos und der Gewalterscheinungen zu lindern?

Positiver Nihilismus

Das Jüngersche Walhall erschloss sich demjenigen, der sich der äußeren wie inneren Spannung aussetzte. „Die Gefallenen gingen, indem sie fielen, aus einer unvollkommenen in eine vollkommene Wirklichkeit, aus dem Deutschland der zeitlichen Erscheinung in das ewige Deutschland ein.“ Dieses „indem sie fielen“ zeigt die Bedeutung der Bewegung. Die Folgen des festgefahrenen Grabenkriegs, die Klagen über mangelnde Entschlusskraft gewannen nun religiösen Charakter. 1930 war in Jüngers Werk das unerreichte Ideal unerreichbar geworden, stillschweigend. Die todeswerte Idee brauchte im Leben keine Entsprechung, denn es kam auf das Sehen des „ewigen“ Deutschlands an – so, wie Jünger es im Arbeiter bezüglich der „Gestalt“ formulierte. Der Gegenstand all dieser vitalistischen Kraftrhetorik sollte gar nicht mehr greifbar sein. Nie mehr. Wie ein himmlisches Jerusalem. Jüngers Publizistik ab 1930 bedeutete die Abkehr von der Erfahrungswelt des Frontsoldaten, weg vom ‚Wir gegen die‘. Er bezog sich in der Endphase des Frühwerks auf etwas sich aktiv und schützend Entziehendes, das sein Wesen dann irgendwann selbst definieren sollte, unseren Kategorien fremd. Diese phänomenologische Anti-Definition hat Martin Heidegger intensiv beschäftigt – wobei er Jüngers Nietzsche-Rezeption und die philosophische Belastbarkeit der „Gestalt“-Idee ähnlich überschätzte, wie er 1933 der nationalsozialistischen Bewegung intellektuelle Tiefe zutraute.

Dadurch entfiel allerdings jeder Heroismus. Obwohl Jünger die „heroischen Züge“ seiner Idee und den „heroischen Realismus“ beschwörte, stünde der neue Mensch im „Zustand der Perfektion“  am Ende der Geschichte und hätte nichts zu tun. Zugespitzt: Der „Arbeiter“ hat keine Arbeit. Der Entzug des opferungswürdigen Dinges ins Metaphysische führte zu einer unmöglichen Metapher. Da Jünger es als sinnlos betrachtete, seiner Idee eine konkrete Figur zu geben, das wäre ja bürgerlich-traditionell, war dieser unausweichlich sich durchsetzenden „Gestalt“ auch keine heldenhafte Tat möglich. Denn es würde bereits getan sein. Der Großessay lebt von der Virtualität seines behaupteten Gegenstands.

Die Allmacht des ängstlichen (aber natürlich alles dominierenden) Bürgers und seiner „Zone der liberalistischen Antithetik“ schien allein durch die Gewissheit eines unter ihr bald aufspringenden Phantoms gebrochen werden zu können. Der Mensch sollte sich dem „Arbeiter“ opfern, seinem künftigen, immateriellen Körper, sofern er ihn denn sah. Jünger, der die Furcht und Feigheit des Bürgerlichen über unzählige Seiten hinweg ausbreitete, scheute jede Darstellung seines Avatars, als dürfe dessen Form wie der Name des altjüdischen Gottes nicht nach außen dringen. Sehr positiv ließ er „Ahasver“, den Ewigen Juden, als externen Beobachter seiner Szenerie auftreten, wie eine Instanz, und das wenige Monate vor der Machtübernahme der Antisemiten. Der Völkische Beobachter schäumte, Jünger nähere sich nun der „Sphäre der Kopfschüsse“.

Antidefinition und Zielgruppe

Wer oder was ist nun dieser „Arbeiter“? Kurz gesagt: eine erdgeschichtliche Lage, die in einer Astralkörperform nach oben steigt, eine dem Willigen erkennbare Durchdringung, ein zuinnerstes Heranrollen. Definiert wurde der passive Vollstrecker im Buch fast ausschließlich als Negativbild. Jünger meinte keinen „Stand“, keine „Klasse der Industriearbeiter“, keinen „Träger der Gesellschaft“, überhaupt keine Gruppe, keine „Insektenspezies“ und „keinen Maschinenmenschen“, nichts und niemand Erkennbares. Phantome, die „die Werkstättenlandschaft“ aber bald besetzen würden. Der neue Mensch siege durch seine „Andersartigkeit. Erst dann wird er sich als der wahre Todfeind der Gesellschaft enthüllen, wenn er es ablehnt, in ihren Formen zu denken, zu fühlen und zu sein.“ Der zentrale Gedanke: Erst im vollzogenen „Gestalt“-Sein beginne die Reflexion über das „Gestalt“-Sein selbst. Immaterielle Bilderwechsel, Filmschnitten ähnlich. Trotzdem war dieser Avatar menschlich ferngesteuert, er trug das hautenge Trikot des Unsichtbaren. Wozu brauchte Jünger überhaupt einen Besiedler seiner End-Szenerie? Ein kaum illustriertes, umrisshaftes Körpergespenst, das er begrüßte, aber ohnehin nicht herzeigte? Und wozu das Bejubeln des kommenden Hauptdarstellers? Der befremdende Effekt des Superheldencomics entsteht dadurch, dass Jünger eine Verkörperung dieser harten, dezisionistischen Zukunft zu benötigen meinte.

Die Prophezeiung einer vehementen Veränderung des Menschseins unter dem Aspekt der Technik war zu bekannt, hier ging es um das Un-Vorstellbare. Auch pessimistisch-abstrakte Entwicklungslinien würden zu sehr ans vertraut Bürgerliche erinnern, etwa an Oswald Spenglers Morphologie der Weltgeschichte. (Man stelle sich vor, eine heutige „Kritik an der Globalisierung“ präsentiere ein gesichtsloses Maskottchen dieses Prozesses.) Jünger wollte das intellektuelle Reflektieren verhindern, denn im „Zeitalter der bürgerlichen Scheinherrschaft“ treibe alles ins Mittelmaß. Keine Melancholie! Die dem Individuum nachfolgende „Gestalt“ dürfte auf nationalistische Leser vergleichsweise beruhigend gewirkt haben, da jeder Inhalt in diese noch inexistente Gussform passte, und Jünger vermied 1932 Gedanken an eine etwa internationale „Gestalten“schaft – das erfolgte viel später.

Sein Frühwerk bis zur Totalen Mobilmachung 1930 feierte den „Krieger“, der begeistert im Graben gekämpft hatte, beziehungsweise eine Jugend, die dieses Privileg vielleicht noch vor sich hatte. Der Arbeiter sollte die Kluft zwischen „Krieger“ und Bürger aufheben in dem Sinne, dass der Bürger – der definitionsgemäß keinesfalls „Krieger“ war, wenn er sich aus dem Kampfgraben weg-wünschte –, nun trotzdem die Chance erhielt, das kommende Wesen zu erspüren, es zu sehen, sich dazu zu entscheiden, sich zu verwandeln. Diese Rahmenvergrößerung 1932 holte den sich seiner Reflektierschuld endlich bewussten Bürger ins Boot.

Das war neu. Und durchaus versöhnend. Diese Beteiligung geschah durch die Hintertür. Jünger schloss niemanden mehr aus und griff niemanden mehr an – wie der „Arbeiter“ selbst. Bisher war es in Jüngers Welt nur für Kriegsbegeisterte möglich, sich dem Elitezirkel anzuschließen, Jünger beschrieb eine Gemeinschaft der „elementaren“ Erfahrung, sein Frühwerk richtete sich an bereits Frontgeprüfte oder zumindest -willige. Jetzt jedoch stand der Weg zum Elementaren jedem offen. Jüngers Wachstum bestand 1932 in einer Nach-vorne-Vision, zu der es lediglich einer Entscheidung bedurfte. Es „ist das unbekannte Reich, über dessen Existenz keine Verständigung nötig ist.“ Eine Entscheidung ins Nichts.

Zudem bedeutete die Herrschaft dieses Avatars ein Aufheben aller Dualismen, der „Arbeiter“ war eine monistische Phantasie, mit ihm verschwänden „alle jene vergiftenden Gegensätze“, die für Jünger das Bürgerliche und Ideologische ausmachten. KPD und NSDAP fasste er unter ahnungslose Vorstufen: „Alle diese Leute sind radikal, das heißt: langweilig“ und somit garantiert keine Träger des Endzustands der Geschichte. In dieser Konzeption war der „Arbeiter“ ein sich unbewusst durchsetzender neuer Mensch, der, wenn er denn bereits „der Träger eines neuen Staates“ wäre, „den Kampf auf Leben und Tod“ genau erst „in diesem Augenblicke erklärt“.

Bildlich gesprochen: Ist der Umbruch geschehen, erfolgt der aktive Angriff der „Gestalt“ auf das Überkommene, das dann definitionsgemäß ohnehin nicht mehr da wäre. In diesem absurden Kausalverständnis, in dieser Abfolge. Was Jünger in der letzten Phase des Frühwerks propagierte, trat nicht mehr an zum Kampf. Er verriet seine bisherige Welt und verdeckte das durch eine verstärkte rhetorische Anstrengung und pausenlose Alarmstimmung („Wir stehen im Gefecht“).

Wie in den Kriegsbüchern bis 1925 der Wille der Erde offenbar selbst Jüngers Gewehrabzug durchdrückte, sollte die Machtübernahme dieses neuen Menschen ohne dessen Aktivität stattfinden. Dieses Nichtsubjekt wäre zwar „der Herr seiner Mittel und Angriffswaffen“, was immer diese sein mögen, täte jedoch nichts damit. Der „Arbeiter“ ist nicht einmal ein stummer Golem, da er von keinem Auslöser, geschweige denn einem Meister geschaffen oder geweckt wird. Er hat weder Arbeit noch Kampf noch Körper.

Das Ja zum virulenten Unbewussten

Der neue Mensch sollte keinesfalls Kollektiv, sondern Einzelner, Individuum – Monade – sein. Im Gegensatz zum „Krieger“ kam dem „Arbeiter“ sofort Unsterblichkeit zu, da „der Mensch als Gestalt der Ewigkeit angehört.“ Von einer Unsterblichkeit des nicht-„gestalt“haften Menschen war keine Rede, der Autorpriester Jünger öffnete hier einen engen Kanal ins Heil. Seine Phantasie von 1932 war nirgends manifestiert, weder in Krankheit noch im Sterben, auch nicht in Sexualität. Dieser transzendental aufgeladene Seelenkörper war unverletzbar wie die Erde selbst. Für Jünger blieb er bildlich in dem Bereich angesiedelt, den der Bürger als Phantasie, Irrtum, Traum, Dummheit, Unmoral und Unsittlichkeit abtat. Was in dieser Stoßrichtung oft an Sigmund Freud erinnerte: die verdrängte und nun aufbrechende Grundierung der bürgerlichen Welt. Das Elementare sei „das Unvernünftige und damit das Unsittliche schlechthin.“ Die „Gestalt“ ging einher mit einer „Rückkehr der ungebrochenen Leidenschaften“, sollte aber etwas Nichtkörperliches sein, um sich bürgerlichen Kategorien zu entziehen. Man könne vor allem nicht von einer „Entwicklung“ sprechen, da „die Gestalt des Menschen vor der Geburt war und nach dem Tode sein wird“, die „Entwicklung kennt Anfang und Ende, Geburt und Tod, denen die Gestalt entzogen ist.“

Jünger wollte den Körper-Seele-Dualismus als Bürgergift vermeiden, aber dieser kehrte zurück in einer ästhetischen Wendung, die aus der Seele als einem körperlich umschlossenen Teil jetzt einen Astralkörper machte:

Es ist jedoch ein Irrtum, eine fremde Lehre, daß der sterbende Mensch seinen Körper verläßt, – seine Gestalt tritt vielmehr in eine neue Ordnung ein, der gegenüber jeder räumliche, zeitliche oder ursächliche Vergleich unzulässig ist. […] Es ist sehr wichtig, daß wir wieder zu einem vollkommenen Bewußtsein der Tatsache vordringen, daß der Leichnam nicht etwa der entseelte Körper ist. Zwischen dem Körper in der Sekunde des Todes und dem Leichnam in der darauf folgenden besteht nicht die mindeste Beziehung; dies deutet sich darin an, daß der Körper mehr als die Summe seiner Glieder umfaßt, während der Leichnam gleich der Summe seiner anatomischen Teile ist.

Im zivilen „Kampfgelände“ bliebe also eine bloß fleischliche Ausformung der eigentlichen Mensch-Idee liegen, nicht aber der Mensch selbst, insofern er sich zu der ihm ja ohnehin innewohnenden „Gestalt“ entschieden hatte. Wieder einmal: wozu überhaupt das Ja, wozu die Notwendigkeit der diffusen Neu-Verkörperung der kommenden Welt?

Es ging bei dem euphorischen Bekenntnis zu dem nebulösen Avatar tatsächlich um Nähe und seelische Erhöhung. Die versprochene Unsterblichkeit der „Gestalt“, die selbst dem jetzt vielleicht ablehnenden Bürger formell zugebilligt wird, meint noch keine bewusste Teilnahme, für die höhere Stufe wäre nämlich ein Bemühen nötig. Erst der willensbesessene Mensch näherte sich in der Ausrichtung aller seiner Anteile auf ein Ziel hin der unsterblichen Bewusstheit an. Die innere Spannung, das permanente „Bewußtsein einer kriegerischen Haltung“ wie in den Weltkriegs-Büchern, war hier maßgeblich für die Unsterblichkeitsphantasie. Daher die Wichtigkeit der Entscheidung zur ohnehin kommenden Form. In einer umfassenden Welt der unaufhörlichen Bewegung gelangte der Jüngerʼsche neue Mensch in die Zone der wachen Unsterblichkeit, wenn er sich selbst in diese Bewegung einschwang. „Der Einzelne wird von der Vernichtung ereilt in kostbaren Augenblicken, in denen er einem Höchstmaß von vitalen und geistigen Anforderungen untersteht. Seine Kampfkraft ist kein individueller, sondern ein funktionaler Wert; man fällt nicht mehr, sondern man fällt aus.“

Als unscharfe Konzeption war der „Arbeiter“ ebenso permanent in Bewegung begriffen wie der „Krieger“ im Angriffsrausch. Der „gestalt“-bewusste Mensch wurde im Tod aus seinem beschleunigten Leben herauskatapultiert auf eine abstraktere und wiederum inhaltsleere Stufe, nahm dabei jedoch weiter an der vitalistischen Beschleunigung teil. Jünger wollte implizieren, dass der Mensch durch das große Ja beim „Ausfallen“ einen besseren Platz in diesem speziellen Walhall erlangte. So konnte die Sphäre des Lebens gar nicht verlassen werden. Es ergab sich kein Bild eines kollektiven Überlebens. Das führte Jünger nicht aus, auch hier herrschte das anti-bürgerliche Bildnisverbot. Die eigentliche Jüngerʼsche Utopie war der immer spürbare Sinnzusammenhang innerhalb der Beschleunigung, und dieser bezeichnete auch das Jenseits im Frühwerk.

Es sollte nur zwei Alternativen geben, nämlich „die Gestalt des Arbeiters zu vertreten oder unterzugehen.“ Wo genau sah Jünger den Unterschied zwischen diesen Möglichkeiten? Die ohnehin unvermeidliche gleichbleibende „Gestalt“ garantierte die Unsterblichkeit – aber nicht die des Individuums. Die unausgesprochene Konzeption wäre also die, dass nur der euphorisch Bekennende in seiner ihm vertrauten Form weiterlebte. Die Grundphantasie dahinter war eine heidnische (was unter anderem Heidegger anzog), da immer der Einzelne in seinem höchst eigenen Willen zur unverletzlichen Innenform gesehen wurde, es gab keine kollektive, geschweige denn kirchenbildende Struktur.

„So ergibt sich das einzigartige, wahrhaft gespenstische Bild eines Sterbens im Raume der reinen Idee“. Der bei Jünger waltende Geist war ein unterweltlicher, zu dem man erst aktiv in Verbindung treten musste. Die noch stumme „Gestalt“ reflektierte nicht, sondern konnte nur aus der Perspektive des sie Erblickenden heraus wahrgenommen werden. Der Avatar zeigte sich auch in dieser Hinsicht ferngesteuert, mit dem Versprechen auf künftiges Eigenleben. Das Individuum, das „als sinnlos empfunden werden muß“, würde sich durch genau diesen freudigen Verzichts-Akt retten.

Bewerbungsverfahren

Was sollte Jüngers bürgerlichen Lesern konkret passieren, wenn sie sich nach Lektüre des Buches für ihre kommenden Astralkörper nicht recht begeistern mochten? Nichts. Der angeblich so schmerzhafte und gewaltige Übergang und seine Folgen wurden nie ausgemalt.

In Jüngers lustvoll vorhergesagtem „Dekompositionsprozeß“ bot die höchst individuelle Einschwingung die Seelenrettung, aber wie genau wurde der alte Mensch zu seinem innewohnenden neuen Menschen, wie gelang der gewollte „Eintritt in die organische Konstruktion“? Von der Möglichkeit einer „freiwilligen Unterwerfung unter die Gestalt des Arbeiters“ war die Rede. Der kaum definierbare Übergang stellte Jünger vor größte Schwierigkeiten. Fand Schmerz beim Verzicht auf das Individuelle statt? Es handelte sich bei dem langen Essay nicht um eine einfache Prophetie, sondern darum, dass dieses Bild nur in einer permanenten Hingabe an das Bild selbst bestehen blieb. Aber die menschliche Entscheidung dazu musste eine unintellektuelle, vitalistische, wortlose sein – das entsprach dem früheren, von Jünger ebenfalls nicht dargestellten Überwindungsprozess der Todesangst beim „Krieger“.

In Jüngers kurzer radikalrhetorischer TotaI-Phase, der Übertragung der kriegerischen Kampfgraben-Ideale auf die Zivilgesellschaft, konnte der Einzelne durch permanenten, sich hingebenden Entschluss unsterblich sein, und zwar sofort. Nirgendwo war von einem Lerneffekt oder einer möglicherweise noch zu gründenden esoterischen Schule die Rede, natürlich auch nicht von einem Kursus Arbeiter sein durch Arbeitersein. Jünger sparte mühsame Entwicklungen aus. Seine elementarisch gemeinte Welt war trotz aller Behauptungen eine statische ohne Übergänge, deren einzig beobachtbarer Prozess im Hingerafftwerden der alten Welt bestehen sollte, denn „zum Aussterben gezwungen“ war der Bürger ja nicht etwa durch den stummen Superhelden. Diesen Untergang und wie das Kommen der „Arbeiter“-Welt auszusehen hätten, wurden von Jünger nach Ausmalung des (schmerzlosen!) Verrottens ausgespart, ihn ließ er trotz detaillierter Diagnose des Verfallszustands in ein darstellerisches Nichts auslaufen. In den Kapiteln 36 bis 39 und 68 bis 74 des Essays, die ausdrücklich von der „Ablösung“ handeln sollten, ist keine Rede von Zeitdruck, nur von „großer Brutalität“, alles werde allgemein extremer, anarchischer und immer stärker beschleunigt, aber es kommt im Chaos zu keinem konkreten Angriff auf die Bürgerwelt. Das eine starb ab, das andere folgte erst dann wie eine mächtige Putzkolonne, und Jünger arbeitete durchaus geschickt damit, dass beide wesensfremden Sphären sich niemals begegnen mussten.

Weder musste der Bürger sein Sterben miterleben (abgesehen von einem diffusen Schmerz, einem Unbehagen in der Kultur), noch wurde der Schmerz des Einzelnen bei seinem Abschied vom alten Leben irgendwie beschrieben. Schmerz gibt es in diesem Essay nur als rhetorische Kategorie. Die neue Welt wurde nicht nur als „Revolution sans phrase“ dargestellt, sie hatte auch keinen Gegner, der gegen sie angetreten wäre. Jüngers „Krieger“ hätte Jüngers „Arbeiter“ verständnislos betrachtet.

Der Bürger, der dieses Buch las, hätte es gar nicht verstehen dürfen – ein meta-komischer Aspekt. Aber trotz all der Mühe, die in diesem Großessay steckte, konnte Jünger hier nicht weitermachen. Der Arbeiter war die Endmoräne seines Frühwerks. Jahrzehnte später wandte er sich dieser Halde noch einmal zu, nach den Erfahrungen von Faschismus, Zweitem Weltkrieg, Holocaust und Atombombe, und ließ dabei jede Art von Dynamik gleich weg.

Nachleben der „Gestalt“

Jünger schob diese Figur sehr schnell beiseite. Sein nächster wichtiger Essay, Über den Schmerz von 1934, erwähnt das Wort „Arbeiter“ nur fünf Mal, wie pflichtbewusst. Und in Maxima-Minima, den Adnoten zum „Arbeiter“, zuerst erschienen Anfang 1964, erreichte Jünger den vermutlich höchsten Stand des Nichtssagens im Gesamtwerk. „Das Ziel ist Erdvergeistigung.“ Ein Absatz zum Achselzucken folgt hier dem nächsten, manches ist bewusst so wirr gehalten, dass die Sätze nach Nostradamus-Visionen klingen. Viele Passagen könnten einer guten Jünger-Parodie entsprungen sein. Die Adnoten zum „Arbeiter“ sind eine Ansammlung meist zusammenhangloser Notizen zum Welt- und Erdgeschehen, scheinbar aufgeladen, letztlich ein Gerümpelraum. Ihm fiel zu seinem eigenen dicken Essay über dreißig Jahre später fast nichts ein, was Form hatte, und selbst wo er am Thema vage entlangglitt und ein paarmal wenige Schlüsselwörter von 1932 fallen ließ, sprang kaum eine klare Aussage heraus. Jünger gab in einem Brief vierzehn Jahre später zu, dass er sein eigenes Buch nie wieder gelesen hatte. Die etwa hundert Seiten boten nicht einmal den Versuch einer Verteidigung des Arbeiters. Leise verschämt klang an, die „Gestalt“ lasse ein bisschen länger auf sich warten, aber eindeutig hatte Jünger keinerlei Einbindung in eine veränderte Konzeption oder gar Rahmenvergrößerung im Sinn, im Gegenteil, das Messianische fehlte nun gänzlich, und der neue Mensch war kein historisches Subjekt mehr. Das allerdings war neu. Jünger reduzierte ihn auf Zeitstil und Akzidens: „Der Arbeiter kämpft und stirbt an Apparaturen, nicht nur ohne ‚höhere Ideen‘, sondern auch in ihrer bewußten Ablehnung. Sein Ethos liegt in der sauberen Bedienung des Apparats. Er hat sich keine Gedanken zu machen; er überblickt nicht den Plan.“ Das bedeutete – vermutlich ohne dass Jünger es wusste – einen gewaltigen Definitions-Rückschritt. Seine Figur des „Waldgängers“ beziehungsweise des „Anarchen“ von 1951 war ihm nun eindeutig näher. Dem „Arbeiter“ anno 1964 schrieb er eine ausführende Rolle zu, so, als könnte er ihn vom Ende her denken. Der Autor stellte sich jetzt, ganz im bürgerlichen Verständnis, über seine Fantasie, ging auf einen Stand von vor 1932 zurück. Jünger machte aus ihm eine internationale Folgeerscheinung – durchaus konsequent nach dem Buch Der Weltstaat von 1960. (Dort heißt es zum Beispiel in Verkehrung des Arbeiters: „Seiner Natur nach ist der sitzende oder stehende Mensch von einer stärkeren Aura der Willensfreiheit umgeben als der im Bewegten sich Bewegende.“) Der Hauptmann a.D. Jünger ließ die „Gestalt des Arbeiters“ nach dem Zweiten Weltkrieg einen ganz unsoldatischen Tod durch Kompostierung sterben – zugunsten einer größeren, noch vageren „erdgeschichtlichen“ Erhöhung. Maxima-Minima ist eine Grabplatte aus dicken Butzengläsern.