Auffällig unauffällig

Über Jörn Ahrens’ „‚Die unfassbare Tat‘. Gesellschaft und Amok“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lörrach, am 19. September 2010: Eine 41-jährige Rechtsanwältin erschießt erst ihren Mann, dann erstickt sie ihren Sohn; anschließend legt sie ein Feuer in ihrer Wohnung. Bewaffnet mit einem Messer und einer Pistole rennt die Frau danach über die Straße in das gegenüberliegende Krankenhaus, wo sie um sich schießt. Bis die Anwältin von einem Polizisten erschossen wird, stirbt noch ein Krankenpfleger, 18 Personen werden verletzt.

Für die Medien ein verwirrender Fall – denn er widerspricht dem gängigen Skript eines Amoklaufs. Neu ist vor allem, dass hier eine Frau wild um sich schießt. Aber auch dass die Tat in der eigenen Wohnung beginnt, ist ungewöhnlich, ebenso dass zuerst Angehörige zu Opfern werden. Am Ende berichten die Medien nur kurz über den Fall, der Begriff Amoklauf fällt zwar, wird aber ergänzt um den der „Beziehungstat“.

Kein einziger Journalist aber bezeichnet die Tat als „unfassbar“ – ein Wort, das sonst bei Amokläufen regelmäßig auftaucht. Der Kultursoziologe Jörn Ahrens glaubt zu wissen, warum: Anders als Amokläufe bewegen sich Beziehungstaten im Rahmen dessen, was an Gewalt in einer Gesellschaft „nachvollziehbar“ ist. Wenn aber jemand plötzlich im öffentlichen Raum wahllos auf Menschen schießt, bedeute das einen Kontrollverlust der Gesellschaft. Dass das Vertrauen in die Sicherheit der Lebenswelt zerstört werde, könne sich aber keine Gesellschaft lange erlauben. Die Ereignisse in Lörrach als Beziehungstat einzustufen habe die Verunsicherung rasch beseitigt, so der Soziologe.

So einfach klappt die Wiederherstellung der Normalität freilich nicht immer. Ahrens hat sich damit beschäftigt, wie die Gesellschaft mit dem Problem des Vertrauensverlustes nach einem Amoklauf umgeht. Die unfassbare Tat – so heißt Ahrens’ lesenswerte Studie, von deren wissenschaftlichem Duktus man sich nicht abschrecken lassen sollte. In ihrem Zentrum steht also nicht das Phänomen Amoklauf als solches oder die Täter – auch wenn man über beides in dem Buch so manches erfahren kann. Dem Gießener Soziologen geht es vielmehr darum, wie die Gesellschaft auf solche Taten reagiert. Die Gesellschaft, das sind vor allem die Medien, aber auch Politik und Kirchen.

Ahrens Ausgangspunkt ist zunächst die These, dass es den Amoklauf an sich gar nicht gibt. Dass er vielmehr ein in den Medien verliehenes – oder eben gerade nicht verliehenes – Etikett ist, zeigt für ihn gerade der Fall der Lörracher Anwältin. Auch an anderen Beispielen könne man sehen, welchen Unterschied es macht, ob eine Tat als „Amoklauf“, „erweiterter Selbstmord“ oder „Terrorismus“ gilt, man denke nur an den Fall des norwegischen Massenmörders Anders Breivik. Im Mutterland des Phänomens, den USA, ist der Begriff Amoklauf übrigens unbekannt, dort spricht man von „Massacre“, „Killing Spree“ oder „School Shootings“.

Neben Lörrach 2010 untersucht Jörn Ahrens noch den Umgang mit drei weiteren deutschen Amokläufen der letzten Jahre, ausgehend von dem in Erfurt 2002, der allgemein als Zäsur empfunden wurde. Dabei zeigt sich, wie routiniert und professionell der Umgang von Medien und Politik mit dem Phänomen seither geworden ist: Experten sind auf Basis noch dürftiger Informationen mit Ferndiagnosen zur Hand; Politiker befriedigen das Bedürfnis, Schuldige und Verantwortliche zu benennen. Je nach Couleur können das Sportschützenvereine sein, die Computerspielindustrie oder sogar der Neoliberalismus.

Journalisten liefern pathologisierende Porträts des Täters. Was gar nicht so leicht ist, denn statt eines brutalen Killers findet sich meist nur ein typischer Teenager. Robert Steinhäuser zum Beispiel, der in Erfurt 16 Menschen erschoss, war zu Lebzeiten „auffällig unauffällig“. Der Wille zum Auffinden des Bösen sei aber so stark, betont Ahrens, dass Journalisten oft gerade das Unscheinbare als Beleg für die wirkliche Perfidie des Täters werten. Wichtiger als eine plausible Rekonstruktion sei eben eine stimmige Lesart für die Öffentlichkeit.

Zwischen diesen Lesarten und der Realität liegen mitunter Welten: So wird von Amokläufern oft behauptet, sie hätten sich in einem Gewaltrausch befunden oder die Selbstkontrolle verloren. Tatsächlich aber werden Amokläufe meist lange vorher geplant. Auch die Lörracher Anwältin hatte den Brandbeschleuniger für ihre Wohnung schon lange vorher deponiert.

Titelbild

Jörn Ahrens: „Die unfassbare Tat“. Gesellschaft und Amok.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
334 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783593507262

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