Die Schurkin

Nnedi Okorafor erzählt in ihrem Roman „Das Buch des Phönix“ von einer innerlich zerrissenen Heldin

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Man muss die Zeit anhalten, um einer Geschichte zuhören zu können. Die Erzählerin lässt sie dann wieder fließen.“ Das sagt eine, die es wissen muss. Ihr Name ist Phönix und sie selbst ist eine Erzählerin. Die Geschichte, die sie erzählt, ist ihre eigene. Erdacht wurden beide – die Geschichte und ihre Erzählerin – aber von einer anderen, nämlich von Nnedi Okorafor, der Autorin des Romans Das Buch des Phönix. Sie lässt ihre titelstiftende Protagonistin nicht nur Überlegungen über sich selbst und ihre Geschichte anstellen, sondern auch einige literatur- und rezeptionstheoretische Reflexionen, wozu die Titelheldin auf einen Aufsatz von Roland Barthes rekurriert. Dass Phönix sich auch in der Literaturgeschichte gut auskennt, stellt sie unter Beweis, indem sie die berühmte Zeile „Things fall apart“ aus William Butler Yeats’ Gedicht The Second Coming zitiert. Den unausgesprochenen Bezug zu dem noch berühmteren Roman von Chinua Achebe, der ebendiese Zeile im Titel trägt, liegt im Grunde weit näher. Aber natürlich haben ihn LeserInnen, die sich für afrikanische Literatur auch nur oberflächlich interessieren, sofort im Kopf. Und das dürften im Falle des vorliegenden Buches so ziemlich alle sein. Schließlich ist Okorafor nicht nur eine Afroamerikanerin mit nigerianischen Wurzeln, sondern eine der herausragendsten VertreterInnen des Afrofuturismus.

Der Titel der deutschen Ausgabe des vorliegenden Romans müsste eigentlich richtigerweise Das Buch der Phönix lauten. Denn die Protagonistin und Ich-Erzählerin Phönix ist schließlich eine Frau und kein Mann. Aber irgendjemand im Verlag hat wohl geglaubt, der Titel der Originalausgabe The Book of Phoenix müsste unbedingt in maskuliner Form übersetzt werden. Auch im Roman selbst werden gelegentlich die Beschränktheiten der deutschen Sprache deutlich, die anders als das Englische herkömmlicherweise stets das Geschlecht von Personen kenntlich macht oder aber das generische Maskulinum benutzt. Etwa, wenn die Erzählerin bekennt, sie glaube zwar nicht an Gott, wohl aber an den „Autor aller Dinge“. Dabei handelt es sich bei diesem Autor sehr wahrscheinlich um eine Autorin, und womöglich ist es sogar Okorafor höchstpersönlich. Humor genug hätte sie jedenfalls für eine solche Selbstreferenz.

Mögen die Reflexionen und intertextuellen Bezüge des Romans auch recht amüsant sein, spannender ist doch die Geschichte selbst, die im Wesentlichen von einem Rachefeldzug erzählt. Interessanter wiederum als die Geschehnisse sind die komplexen Charaktere, die das Buch bevölkern. Allen voran die Titelheldin, aber auch eine mysteriöse und übermächtige Vaterfigur, die „unberechenbar, geheimnisvoll und nur selten da“ ist, dann aber mit Verve auftritt. Aber auch zwei Mitstreiter von Phönix sind differenziert und vielschichtig gezeichnet.  Mmuo, der durch Materie gehen kann und Saaed, in den sie sich verliebt. Ihre GegnerInnen bleiben hingegen meist ausgesprochen blass. Einzig Bumi, eine Nigerianerin, die amerikanische Staatsbürgerin werden möchte und darum zu den „loyalsten Mitarbeitern“ der „Großaugen“ zählt, wird, wenn auch nur indirekt, etwas näher charakterisiert. Sie ist eine der WärterInnen, die Phönix in Turm Sieben des LifeGen-Konzerns bewachen.

Eingebettet ist die Geschichte in eine am Horn von Afrika angesiedelte Rahmenhandlung, in der ein Mann auf der Flucht vor einem Sandsturm in einer Höhle Zuflucht findet, in der er Unmengen uralter Computer, Notebooks und dergleichen entdeckt. Auf einem von ihnen findet er eine Audio-Datei mit dem geheimnisvollen Titel Das Buch des Phönix. Um sich die Zeit zu vertreiben und damit er seiner Frau bei der Rückkehr etwas zu erzählen hat, öffnet er sie und hört sie sich an.

Geschichte und Rahmenhandlung sind im gleichen Handlungsuniversum angesiedelt wie Okorafors zuvor erschienener Roman Wer fürchtet den Tod, spielen aber nicht wie dieser und auch Okorafors Roman Lagune ausschließlich in Afrika, sondern auch und vor allem in den USA, von wo aus die Protagonistin die Westküste Afrikas erreicht und schließlich bis zum Horn von Afrika und wieder zurück in die USA gelangt. Zudem liegt die Handlung etliche Jahrhunderte vor derjenigen in der Onyesonwu, die Titelheldin aus Wer fürchtet den Tod, lebt, kämpft und stirbt. Vielleicht liegt zwischen den beiden Protagonistinnen auch ein Zeitraum von einigen Jahrtausenden, wer will das schon so genau sagen? Jedenfalls lebt Phönix zu einer Zeit, die nicht allzu weit von der unseren entfernt zu sein scheint. SchriftstellerInnen des 20. Jahrhunderts wie der erste afrikanische Literaturnobelpreisträger Wole Soynka werden zwar als AutorInnen „längst vergangener Zeiten“ gewürdigt. Und mit dem Sänger alter Lieder Fela Kati ist vermutlich der 1997 verstorbene Pionier des Afrobeat Fela Kuti aus Nigeria gemeint. Für die Datierung aufschlussreicher ist aber, dass auch von dem in der realen Welt 1938 geborenen „UN-Diplomaten“ Kofi Atta Annan die Rede ist, der in der fiktiven des Romans „vor über einem Jahrhundert die Aufstände in Nigeria und Ghana angeführt“ hat. Die Handlungszeit dürfte also nicht allzu weit, aber doch immerhin ein- oder zweihundert Jahre in der Zukunft angesiedelt sein. Andererseits fahren noch immer mit Benzin oder Diesel betriebene Autos durch die Gegend und „kotzen Wolken aus Abgasen aus“, was ja für das 22. Jahrhundert eher unwahrscheinlich ist. Aber dafür spielt die Handlung schließlich auch in einem Alternativuniversum.

Anders als die Verkehrsmittel hat die Gentechnologie immense Fortschritte gemacht und es werden allerlei Mutanten und Mensch-Tier-Hybride gezüchtet. Eine von ihnen ist die Protagonistin Phönix mit ihrem sprechenden Namen. Wie auch die meisten anderen zentralen Charaktere wurde sie von dem mächtigen Konzern LifeGen Technologies „zusammengemischt, großgezogen und schließlich geboren“. Denn LifeGen schafft „Exemplare“ genannte gentechnisch gezüchtete Superwesen, die zumeist als Waffen oder Organlager eingesetzt werden sollen. Das Blut einiger dieser Wesen ermöglicht es zudem einer Hand voll MilliardärInnen, unsterblich zu werden. Fast alle der von LifeGen „erschaffenen, manipulierten, verbesserten, deformierten, verkrüppelten Menschen“ stammen „aus unterschiedlichen Teilen Afrikas“. Natürlich fragt sich Phönix, warum das so ist. In der mutmaßlichen Antwort auf diese Frage liegt denn auch der Grund, warum sie nicht auf einem Schiff in die USA zurückkehren möchte.

Phönix wurde zwar erst vor zwei Jahren geschaffen, doch ist sie in dieser kurzen Zeit zur 40-jährigen Frau herangereift. Dann haben ihre KreatorInnen den Alterungsprozess gestoppt und nun sie ist quasi unsterblich. In ihrem kurzen, zweijährigen Leben hat sie bereits 35.000 Bücher gelesen. Darunter auch die Bibel, den Koran und andere religiöse Grundlagenschriften, aber gerne auch mal Liebesgeschichten. Da sie von ungemein schneller Auffassungsgabe ist, brauchte sie die Bücher nur zu überfliegen, um sich ihren Inhalt anzueignen. Allerdings scheint sie bei der Lektüre nicht immer sehr aufmerksam gewesen zu sein, spricht sie doch vom „tückischen Apfel des Wissens“, den Eva Adam gegeben habe. Dabei ist in der Bibel nie von einem Apfel die Rede, sondern nur allgemein von einer Frucht. Aber vielleicht hat sie die Interpretation der Frucht als Apfel auch aus einem der zahlreichen anderen überflogenen Büchern übernommen. Bedauerlicherweise verschenkt Okorafor das Spannungsverhältnis weitgehend, das sich aus dem immensen Wissen der Figur und ihrer mangelnden (Lebens-)Erfahrung ergibt. Hingegen wird die innere Zerrissenheit von Phönix, die sich selbst als Schurkin sieht, immer wieder deutlich.

Als Waffe gedacht, legt sie bei ihrer Flucht aus dem gefängnisartigen Laborturm, in dem sie mit etlichen anderen denkbar unterschiedlichen Wesen mit jeweils ganz besonderen Fähigkeiten lebte, zunächst einmal das ganze Gebäude in Schutt und Asche. Viele der WissenschaftlerInnen und WächterInnen, aber auch sie selbst, kommen dabei ums Leben. Phönix aber steigt – ihrem Namen alle Ehre gebend – aus ihrer Asche wieder auf. Was ihr die „unangenehmste Frage“ beschert, nämlich die zu ihrer Identität nach einer Wiederauferstehung: „Wenn ich noch ich war, war ich dann noch ich?“ Ihre übermenschlichen Kräfte sind für andere allerdings nicht nur tödlich, sondern können auch lebensspendend sein. Pflanzen etwa lässt das von ihr ausgehende Licht mit geradezu unvorstellbarer Geschwindigkeit gedeihen. Auch besitzt sie die Fähigkeit, durch Raum und Zeit zu „rutschen“. Diese Reisen beschränken sich allerdings offenbar auf recht kleine (Zeit-)Räume. Zudem kann sie nur zu Orten rutschen, die sie sich vorstellen kann.

Um ihren Rachefeldzug gegen die „Großaugen“ von LifeGen führen zu können, zieht Phönix vorübergehend eine „dicke, schwarze und raue“ Burka über, sodass das Wesen mit den wunderbaren Flügeln nun den Anschein „einer verschleierten Buckligen“ erweckt. Merkwürdigerweise verliebt sich gleich eine ganze Reihe von Männern in das Gesicht der Burkaträgerin. Merkwürdig ist das, weil eine Burka nicht nur die Schwingen eines geflügelten Wesens bedeckt, sondern auch das Gesicht einer Frau. Aber vielleicht sind die Burkas in dem Alternativuniversum ja auch anders gestrickt. Dass eine Burka aber auch dort nicht eben befreiend wirkt, macht Okorafor deutlich, indem sie ihre Protagonistin eingestehen lässt, dass sie sich die Burka einmal „am liebsten“ vom Leib reißen würde, „damit die Brise meine Flügel umschmeicheln konnte“. Doch stattdessen geht sie „unterwürfig hinter Saeed her“. Schließlich befreit sich Phönix dann aber doch ein für alle Mal von der sackähnlichen Verhüllung.

Wie stets bei Okorafor durchdringen Wissenschaft und Mythen einander auch in diesem Roman. So fußt die Technik von LifeGen auf den Zellen eines Cervixtumors, der eine potenziell unsterbliche Zelllinie entwickelte. Diese tatsächlich existierenden HeLa-Zellen wurden der 1951 verstorbenen Krebspatientin Henrietta Lacks entnommen und in Anlehnung an ihren Namen benannt. Okorafor gewährt der unglücklichen Afroamerikanerin sogar einen kurzen Auftritt in dem Roman.

Wie schon der Titel ahnen lässt, spielen mythische Vorstellung ungeachtet des wissenschaftlichen Fundaments in dem wahrhaft phantastischen Roman eine größere Rolle. Und selbst da, wo das nicht der Fall ist, scheinen sie immer wieder durch. So ist etwa die in zahlreichen Religionen und Kulturen eine Sonderstellung einnehmende Zahl Sieben fast allgegenwärtig. Phönix wird in Turm Sieben gefangen gehalten, der geflügelte Mann, der sich als ihr Vater ausgibt, nennt sich Sieben und es gibt sieben unsterbliche MilliardärInnen. Diejenigen unter den LeserInnen, die Wer fürchtet den Tod kennen, dürfen sich außerdem darüber freuen, etwas über die Entstehung des „Großen Buches“ und seiner Mythologie zu erfahren.

„Manchmal“,  sinniert die Protagonistin als Erzählerin, „werden aus Geschichten Probleme“. Das wird die von ihr erzählte Geschichte nicht. Jedenfalls nicht für die LeserInnen. Die können sich einfach gut unterhalten lassen. Und noch eins: „Keine Geschichte endet je ganz.“ Sie lebt und wirkt in den Köpfen und Herzen ihrer LeserInnen fort.

Titelbild

Nnedi Okorafor: Das Buch des Phönix.
Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Kern.
Cross Cult Verlag, Asperg 2017.
328 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783959814935

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