Was der Kunst möglich ist, wenn die Justiz versagt

Mit „Das Kongo Tribunal“ von Milo Rau ist ein Materialienband zum kongolesisch-deutschen Theaterereignis des Jahres 2015 erschienen, nicht mehr, aber auch nicht weniger

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Vorbild des Vietnam-Tribunals, das Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre 1967 in Stockholm und im dänischen Roskilde veranstalteten, um die Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg öffentlich zu diskutieren, initiierte der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau im Jahr 2015 das Kongo-Tribunal, um die Verantwortlichkeiten für die seit mehr als 20 Jahren andauernden Kriegs- und Wirtschaftsverbrechen in der Demokratischen Republik Kongo zu beleuchten.

Die zwei bis sieben Millionen Toten (genaue Zahlen fehlen) dieses Krieges finden international nur wenig Aufmerksamkeit, obwohl in den betroffenen Regionen die Rohstoffe für einen Großteil der globalen Kommunikationstechnologie abgebaut werden. So stammen 80 Prozent des Coltans, das für die Herstellung von Mobiltelefonen benötigt wird, aus dem Kongo. Sowohl die Rebellenarmeen als auch die regierungstreuen Truppen finanzieren ihre Waffen direkt oder indirekt aus den legalen und/oder illegalen Minen zum Abbau von Coltan, Gold, Wolfram oder Zinnerz. Gleichzeitig sind eine Vielzahl von internationalen Konzernen, aber auch von NGOs im Kongo aktiv. Es sind die großen Ungerechtigkeiten und Rechtsbrüche innerhalb der ökonomischen Globalisierung, die im Kongo-Tribunal behandelt oder besser: verhandelt werden. „Eine globale Wirtschaft braucht eine global agierende Kunst“ schrieb Milo Rau (TAZ, 26. Mai 2015) und ließ konsequenterweise an weit entfernten Orten aufführen, anders als das Vietnam-Tribunal auch am Schauplatz der Verbrechen: drei Tage im Mai in der kongolesischen Provinzhauptstadt Bukavu und weitere drei Tage im Juni in Berlin, das als Ort der Afrika-Konferenz des Jahres 1884 historisch mit dem Kongo verbunden ist.

Zu Wort kamen kongolesische Regierungsvertreter ebenso wie Oppositionelle, Angehörige internationaler Konzerne ebenso wie Vertreter von NGOs, Opfer und Zeugen von Vertreibungen, Vergewaltigungen und von Massakern. Jean-Louis Gilissen, Experte für internationales Strafrecht und Mitbegründer des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, leitete in Berlin und in Bukavu in der Rolle des Gerichtsvorsitzenden das Tribunal. Hochrangig waren auch die Jurys besetzt, hier seien nur die belgische Afrika-Korrespondentin Colette Braeckmann, der kongolesische Jurist Severin Mugangu, die amerikanische Soziologin Saskia Sassen und der deutsche Soziologe Harald Welzer genannt.

Wegen dieser vielfältigen Perspektiven und der Einbeziehung der weit entfernten Schauplätze konnte der britische Guardian das Tribunal „das ambitionierteste politische Theaterprojekt, das je auf die Bühne kam“ nennen.

Das Tribunal strebte keine rechtswirksame Verurteilung der Schuldigen an, es wäre dazu auch nicht in der Lage gewesen. Das erklärte Ziel war zunächst die Wahrheitssuche. Darüber hinaus besteht der Wunsch, dass dieses Tribunal im ästhetischen Raum des Theaters Vorbild für eine noch zu schaffende nationale und internationale Gerichtsbarkeit und Gerechtigkeit werden könnte. Denn im Kongo fehlen unabhängige Gerichte, sodass die meisten Verbrechen weder verfolgt noch bestraft werden. Gleichzeitig fehlen internationale Gerichte, vor denen die Schuld international agierender Unternehmen oder Organisationen verhandelt werden könnten. In dieser Situation soll die Kunst die Möglichkeit einer globalen Gerechtigkeit denkbar machen, „Möglichkeitsrealismus“ nennt Milo Rau dies im Gespräch mit Andreas Tobler.

Die nun zwei Jahre nach dem Tribunal vorliegende Publikation Das Kongo Tribunal ist keine Textfassung des Bühnengeschehens, auch keine verdichtete Dokumentation der Sitzungen wie etwa in der Tradtion des Dokumentartheaters. Es handelt sich um einen Materialienband, der eine Auswahl von Befragungen und Stellungnahmen der Sitzungen in Bukavu und in Berlin enthält, die thematisch um drei „Fälle“ geordnet sind.

So geht es exemplarisch um die kanadische Firma Banro, die von der Regierung des Kongo Konzessionen zum Abbau von Gold und Erzen in Gebieten erhielt, die traditionell von kongolesischen Schürfern bewohnt und bearbeitet wurden. Es kam zu gewaltsamen Vertreibungen und zu Umsiedlungen der Einheimischen in Regionen, in denen weder Infrastruktur noch Wasserversorgung vorhanden sind.

Der zweite Fall behandelt die Frage nach der Wirkung des Dodd-Frank-Acts, eines Gesetzeskonvuluts, das unter der amerikanischen Obama-Regierung zur Regulierung der Finanzmärkte erlassen wurde und das auch ein Verbot des Handels mit sogenannten Konfliktmineralien enthält. Ist das nun das langersehnte politische Eingreifen in eine unerträgliche Wirtschaftspraxis oder kriminalisiert das Gesetz vor allem die lokalen Schürfer und bevorzugt amerikanische Konzerne? Diese Frage scheint schwierig zu beantworten zu sein, stellt sich aktuell so aber auch nicht mehr, da die neue amerikanische Regierung das Gesetz bereits wieder abgeschafft hat.

Im dritten Fall geht es um eines der vielen Massaker: die Ermordung von 36 Dorfbewohnern durch eine Rebellentruppe im Juni 2014. Im Mittelpunkt der Befragungen steht die Ermittlung, wieso weder die kongolesische  Armee noch die UN-Truppen das Massaker verhindern oder auch nur aufklären konnten.

Der Band vereint die Sitzungen aus Bukavu und aus Berlin, dokumentiert die leitenden Fragestellungen sowie die Schlussfolgerungen der beiden Jurys. Wer zumindest die Sitzungen in Berlin als ZuschauerIn erlebt hat, wird das ein oder andere vermissen wie zum Beispiel Saskia Sassens leidenschaftliche Unterscheidung zwischen guten und schlechten Firmen („there are good firms, believe it or not“). Auch gibt es Verweise wie den auf Frau Saage-Maaß vom European Center for Constitutional and Human Rights, die im leeren Raum stehen, weil der Punkt, auf den verwiesen wird, den Kürzungen zum Opfer gefallen ist. Insgesamt erhält man aber dennoch einen guten Überblick über die verhandelten Themen. Was in der Publikation fast ganz verloren geht, sind die –ohnehin sparsam eingesetzten – theatralischen Mittel wie der Einsatz von Filmklappen und Kameras, die Unterbrechungen und Ermahnungen des Richters und vor allem die Instanz der Gerichtsschreiberin, in Berlin mit der Schriftstellerin Röggla besetzt. Ihre mal protokollierenden, mal nachfragenden, oft auch Hilflosigkeit ausdrückenden Kommentare zum laufenden Prozess wurden in Berlin an eine Wand projeziert und weiteten den Reflexionsraum des Tribunals. Im Materialienband befindet sich stattdessen ein Text von Kathrin Röggla, in dem sie die Herausforderungen und Überforderungen ihrer Rolle beim Projekt kommentiert. In dem anregenden und klugen Beitrag reflektiert sie die Ambivalenzen der „hybriden Theatersituation“, in der manches komplexe Argument dem Eventcharakter zum Opfer falle, in der es aber auch möglich war, eben diese Kritik offen auszusprechen.

Die Leistungen des Materialienbandes liegen vor allem in solchen nachbereitenden Reflexionen wie auch bei den Hintergrundberichten hinsichtlich des Zustandekommens des Tribunals, dokumentiert vor allem im Regietagebuch von Milo Rau. So erfährt man, dass es auch einer geplanten Wahl (die bis heute nicht stattgefunden hat) zu verdanken war, dass Politiker aus Regierung und Opposition bereit waren, sich einer öffentlichen Befragung zu stellen –oder welche Schutzmaßnahmen für die gefährdeten Zeugen getroffen werden mussten. Aber auch welch starken Willen sie mitbrachten, ein Zeugnis abzulegen, wurde thematisiert. Wichtig ist auch, dass man die abschließenden Urteile der Jurys und die Epiloge einzelner Jury-Mitglieder nachlesen kann.

So fordert die Berliner Jury den unerträglichen Zustand der Straflosigkeit im Kongo zu beenden. Dringend notwendig seien nationale, aber auch gemischt nationale und internationale Gerichte. Denn gegen den Landraub im Kongo kann nur eine kongolesische Justiz vorgehen, gegen die mit dem Landraub verbundenen Menschenrechtsverletzungen könnten internationale Gerichte vorgehen.

Neben multinationalen Minenunternehmen, korrupten Politikern und bewaffneten Gruppen erinnert die Jury auch an einen weiteren Akteur, der selten vor Gericht steht: den Konsumenten, der es für ein Menschenrecht hält, „Endprodukte, unabhängig von den Bedingungen ihrer Herstellung, so billig wie irgend möglich bekommen zu können.“ Auch dies gehört zu den Möglichkeiten der Kunst: auf gesellschaftliche und individuelle (Mit-)Verantwortung aufmerksam zu machen, die nicht justiziabel ist.

Das zusammengestellte Material vermittelt zwar nur einen begrenzten Eindruck vom Theaterprojekt Kongo-Tribunal, aber es bietet eine Fülle von Begleit- und Hintergrundinformationen, Positionen und Denkanstöße, um über die Situation im Kongo und über Fragen globaler Gerechtigkeit weiter nachzudenken, aber auch, um politisch und/oder künstlerisch aktiv zu werden.

Titelbild

Milo Rau: Das Kongo Tribunal.
Herausgegeben von Eva Bertschy, Rolf Bossart und Mirjam Knapp.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
304 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321985

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