Geografische Irrtümer aus aller Welt

Auch in seinem neuen Buch bleibt Edward Brooke-Hitching seiner Neigung zu kurios-wissenswerten Phänomenen treu

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Liest man den Titel von Edward Brooke-Hitchings neustem Buch Atlas der erfundenen Orte, so kommt einem gleich der Inbegriff aller verschollenen Welten – Atlantis – in den Sinn. Die erste Erwähnung der Insel geht bereits auf Platon zurück, der sie in seinen im 4. Jahrhundert entstandenen Dialogen Timaios und Kritias als Idealstaat präsentiert. In den drauffolgenden Jahrhunderten fand sie Eingang in zahlreiche kartografische Werke und inspirierte viele Abenteurer und Entdecker, sich auf die Suche nach ihr zu begeben, um ihre Existenz zu beweisen. Brooke-Hitching geht in seinem Buch vor allem der Frage nach, wie sich derartige Orte so lange nicht nur in der Folklore, sondern auch im wissenschaftlichen und kartografischen Bereich halten konnten und was die Menschen an dem Phänomen der verschollenen Welten derart fasziniert, dass diese bisweilen trotz fehlender Beweise ihrer Existenz über Jahrhunderte in der Überlieferung Bestand haben.

Das mythische Inselreich Atlantis ist allerdings nur die Spitze eines Eisbergs, den Brooke-Hitching in seinem Atlas der erfundenen Orte offenbart. In insgesamt 58 kurzen und unterhaltsamen Beiträgen gibt er einen Abriss zu verschiedenen imaginären Orten, ihrer Herkunft, Geschichte und Rezeption. Zu Beginn jedes Artikels werden Angaben zu alternativen Namensnennungen sowie den vermuteten Koordinaten gemacht, die auf einer grau hinterlegten Weltkarte verzeichnet sind und so einen guten ersten Einstieg ermöglichen. Besonders gut gelungen sind darüber hinaus die zahlreichen farbigen Abbildungen, die zum Großteil Karten, aber auch Persönlichkeiten oder Landschaften zeigen. Einigen sehr großformatigen Karten wurde sogar eine Doppelseite zugestanden, die das Lesen der teilweise recht kleinen Beschriftungen erleichtert. Ein besonderer Höhepunkt ist der doppelseitige Abdruck der Carta Marina, der die Vielfalt der bunten, von Seeungeheuern nur so wimmelnden Karte deutlich macht. In dem dazugehörigen Beitrag, der mit zehn Seiten zu den längsten des Bandes gehört, werden zudem in kleinen Bildausschnitten einige der Seemonster vorgestellt. Neben einer Seeschlange, Walen und einem riesigen Hummer finden sich auch äußerst kuriose Einträge wie das vermutlich durch einen Narwal inspirierte Meeres-Einhorn, die tatsächlich als schwimmende Kuh dargestellte Seekuh oder der Insel-Wal, der sich mit seiner Kieselhaut als Insel tarnt und strandende Seefahrer auf den Grund des Meeres zieht. Positiv ist auch die sehr übersichtliche Seitengestaltung des Bandes, die trotz der vielen Bilder niemals überladen wirkt. Zur besseren Orientierung auf großen Karten wurde der jeweilige Ort häufig durch einen kleinen Bildausschnitt markiert und am Rand vergrößert. Das ermöglicht ein schnelles Auffinden der zum Teil recht kleinen Inseln, ohne das Gesamtbild zu vernachlässigen.

Anstelle der alphabetischen Sortierung der Einträge wäre eine thematische sinnvoller gewesen, damit Orte, die sich direkt aufeinander beziehen, hintereinander erscheinen und fortlaufend gelesen werden können. Zwar gibt es Verweise innerhalb der Texte, jedoch wäre eine thematische oder geografische Zuordnung besser. Ein Beispiel dafür sind die beiden getrennten Beiträge zu „Bradley Land“ und „Crocker Land“. Dort wird in zwei Artikeln die Geschichte von Frederick Albert Cook und Robert Edwin Peary erzählt, die Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten, den Nordpol zu erreichen, und auf ihrem Weg zwei Inseln (er)fanden. Die Erfindung von Bradley und Crocker Land geht laut Brooke-Hitching vermutlich auf eine Sinnestäuschung in der Arktis, den sogenannten „poo-jok“ – eine Art Nebel – zurück. Womöglich diente sie den beiden Entdeckern aber auch dazu, ihren Investoren den Aufenthalt am Nordpol zu bestätigen und damit den Geldaufwand zu rechtfertigen. Tatsächlich ist zu vermuten, dass weder Cook noch Peary jemals den Nordpol erreichten.

Besonders unterhaltsam ist auch die Geschichte des Franzosen George Psalmanazar, der die asiatische Insel Formosa erdichtete und sich als ihr erster Ureinwohner auf europäischem Boden inszenierte. Dabei erfand Psalmanazar, angelehnt an die Azteken und Inkas, eine ganze Kultur samt Kleidungsgewohnheiten der Ureinwohner, einer eigenen Schrift sowie speziellen Riten und Gebräuchen. In Europa hielt Psalmanazar Vorträge über seine fiktive Heimat und schrieb sogar ein Buch darüber. Erst nach seinem Tod wurde in seinen Memoiren das ganze Ausmaß des großen Schwindels deutlich.

Am häufigsten treten in dem Atlas als erfundene Orte Inseln in Erscheinung, vermutlich aufgrund ihrer Größe und der damit verbundenen schwierigen Auffindbarkeit. Darüber hinaus berichtet Brooke-Hitching aber auch von einem ganzen erfundenen Kontinent: der Terra Australis Incognita. Schon Aristoteles schrieb in seiner Meteorologica, dass es einen Südkontinent als Gegengewicht zur Landmasse in der nördlichen Hemisphäre geben müsse. Diese Vorstellung hielt sich in kartografischen Kreisen sehr lange, und erst durch die fortschreitenden Entdeckungen ab dem 17. Jahrhundert begann der legendäre Südkontinent allmählich immer mehr zu schrumpfen. Die Landmasse, die dem sagenhaften Südkontinent nun noch am nächsten kam, war „Neu-Holland“, das die Engländer schließlich zur Terra Australis erklärten und so dem heutigen Australien ihren Namen gaben.

Der Atlas der erfundenen Orte lässt den Leser in eine Welt eintauchen, „nicht wie sie jemals gewesen ist, sondern so, wie sie nach Ansicht der Kartographen sein sollte“. Sie führt dabei quer durch die Zeitgeschichte, von der Mappa Mundi des Mittelalters bis zu den Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Neben Kartografen lässt Brooke-Hitching verschiedene andere Zeitgenossen wie Philosophen, Wissenschaftler, Reisende, Schriftsteller oder Chronisten zu Wort kommen und verleiht so seinen Texten eine angenehme Lebendigkeit. Darüber hinaus liefert er nicht nur wissenswerte Fakten über die erfundenen Orte, sondern erzählt auch unterhaltsame Anekdoten zu den einzelnen Entdeckern und Kartografen. Zusammen mit der wunderschönen, farbigen Bebilderung ist das Buch somit sowohl zum Querlesen und Schmökern als auch zum Eintauchen in fantastische fremde Welten geeignet.

Titelbild

Edward Brooke-Hitching: Atlas der erfundenen Orte. Die größten Lügen und Irrtümer auf Landkarten.
Übersetzt aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff.
dtv Verlag, München 2017.
256 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281416

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