Orte der Lust, Orte der Angst

„Psychogeografie“: Colin Ellard erforscht, wie Orte oder Gebäude unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es klingt nach einer skurrilen Science-Fiction-Story: Ein Neurowissenschaftler will herausfinden, wie Menschen unbekannte Wohnhäuser erkunden. Zuerst simuliert er im Computer ein dreidimensionales, täuschend echtes Gebäude, dann setzt er seinen Studenten im Labor Virtual-Reality-Brillen auf und schickt sie hinein. Was passiert? Manche Versuchspersonen veranstalten prompt ihr eigenes Experiment. Im Wissen, dass ihnen ja eigentlich nichts passieren kann, rennen sie die künstliche Treppe hoch – und „springen“ aus dem Fenster. Das Ergebnis: kichernde Studenten, ein abgestürzter Computer und ein fassungsloser Forscher.

Der Neurowissenschaftler und Experimentalpsychologe heißt Colin Ellard, ist 59 und untersucht an der kanadischen University of Waterloo „Psychogeografie“. Gemeint sind damit die vielfältigen emotionalen und kognitiven Wirkungen, die von Orten, Räumen oder Gebäuden ausgehen – vom beruhigenden Anblick eines Wasserfalls bis zur prickelnden Erregung, die die Besucher eines Jahrmarktes erfasst. Ellard untersucht zum Beispiel Orte der Lust wie Spielcasinos, Orte der Angst – etwa einsame Parkhäuser – oder Orte der Ehrfurcht wie den Petersdom.

Nicht selten werden die Wirkungen solcher Orte von den Erbauern planmäßig herbeigeführt: So wollen Supermärkte beim Konsumenten durch allerlei Tricks eine milde Desorientierung erzeugen, die seine Hemmschwelle für spontane Impulskäufe herabsetzen soll. Dagegen konfrontieren hoch aufragende Kirchengebäude den Besucher mit dem Eindruck von Unendlichkeit. Indem sie ihn so an seine Sterblichkeit erinnern, erzeugen sie in ihm ein Gefühl von Ehrfurcht, so der Wissenschaftler.

Colin Ellards Ergebnisse sind erhellend, seine Wissenschaftsprosa in bester angelsächsischer Tradition gut lesbar. Umso erstaunlicher, dass er in seiner Einführung gänzlich ohne Abbildungen auskommt. Wenig überzeugend ist seine Tendenz, die aufgezeigten Wirkungen immer wieder auf unser biologisches Erbe zu reduzieren. Der Eindruck von mystischer Ehrfurcht in einer Kirche zum Beispiel wurzele angeblich im animalischen Respekt vor dem größeren Alphatier und der Spaß an sozialen Netzwerken wie Facebook im genetisch verankerten Hordenzusammenhalt.

Interessanter als diese biologistischen Erklärungen sind Ellards Reflexionen über den Umbruch im Verhältnis von Mensch und Raum, der unsere Gegenwart prägt. Denn mit der rasanten Digitalisierung, mit der Allgegenwärtigkeit von Bildschirmen und virtuell erzeugten Informationen ändern sich unsere Beziehungen zu unserer Umwelt grundlegend, betont der Forscher. Man denke nur an die vielen Fußgänger, die sich heutzutage, den Blick nach unten auf ihr Smartphone gerichtet, wie Zombies durch die Straßen bewegen. Weshalb man in New York die Bürgersteige schon mit Warnsymbolen versehen hat. Dabei hätten Untersuchungen längst bewiesen, dass Hirnareale, die für die räumliche Orientierung zuständig sind, wegen Nichtgebrauchs verkümmern, wenn wir uns immer nur von unseren digitalen Begleitern führen lassen, betont Ellard. Von unseren sozialen Kompetenzen ganz zu schweigen. Schließlich könnte man ja auch nach dem Weg fragen und so vielleicht eine nette Bekanntschaft machen.

Ellard räumt selbst ein, wie sehr er als Forscher von der Digitalisierung profitiert, etwa wenn er seine Versuchspersonen GPS-überwacht durch die Großstadt schickt und dabei ihre Körperreaktionen in Echtzeit messen kann. Oder sie, wie gesagt, virtuell erzeugte Gebäude erkunden lässt, wie überraschend solche Versuche auch manchmal ausgehen mögen. Aber die neuen Utopien eines „Smarthome“ oder sogar einer „Smartcity“ sind für Ellard eher Albträume, trotz ihrer offenkundigen Vorteile. Ein digital kontrolliertes Zuhause mit Kameras und Sensoren könnte etwa, im Fall eines medizinischen Notfalls, selbsttätig den Rettungsdienst rufen. Es könnte den Bewohner vor abgelaufenen Lebensmitteln warnen oder ihn an die Einnahme von Medikamenten erinnern.

Was aber bedeutete es für uns, wenn wir auf diese Weise ständig „gepampert und gepudert werden“? Abgesehen von der vorhersehbaren kognitiven Verkümmerung hieße ein „Smarthome“ nicht weniger als unsere Entmündigung, betont Ellard: unsere Unterwerfung unter die „diktatorische Kontrolle der Systeme“.

Titelbild

Colin Ellard: Psychogeografie. Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sigrid Ruschmeier.
btb Verlag, München 2017.
351 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783442756285

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