Mann über Bord

Tanguy Viels fünfter Roman „Selbstjustiz“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Französische Autorinnen und Autoren genießen hierzulande, und das ist auch in Jahren ohne Ehrengaststatus bei der Frankfurter Buchmesse so, sehr viel Aufmerksamkeit. Völlig zu Recht, da sie zahlreich sind, da sie originell sind, da sie der Literatur immer wieder Impulse geben, sie bereichern und weiterentwickeln. Das bezieht sich keineswegs nur auf die Großen wie Michel Houellebecq, Frédéric Beigbeder oder Pierre Lemaitre, oder auf die häufig Erwähnten wie Didier Eribon, Catherine Millet oder Virginie Despentes. Nein, die Literatur des Nachbarlandes hat mit Autorinnen und Autoren wie Tristan Garcia und Véronique Olmi, mit Véronique Bizot, der in diesem Jahr verstorbenen Emmanuèle Bernheim und dem wunderbaren Jean Echenoz eine Vielzahl hochkarätiger Erzählerinnen und Erzähler, die allesamt gut übersetzt werden und glücklicherweise ihre Leserinnen und Leser finden. Zu den Letztgenannten zählt auch der 1973 in Brest geborene Tanguy Viel, dessen deutscher Verlag Wagenbach seit 2007 bereits fünf Romane von ihm veröffentlicht hat, zuletzt Selbstjustiz.

Darin geht es um Martial Kermeur, einen Mann, der in seinem Leben in einer bretonischen Kleinstadt viel mitgemacht hat. Da ist einerseits die unglaubliche Geschichte von einem nicht abgegebenen Lotterieschein, der just an jenem Wochenende für das sprichwörtliche Riesenglück und einen Batzen Geld gesorgt hätte. Andererseits die ebenfalls verrückte Anekdote vom Jahrmarkt, als er mit seinem Sohn Erwan aus einer Riesenradkabine aussteigen wollte, sich an einer Stange festhielt und nicht bemerkte, dass das Fahrgerät bereits wieder Fahrt aufnahm, weshalb er hoch in die Lüfte getragen wurde und er sich schon sicher war, auf solch höchst unwürdige Weise aus dem Leben scheiden zu müssen. Doch all das ist nichts im Vergleich zu dem, was er mit Antoine Lazenec erlebt hat, der auf einmal auf der Halbinsel auftaucht, mit spitzen italienischen Schuhen und einem Porsche; ein Mann, wie man ihn in dieser Gegend noch nie gesehen hat und der ein Wort benutzt und in Umlauf bringt: Pläne. Mit Lazenec kommt Hoffnung in die 5000-Seelen-Gemeinde, will er doch das sogenannte Schloss kaufen, renovieren und ihm zu neuem Glanz verhelfen. Ja, der Mann hat Großes vor. Und das ist gut so, denn mit dem geschlossenen Marinestützpunkt ist einer der großen Arbeitgeber der Region weggefallen. Auch Martial Kermeur wurde mit 500.000 Francs abgefunden. Nachdem ihn seine Frau France verlassen hat und er mit Erwan in einem kleinen Häuschen neben dem Schloss lebt – er arbeitet dort mehr oder weniger als eine Art Verwalter –, träumt er von einem größeren Boot, da er gern auf dem Meer ist. Doch dieser Traum ist bald passé, denn auch er hat sich vom eleganten und allen kleinen Leuten den Kopf verdrehenden Rattenfänger einreden lassen, eine Wohnung in der neuen „Residenz Goldener Sand“ zu erwerben. Diese „Zukunft der Halbinsel“, so Lazenec, werde der ganzen Region zu Wohlstand verhelfen, die mageren Jahre seien vorbei.

Tanguy Viel hat mit Selbstjustiz – der Buchtitel deutet bereits in die Richtung, die die Handlung nehmen wird – einen eminent politischen Roman verfasst, ein Buch, das die Hoffnungslosigkeit in der Provinz aufgreift, das die Skrupellosigkeit von Hochstaplern und die Verzweiflung von Bürgermeistern und Stadträten thematisiert – das passt gut zu einer Meldung auf ZEIT ONLINE, in der es darum geht, dass in Brandenburg ein ganzes Dorf versteigert wurde. Außerdem mag man an die große Immobilienblase an der spanischen Ostküste denken, die bereits 2007 vom großartigen Rafael Chirbes in seinem Roman Krematorium beschrieben wurde. Der 168 Seiten umfassende Roman, der von großer Eleganz und sprachlichem Witz ist, ist in drei Teile gegliedert, denen ein Prolog vorangestellt ist, der einerseits Lazenecs Ende und Kermeurs Verhaftung zeigt, andererseits in einem beinahe metaphysischen Ton über die Natur und das Leben nachdenkt. Dann wird es konkreter: Kermeur sitzt dem Richter gegenüber, an einem einzigen Tag erzählt er ihm sein Leben. Reue empfindet er nicht, vielmehr bedauert er, dass die Entwicklungen bis hin zum Auftauchen Lazenecs seine politischen Grundüberzeugungen immer wieder ins Wanken gebracht haben, er immer wieder mit sich gerungen hat. Dass auch sein Sohn, um den er sich einige Jahre alleine gekümmert hat, Opfer des Angebers und dessen Plänen wurde, hat ihm sichtlich zugesetzt. Die Suada, das Räsonieren, das Berichten, auch das Abschweifen sind literarische Bestandteile in diesem Monolog eines Mannes, der aufrecht bleiben will. Tanguy Viel macht daraus ein Buch von enormer Vielseitigkeit, das bei aller Bitterkeit ein großer Lesegenuss ist. Auch wenn der Rezensent das französische Original nicht kennt, es ohnedies nicht angemessen beurteilen könnte, ist Selbstjustiz von Hinrich Schmidt-Henkel, der überhaupt alle Romane Tanguy Viels ins Deutsche gebracht hat, fraglos grandios und elegant übersetzt.

Titelbild

Tanguy Viel: Selbstjustiz. Roman.
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidth-Henkel.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.
176 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783803132901

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