Der ganze Stifter im Überblick
Christian Begemann und Davide Giuriato legen mit dem „Stifter-Handbuch“ ein Standardwerk vor
Von Nils Gelker
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAdalbert Stifter ist nicht unbedingt der beliebteste Kanonautor. Er gilt als Schriftsteller des Biedermeier, für viele noch immer eine Talsohle der deutschsprachigen Literaturgeschichte. ‚Talsohle‘ ist dabei das Stichwort, würden die Stifter-Skeptiker einwerfen, denn eine solche würde er nur allzu gern in unvergleichlicher epischer Breite beschreiben, inklusive einer genauen Darstellung verschiedener Gesteinsarten und Gräser, Flussverläufe und Bergrücken samt etwaiger blühender Blumen. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, und so ist es nachvollziehbar, dass manche ihre Stifter-Lektüre als unerträglich langweilig empfanden und empfinden. Andere hingegen halten Stifters Texte für „heimlich kühn“, um es mit dem gebetsmühlenartig wiederzitierten Worten Thomas Manns zu sagen, für erzählerische Experimente, die ihrer Zeit weit voraus waren. Dabei liegen Faszination und Irritation besonders bei Stifter sehr nah beieinander. In der Reihe Das erste Mal der FAZ (vom 5.8.2017) zum Beispiel hat Ernst Osterkamp dem besonders zähen Witiko-Roman diagnostiziert, dass das in unerschütterlicher Konsequenz durchexerzierte objektive Erzählen keinen Raum für eine Figur lasse, die als Mensch erkennbar sei. Die Darstellung ist breit, die Figuren aber platt. Das trifft den Nagel natürlich auf den Kopf. Der Befund mag aber nicht das nur Abstoßende, sondern auch gerade das Anziehende, das Einzigartige des Texts bezeichnen.
Über Stifter lässt sich insofern trefflich streiten, nicht aber darüber, dass er im deutschsprachigen Literaturkanon mittlerweile fest verankert ist. Und wer seinen Platz auf dem Parnass für längere Zeit behauptet hat, der bekommt von der Literaturwissenschaft zwar keinen Lorbeerkranz geflochten, wohl aber ein Handbuch geschrieben – deswegen werden die Exemplare dieser wissenschaftlichen Sondergattung besonders häufig mit den Worten ‚längst überfällig‘ vorgestellt. Und es stimmt: Die rund 90 Artikel, die von den Herausgebern Christian Begemann und Davide Giuriato versammelt wurden, zeigen eindrücklich, wie sehr ein solches Stifter-Handbuch überfällig war. 59 Beiträgerinnen und Beiträger, von denen sich die allermeisten bereits in der Stifter-Forschung hervorgetan haben, malen zusammen ein detailliertes und vor allem buntes Bild des Österreichers, das die kühnheitsbewundernden und chronisch gelangweilten Formschneider verstummen lässt. Denn das hehre Ziel, „Stifters Werk in all seinen Dimensionen“ darzustellen, wird nicht verfehlt. Der Erzähler und Romancier, der (Haus-)Lehrer und Schulrat, der Landschaftsmaler und Denkmalpfleger, der Politiker und Zeuge turbulenter Zeiten wird auf knapp 400 Seiten umfassend dargestellt.
Geboten wird eigentlich alles, was sich erfahrene und angehende Stifter-Leser wünschen können. Zum Beispiel eine überraschend ausführliche Biografie von Peter Becher, die „Stifters Leben im historischen Kontext“ verortet. Stifter, der Dichter des sanften Gesetzes, der Privatlehrer des ältesten Sohns Metternichs (!), wird darin zum „Beinaherevolutionär“ – das ist so prägnant wie pikant.
Das eigentliche Herz des Handbuchs besteht freilich in der Darstellung der Werke Stifters. Nichts wird ausgelassen, jede Erzählung, die Romane, die ästhetischen und die amtlichen Schriften, die Briefe, Autobiografisches – alles wird kurz und prägnant wiedergegeben und in historische oder ästhetische Kontexte eingeordnet. Der Überblick führt Schlag auf Schlag vor Augen, wie heterogen allein Stifters literarische Arbeiten sind: Die deutlichen Verweise auf romantische Vorbilder (im Condor) stehen neben idyllischen Künstlergeschichten mit märchenhaft-kitschigem Happy End (die erste Version des Haidedorfs). Den kalten Fügungen von Ursache und Wirkung fallen Töchter und treue Hunde mit betäubender Brutalität zum Opfer (Abdias), während in der Gefangenschaft entstellte Mädchen unter dem Banner des Altruismus in die allzu gutbürgerliche Normalität zurückgeführt werden (Turmalin). Wer sich zu einer Stifter-Lektüre inspirieren lassen will, ist nirgendwo besser aufgehoben.
Einheitlicher als das erzählerische Werk nehmen sich übrigens Stifters Gemälde und Zeichnungen aus, bei denen es sich größtenteils um Landschaftsbilder handelt – manche zierten in den letzten Jahren die Covers der Textausgaben. So umfassend wie die Darstellungen der erzählenden Texte kann Karl Möseneders Artikel zum bildkünstlerischen Werk natürlich nicht ausfallen, er unterstreicht aber den Anspruch, den ‚ganzen‘ Stifter sichtbar zu machen, nicht nur den Schriftsteller. Immerhin ein Dutzend Gemälde wird direkt abgedruckt und besprochen, wobei die halbseitigen Bilder von glänzendem Papier noch profitiert hätten. Sie sind aber auch so schön zu studieren – der Schwerpunkt des Handbuchs liegt hier ohnehin nicht.
Neben den literarischen Texten nehmen die in zwei separaten Kapiteln behandelten „Wissenshorizonte“ und „Problemfelder“ eine zentrale Rolle im Handbuch ein und machen entsprechend rund ein Viertel des Inhalts aus. Schlaglichtartig beleuchten die insgesamt 25 Artikel textübergreifende Aspekte des Stifterʼschen (hauptsächlich literarischen) Werks. Dazu gehören beispielweise so grundlegende Themen wie „Pädagogik“ und „Naturkonzepte“, aber auch eher überraschende Einträge etwa zu „Geometrie“. Die Herausgeber versuchen explizit, „die bisherige Forschung auch zu erweitern“. Es stellt sich die Frage, ob solche Forschungserweiterungen über naturgemäß stärker rezipierte und daher sehr einflussreiche Handbuchartikel vorgenommen werden sollten. Wie auch immer man diese Frage beantworten möchte, an der Qualität des hier beispielhaft angeführten Artikels von Syliva Gschwend ändert das ausdrücklich nichts. Ohnehin überzeugen diese „Querschnitte“, wie sie von den Herausgebern bezeichnet werden, für sich genommen uneingeschränkt und leisten gleichzeitig einen Überblick besonders über die neuere Forschung zu Stifter. Bei der großen Anzahl der Artikel und der damit einhergehenden Kleinstdifferenzierung der Themen kommt es aber auch zwangsläufig zu Wiederholungen. So hätte es in Anbetracht fast absatzweiser Redundanzen vielleicht nicht unbedingt sowohl eines Artikels über „Wiederholung/Variation/Transformation“ als auch zusätzlich zum „Ritual“ bedurft. Zugute kommen diese Doppelungen freilich den üblichen Handbuchnutzern, die nur einzelne Artikel lesen.
Gerade diese Leserinnen und Leser werden sich aber an der uneinheitlichen Verfasstheit einzelner Artikel stören, die eine Orientierung unnötig erschwert. Besonders ärgerlich ist das einerseits, da dieselbe Kritik bei ähnlichen Handbüchern wiederholt vorgebracht wurde (zum Beispiel beim Kleist-Handbuch), andererseits aber auch, weil dadurch wichtige Informationen zum Teil verloren gehen. Das betrifft vor allem die Rezeption einzelner Erzählungen Stifters, zu denen sich nicht immer Informationen in den betreffenden Artikeln und auch nicht im allgemeinen (im Übrigen aber konzisen) Kapitel zur „Rezeption und Wirkung“ finden.
Klar ist aber auch: Das perfekte Handbuch gibt es nicht. Zu verschieden sind die Erwartungen, mit denen es konfrontiert wird. Was es an Kleinigkeiten am Stifter-Handbuch zu monieren gibt, ist insgesamt nichtig in Anbetracht der enormen wissenschaftlichen Kollektivleistung, die hier erbracht wurde. Nicht weniger wurde geschaffen als der neue Anlaufpunkt für jede mit einigem Ernst betriebene Auseinandersetzung mit Stifter. Forschende greifen zu diesem Buch, wenn sie sich einen Überblick zur Literatur über den Nachsommer verschaffen wollen, interessierte Leserinnen und Leser stöbern nach Informationen zu einer Weihnachtsgeschichte, an die sie sich nur dunkel erinnern (es ist der Bergkristall), und Studierende rekapitulieren die Inhaltsangaben zu den Nachkommenschaften am Tag vor der mündlichen Prüfung. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Begemann und Giuriato – und die zahlreichen Beiträgerinnen und Beiträger – ein Standardwerk vorgelegt haben. Wer sich gern über Stifter streitet, wird es zur Kenntnis nehmen – und nebenbei auf eine erschwinglichere Taschenbuchausgabe für zu Hause hoffen.
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