Der Kairos von Leben und Tod
Zu Thomas Machos Fortschreibung der Todesmetaphern
Von Lukas Pallitsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Wiener Kulturwissenschaftler Thomas Macho erzählt in seinem 500-seitigen Buch Das Leben nehmen die in der Moderne in Gang gesetzte Umwertung des Suizids. Für die chronologisch angelegte Untersuchung schreitet der Enzyklopädist der Kulturgeschichte unterschiedlichste Schauplätze ab.
Bemerkenswert ist, dass Macho den ‚Fall Judas‘ als einen der prominentesten und wohl wirkmächtigsten religiösen Suizide, der gleichsam als Urbild der christlich-jüdischen Feindschaft fungiert, nur am Rande thematisiert; lässt sich doch an Judas ein zentraler Impuls des Buches exemplarisch skizzieren. Die christliche Tradition sah in ihm über Jahrhunderte – und im Grunde bis in die Gegenwart – eine Negativfolie par excellence. So nimmt es kaum Wunder, dass die Tat eine religiöse Geschichte des Inkriminierens nach sich gezogen hat und selbst der Eigenname in allen Sprachen negativ konnotiert ist. Einzig der ursprünglich hebräische Name Yehuda ist frei von solch pejorativen Zuschreibungen. Vor wenigen Jahren hat Amos Oz in seinem Roman Judas die Figur in ihrer tragischen Rolle als einen, der Jesus liebte und in seiner Hingabe bis an die Grenze ging, dargestellt: Judas als Träumer, der sich selbst suizidierte, weil er durch den Kreuzestod einen erlösenden Kairos erhoffte und dieser nicht eintrat?
Wie der Romancier Amos Oz schreibt auch Thomas Macho entschieden gegen eine Moralisierung des Suizids an. Auch sprachlich entscheidet sich Macho in einer sensibel begründeten Terminologie gegen den abwertenden „Selbstmord“, der eine schuldhafte Handlung impliziert, aber auch gegen den allzu kalmierenden „Freitod“ für den Gebrauch von „Suizid“, der auch im Untertitel des Buches Suizid in der Moderne mitschwingt. Obwohl die enzyklopädisch angelegte Kulturgeschichte verschiedenste Orte, Topoi, Künste und Schauplätze kreuzt und dabei die Zeit in der Moderne fokussiert, finden sich immer wieder Verweise zurück in die Antike. Prägnant dafür ist die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen „suizidfaszinierten“ und „suizidkritischen Epochen und Kulturen“. Zu letzteren zählt etwa die von klerikalem Verständnis dominierte mittelalterliche Epoche, in der Suizide moralisiert, tabuisiert und unter das Verdikt der Sünde gestellt wurden. Demgegenüber begegnet man dem Akteur in suizidfaszinierten Kulturen mit Respekt, der mithin bis zur Bewunderung reicht.
„So erscheint der Selbstmord als die Quintessenz der Moderne“. Dieses Benjamin-Zitat wählt Macho nicht nur als Motto des ersten Buchkapitels, er erweitert es, indem er gleichsam leitwortartig in beinahe jedem Kapitel wiederholt, dass die Suizidfaszination zu einem „zentralen Leitmotiv der Moderne“ avancierte. Diese eingängige These – es ist eine der wenigen Thesen des Buches, weil der Autor ansonsten exemplarisch vorgeht und sich mit Wertungen bedächtig zurückhält – buchstabiert Macho bis weit in die Gegenwart hinein in Philosophie, Psychologie, Fotografie und Film aus.
Wollte man einzelne der zahllosen Fallgeschichten aufgreifen, so setzt man sich unweigerlich der Gefahr aus, in den labyrinthartigen Garten der Suizidgeschichte zu geraten. Denn die Beispiele, Orte und Todesarten, die sich auf diverse kulturelle Felder erstrecken, sind unüberschaubar. Daher ist lediglich der Einsatzpunkt der suizidfaszinierten Moderne in ihrer facettenreichen Chronologie zu nennen und auf das offene Ende zu verweisen. 1751, als Friedrich II. in Preußen die Suizidstrafe aufhob, markiert Macho als Urszene. Sukzessive entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine Faszination für den Selbsttod, die 1774 durch das anonymisierte Erscheinen von Goethes Die Leiden des jungen Werthers einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Aufgrund dieses Briefromans, der mit dem Todesschuss Werthers endet, sah sich Goethe angesichts der überbordenden Zahl an Nachahmungen rasch dem Vorwurf ausgesetzt, eine regelrechte „Werther-Seuche“ initiiert zu haben. Der Romanschluss musste umgeschrieben werden, um weitere Suizidwellen zu unterwandern.
Ausgehend vom „Werther-Effekt“ begibt sich Macho auf eine chronologische Spur und untersucht zahllose Suizide bis in die Gegenwart, wie sie auf den unterschiedlichsten realen und filmischen Schauplätzen verarbeitet wurden. In den Blick nimmt er aber auch politische – nämlich unterschiedliche Verbrennungssuizide, die zum Prager oder Arabischen Frühling führten –, terroristische – etwa bekannte Attentate wie jenes auf das World Trade Center – und schulische Suizide. Gerade hier, wie auch bei „Omiziden“, einer Sich-Selbst-Tötung der Menschheit, wäre von Interesse, ob sich die Praktiken solcher Suizide nicht durchkreuzen ließen. Diese Frage wird allerdings hinter die zahllosen, gewiss spannenden, Fallgeschichten zurückgedrängt. Warum? Entgegen starken Psychologisierungen oder Pathologisierungen zielt Macho vielmehr darauf ab, den Suizid zunächst positiv als einzig übriggebliebene Grenzbestimmung zwischen Mensch und Tier einzuführen, „die als singulär menschlich behauptet werden darf“. Ausgelassen werden in der Studie die Negativbestimmungen des Suizids, wie sie etwa Thomas von Aquin in seiner Summa theologica sowohl individual- als auch sozialethisch und theologisch als Zeichen der Schwächung gebrandmarkt hat. Dieses Sigel hat gleichfalls bis in die Postmoderne hinein einen bleibenden Eindruck hinterlassen; praktisch hat sich dies vielerorts in der Begräbnisverweigerung bis heute gehalten. Es hätte der Studie gedient, diesen Aspekt nicht nur in seinem Nahverhältnis zum Martyrium zu diskutieren, sondern auch philosophisch – beispielsweise bei Platon, Augustinus, Thomas von Aquin und anderen – dezidierter herauszuarbeiten, um den skizzierten Wandel von der Sündhaftigkeit zur Krankheit und schließlich zum Freiheitsakt in der Moderne stärker zu prononcieren.
Auf dem Weg zur Entmoralisierung, Entkriminalisierung und Entdramatisierung folgt Macho in einem entscheidenden Schritt Michel Foucault in dessen begrifflicher Zuschreibung als „Selbsttechnik“, mit der sich die Überzeugung verbindet, das eigene Ich als Projekt in die Hand zu nehmen. Vielleicht klingt hier entfernt ein entscheidender Name an, der im Buch etwas zu kurz kommt, dem es allerdings entscheidende Formulierungen verdankt: Der wörtlich griffige Buchtitel Hand an sich legen von Jean Améry wirft ein Echo auf die zentralen Formulierungen Machos wie „das Leben ergreifen“ oder selbst im Buchtitel „Das Leben nehmen“.
Wenn im vorletzten Kapitel Brücken als „überzeugende Todesmetaphern“ beschrieben werden, klingt Machos Frühwerk an und er dürfte mit dieser Studie ein langwährendes Projekt zur Logik einer Schwellen- und Grenzerfahrung zu Ende gebracht haben, wenngleich er die Rede vom Tod damit nochmals richtig anstößt. Um abschließend die zentrale Frage des Buches aufzugreifen: „Wem gehört mein Leben?“ – auch die zuständigen Instanzen Gott, Nation und Eltern wechselten im Laufe der Menschheitsgeschichte. In Anlehnung an Hans Falladas Buchtitel Jeder stirbt für sich allein lässt sich in diesem Buch ein Suizidfaszinosum entdecken, das darauf angelegt ist, Leben und Tod als Ausdruck der Freiheit in die Hand zu nehmen. Schließlich nistet Macho dem Buch im Schatten von John Locke, Jean-Paul Sartre und Michel Foucault den faszinierenden Gedanken ein, demzufolge die Kunst dieser Arbeit wäre, den eigenen Tod zur rechten Zeit zu wählen. Vielleicht auch, diesen nicht zu verpassen.
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